Das Verschmelzen von Körper und Text: Neue Aspekte des Schreibens in Sylvia Molloys "En breve cárcel"


Dossier / Travail, 2007

19 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Der Körper als Rückzugsort der Seele und kulturelle Kategorie
2.2. Der Identität einen neuen Raum schaffen: Das Verschmelzen von Körper, Schrift und Stimme
2.3 Autobiographische Aspekte in En breve cárcel

3. Schlussbemerkung

Spanischer Abstract

Bibliographie
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Internetquellen

1. Einleitung

In dieser Arbeit werde ich mich mit dem Roman En breve cárcel der argentinischen Autorin Sylvia Molloy[1] beschäftigen und insbesondere eingehen auf die Beziehung zwischen Körper, Text und Identität. Der Körper als kulturelle und kulturtheoretische Kategorie spielt eine entscheidende Rolle in diesem Roman, da er Raum bietet für eine Introspektion und Selbsterfahrung. In ihm vollziehen sich komplexe Reflexionen über das Selbst, er ist Schauplatz der emotionalen Auseinandersetzung und Bewältigung der Vergangenheit. Er bildet ein von der Außenwelt abgeschirmtes Terrain, auf dem sich das Selbst ungestört zurückziehen, bewegen und entfalten kann. Die eigene Geschichte und Identität werden

(re-)konstruiert und reflektiert. Dieser Prozess geschieht durch den Vorgang des Schreibens, der quasi Körper und Text untrennbar miteinander verbindet. „ Schreiben wird zum Körper und Körper zum Schreiben, Körper ist Schreiben, Handeln, Darstellen und umgekehrt“

(de Toro[2]). Durch das Schreiben (re-)konstruiert und manifestiert sich das Selbst, der Körper wiederum produziert die Schrift und den Text.

Der Körper als Medium zur Kommunikation zwischen Ich und Gesellschaft soll hier vor allem im Hinblick auf die Identitätsbildung untersucht werden: wie wird Identität geschaffen und wo, wer ist daran beteiligt und was hat der z.B. der Körper damit zu tun? Diese Fragen sollen am Beispiel des Texts En breve cárcel behandelt werden, dabei sind es besonders die subtilen Verbindungen zwischen dem Ich, dem Körper, der Stimme und der Gesellschaft, die hier interessieren. Dies ist eine weiter thematischer Raum, der hier natürlich nur bruchstückhaft beleuchtet werden kann, aber es geht darum zu zeigen, wie Sylvia Molloy es in ihrem Roman schafft all diese Aspekte einzuweben in die Geschichte einer jungen lesbischen Frau, die in einem Prozess der Abschottung und Selbstreflexion, die Hüllen ihres Äußeren nach und nach ablegt um ihr innerstes Selbst zu finden. Diese Frau ist auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte, Identität, nach einer verlorenen Einheit und Liebe.

Marginalisiert von der Gesellschaft schafft es die Autorin sich und ihrer Protagonistin einen neuen Raum zu erschaffen, indem es ihr möglich ist jenseits von binärem kategorisierendem westlichen Denken und Sinnzuschreibungen, normativen Systemen, heterozentristischen Zwängen und Weltbildern nach Sinn, Identität, Erkenntnis und Ganzheit zu suchen. Dieser Prozess ist ein unabgeschlossener, fragmentierter Vorgang, was sich in der stilistischen Form des Romans widerspiegelt. In dieser Arbeit geht es mir also darum die unterschiedlichen Facetten dieses Prozesses zu beleuchten und näher zu betrachten. Dabei werden postmoderne und postkoloniale Theorien und Ansätze und deren verschiedene Strategien wie Hybridität, Transmedialität, Dekonstruktion und Pluralistische Denkansätze für die Untersuchung des Gegenstandes fruchtbar gemacht. Auf den Diskurs der Autobiographie, zu dem Molloy, als renommierte Lateinamerikanistin, einen wichtigen Beitrag geleistet hat[3], werde ich dann im letzten Kapitel noch kurz eingehen um die Verbindung zu schaffen zum Seminarthema Escrituras del Yo: Aspectos autobiográficos de la literatura latinoamericana en el siglo XX.

2. Hauptteil

2.1. Der Körper als Rückzugsort der Seele und kulturelle Kategorie

Das Thema des Körpers spielt in Molloy’s Roman eine außerordentlich wichtige Rolle. Er ist das Rückzugsgebiet, indem die Protagonistin Ella ihre Selbstfindung betreibt, ihre Seele beobachtet, sich selbst reflektiert und Vergangenes bewältigt. Der Körper ist der Raum, indem sie schreibt, klein dunkel, schlecht beleuchtet mit lauter unausgeleuchteten Ecken und Winkeln, die es zu erkunden gilt. Das kleine Zimmer, indem die Protagonistin ihre Geschichte schreibt ist auch Schauplatz ihrer zwei Liebesbeziehungen gewesen zu den zwei sehr unterschiedlichen Frauen Vera und Renata. Der Raum ist gefüllt mit Erinnerungen, Emotionen, Träumen und Gedanken an das Geschehene, an das was geblieben ist und das was kommen wird. Dieser Zufluchtsort der Seele, den die Protagonistin nicht zufällig gewählt hat, sondern gewissermaßen aus Tollkühnheit und Begehren[4], wie sie es ausdrückt,

Por temeridad, acaso por cansancio, sin duda también por deseo: quiere volver a vivir en este apartamento exiguo pero ya sin Vera las etapas de una amargura que empieza a desteñirse.

(1981: 17- 18)

ist ihr Refugium zur Verarbeitung ihrer Vergangenheit, zurückreichend bis in die Kindheit. Dass Innen und Außen, die Getrenntheit, die Zerrissenheit und die Unvollkommenheit sind wichtige Motive des Romans, quasi die Motoren, die sie antreiben eine derartig intensive Selbstreflexion und Introspektion zu betreiben. Durch den Rückzug in das kleine Apartment hat die Protagonistin, geschützt vor der Außenwelt, Gelegenheit sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich ihrer Einheit zu nähern, sowohl im körperlichen, seelischen als auch geistigen Sinne. Dies ist notwendigerweise ein höchst emotionaler, beängstigender, irritierender und vor allem schmerzhafter Prozess( „[…] sabe muy bien que le duele mucho contar etsa historia“ 1981: 25), an dessen Ende ein etwas gestärktes Individuum steht, das sich selbst besser annehmen kann , jedoch trotzdem noch Angst hat davor allein seinen eigenen Weg gehen zu müssen und sich immer noch schutzlos fühlt.

Se instala en el bar del aeropuerto a esperar. Bebería hasta insensibilizarse pero no lo hace. Ha decidido armarse para el ejercicio: no hay alcohol, ni droga, ni tabaco que la ayuden. […] Desamparada, se aferra a las páginas que ha escrito para no perderlas, para poder releerse y vivir en la espera de una mujer que quería y que, un día, faltó a una cita. Está sola: tiene much miedo (1981: 158).

Mit diesem offenen unabgeschlossenen Ende ist die Geschichte der Protagonistin beendet, jedoch nicht ihre sehnsuchtsvolle Suche nach echter Liebe, Vollkommenheit und Identität.

Die Liebe wird von der Protagonistin als etwas Gefährliches, Grausames, Schmerzhaftes und Leidenschaftliches begriffen, zu dem sie sich hingezogen fühlt, vor dem sie sich aber auch zu schützen versucht. Besonders in ihrer Beziehung zu Vera vermisst sie eine gewisse Zärtlichkeit, die ihr erlauben würde sich angstfrei hinzugeben.

Con ella [Vera] volvió a aprender la zozobra, la angustia del que quiere y lo dice, invitando al otro para que destruya. También volvió a aprender los celos, el odio y el deseo, la necesidad- nunca satisfecha- de la venganza. Hoy, en este momento mismo, retiene de aquella mujer dos únicos gestos de ternura

(1981: 16).

Es scheint, als ob die Protagonistin diesen seelischen Schmerz, der ihr Innerstes berührt, zutiefst durchlebt, während sie körperlichen Schmerz, der nur ihr äußeres berührt, nicht einmal wahrnimmt, sondern erst von anderen Menschen darauf hingewiesen werden muss (1981: 32/33). Diese Indifferenz gegenüber körperlicher Gewalt kommt schon in ihrer Kindheit zum Ausdruck, als sie ihre jüngere Schwester grundlos mit einem Gürtel peitscht (1981: 33). Auch sie selbst lässt sich von Anderen Schmerz zufügen, um ihren Körper intensiver wahrzunehmen und ihre Grenzen auszuloten (1981: 33). Das gestörte Verhältnis zu ihrem Körper rührt auch her von der Abwesenheit und dem fehlenden physischen Kontakt zur Mutter in ihrer Kindheit. Es gibt keinerlei körperlichen Kontakt zwischen den beiden, was sie in ihrer Persönlichkeit auch als Erwachsene noch prägen wird, im Sinne einer gewissen Reserviertheit, die sich in ihren Beziehungen manifestiert (1981: 27). Das Thema der Gewalt schlägt sich auch in ihren intimsten Wünschen wieder, bei denen stehlen und verletzen ganz oben auf der Liste stehen (1981: 32).

Die Beziehung zu ihrem eigenen Körper ist geprägt von Ablehnung bis hin zu totaler Negierung und Selbsthass (1981: 34), es scheint als wären Körper und Seele unvereinbar:

Cuerpo: lo aprendió en su hermana, en ese hato que era su hermana.. El cuerpo- su cuerpo- es de otro. Desconocimiento del cuerpo, contacto con el cuerpo, placer o violencia, no importa: el cuerpo es de otro. No une sus partes encontradas como no une la mirada con la ceguera, apenas reconoce la diferencia entre una y otra. (1981: 31)

Trotzdem kann sie sich nicht dagegen wehren, das Körper und Seele quasi ihren Anspruch erheben auf Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung, denn wie Erna Pfeiffer in ihrem Werk Territorium Frau sehr treffend formuliert ist der Körper „[…] Relikt und Bewahrer früherer, archäologischer Schichten des Bewusstseins.“[5] Diese Autorin weist auch auf die Bedeutung der körperlichen Erfahrung als Erkenntnisprozess hin, welcher gerade in Molloys Werk so eindringlich geschildert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Metapher der Häutung, welche im Text als eine Erinnerung an einen Traum in ihrer Kindheit vorkommt:

De chica le impresionaban mucho más que los esqueletos- que siempre le parecían cómicos- esos cuerpos que ilustran el sistema muscular en los diccionarios. Más de una vez ha soñado con despellejamientos, con su propio despellejamiento. (1981: 16)

Der Körper wird hier gedacht als ein aus vielen verschiedenen Schichten oder Häuten bestehendes Organ (1981: 111). Jede Schicht ist quasi geprägt mit Informationen aus dem eigenen Leben, wie die Erdschichten[6], die ja auch die jeweiligen Informationen ihrer Zeit in sich tragen[7]. Um tief sitzende Gefühle und Erfahrungen zu bearbeiten, muss man seine Hüllen, wie bei einer Zwiebel nach und nach ablegen, abschälen, um dann langsam zum Kern vordringen zu können, um das wahre Selbst, mitsamt seinen Abgründen zu schauen.

Die Haut steht laut Lexikon der Symbole[8] vor allem für die Abgrenzung zur Außenwelt(Umwelt, Gesellschaft) und somit den Schutz der Person vor äußeren Einflüssen[9]. Sie bildet quasi die Schnittstelle zwischen dem Innen und Außen und fungiert als Spiegel der Seele, indem sie jegliche Gefühlszustände an der Oberfläche widerspiegelt, sich dabei jedweder Kontrolle des Menschen entziehend. Das Ich, das Selbst ist also gleichzeitig geschützt vor der Außenwelt durch die Hüllen des Körpers, aber auch gefangen in ihnen. Aus diesem Grund ist der Körper ein wichtiger kultureller Bedeutungsträger in unserer Gesellschaft, er ist Instrument zum Ausdruck der Seele, Sprachrohr zur Kommunikation und wird festgelegt durch gesellschaftliche Konventionen und Kategorien. Der Körper, umgeben von Haut allein, ist für die Protagonistin jedoch nicht ausreichend, um ihrer Seele vollkommenen Ausdruck zu verleihen und sich genügend geschützt zu fühlen:

En efecto se sentía, como se siente ahora, en discordia con su piel, límite precario que no alcanza a darle forma. Se mira las manos: comprueba la verdad del lugar común al ver dedos despellejados, mordidos hasta la sangre. Mal en su piel, mal con su piel, irritada con esa apariencia llena de fallas, de grietas. […] Mal protegida por su piel ineficaz recorre los mismos lugares, repite las mismas conductas. (1981: 16)

[...]


[1] Molloy, Sylvia 1981: En breve cárcel. Barcelona: Seix Barral

[2] De Toro, Alfonso 2002: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept.

Alfonso de Toro in Hamann, Christof/ Sieber, Cornelia (Hrsg.)Räume der Hybridität. Hildesheim: Olms Verlag (Volltextversion im Internet)

[3] Vgl. dazu Molloy, Sylvia 1991: At Face Value: Autobiographical Writing in Spanish America. Cambridge: Cambridge University Press

[4] Der Titel des Romans En breve cárcel verdeutlicht den klaustrophobischen Aspekt des Rückzugs und der Selbstreflexion. Dieses kurzzeitige Gefängnis ist jedoch selbst gewählt, die Autorin spürt das dringliche Bedürfnis nach Auseinandersetzung und Aufarbeitung (Molloy 1981:18)

[5] Pfeiffer, Erna 1998: Territorium Frau. Frankfurt am Main: Vervuert (S. 9 Fußnote)

[6] „Una clave, un orden para este relato. Sólo atina a ver capas, estratos, como en los segmentos de la corteza terrestre que proponen los manuales ilustrados“ ( 1981:23)

[7] Vgl. hierzu die Arbeit über den Körper als Träger von Information und Wissen von de Toro, Alfonso 2002: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept.

Alfonso de Toro in Hamann, Christof/ Sieber, Cornelia (Hrsg.)Räume der Hybridität. Hildesheim: Olms Verlag (Volltextversion im Internet)

[8] Vollmer, Klausbernd 2003: Welt der Symbole. Kiel: Königs Furt

[9] Die Herkunft des Begriffs Person vom lat.: personare = durchdringen, verdeutlicht diesen Aspekt sehr gut. Die Haut schützt uns vor äußeren Umwelteinflüssen, die uns, wenn sie ungehindert passieren könnten, durchdringen würden. Der Körper wiederum schützt uns vor stärkeren physischen Einwirkungen. Alle unsere Hüllen schirmen uns auch ab vor den Einflüssen unserer Gesellschaft, sie schützen unser Innerstes, unseren Kern, unser Selbst. Doch wird der Druck von außen zu groß, wird auch der innerste Kern davon berührt.

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Das Verschmelzen von Körper und Text: Neue Aspekte des Schreibens in Sylvia Molloys "En breve cárcel"
Université
University of Leipzig  (Institut für Romanistik)
Note
1,0
Auteur
Année
2007
Pages
19
N° de catalogue
V77755
ISBN (ebook)
9783638822244
ISBN (Livre)
9783638822824
Taille d'un fichier
521 KB
Langue
allemand
Mots clés
Verschmelzen, Körper, Text, Neue, Aspekte, Schreibens, Sylvia, Molloys
Citation du texte
Nathalie Solis Pérez (Auteur), 2007, Das Verschmelzen von Körper und Text: Neue Aspekte des Schreibens in Sylvia Molloys "En breve cárcel", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77755

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