Atatürks Nationalismuskonzept - die Rolle des "Vaters der Türken" im Prozess der Natiogenese des türkischen Volkes


Dossier / Travail, 2005

27 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Theorie der Nationsbildung – die Natiogenese
2.1. Die Theorie der sozialen Identität
2.2. Die Phasen der Entwicklung zur modernen Nation
2.3. Die Konstruktion von Nationen

3.Die jungtürkische Bewegung
3.1. Machtübernahme
3.2. Die Herrschaft der Ittihadschy

4. Der nationale Unabhängigkeitskampf 1918-1923
4.1. Verlauf
4.2. Die „kleinasiatische Katastrophe“
4.3. Atatürks Reformen

5. Atatürks Nationalismuskonzept – Die Rolle des „Vaters der Türken“ im Prozess der Natiogenese des türkischen Volkes

6. Zusammenfassung

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem nationalen Befreiungskampf der Türken unter Mustafa Kemal Atatürk endete die lange Phase der osmanischen Herrschaft. 1923 ließ Atatürk[1] die erste türkische Republik ausrufen und sich selbst zum Präsidenten dieses Staates wählen. Doch im Gegensatz zu den meisten übrigen Ländern stellte die neu gegründete Türkei einen „Spätzünder“ im imperialistischen und nationsbildenden Zeitalter dar. Nach dem endgültigen Zerfall des Osmanischen Reiches war es Atatürk, der eine türkische Nation errichtete und den Menschen damit eine neue Identifikation, eine neue Identität mit ihrem Land gab. Das Osmanische Reich war zum Zeitpunkt des Beginns des Unabhängigkeitskampfes nur noch ein Spielball der europäischen Großmächte. Abd-ül Hamid II. wurde Herrscher eines zerfallenden, vor allem von England, Frankreich und Deutschland, abhängigen Staates, der im Jahr 1903, mit Baubeginn der „Bagdad-Bahn“, zwischen die Fronten der Großmächte geriet, die sich im Wettlauf um die Erdaufteilung gegenseitig zu übertrumpfen suchten. Der Sultan agierte als Marionette in seinem Staat - ganz im Interesse der Großmächte. Mit dem Aufbau der Geheimpolizei, dem Vorgehen gegen jegliche fortschrittliche Regung sowie mit panislamistischem Gedankengut und religiösem Fanatismus, die die „ liberalen Ideen des Abendlandes austreiben “ sollten, baute Abd-ül Hamid II. ein „Regime der Tyrannei“ (Zulüm) auf,[2] welches erst im Jahr 1909 durch die jungtürkische Revolution beendet werden sollte. Aus der jungtürkischen Bewegung schließlich folgte der nationale Unabhängigkeitskampf Atatürks. Nicht nur durch sein militärisches Geschick, sondern vor allem durch die Propaganda der ´nationalen Souveränität´, Freiheit und Unabhängigkeit in einem ´nationalen Rechteck´ sowie durch seine Reformen schaffte es Atatürk im Jahr 1923, eine türkische Nation zu errichten. In dieser Arbeit soll zunächst in einem Exkurs die Theorie der Natiogenese dargestellt werden. Als theoretische Grundlage dient der sozialpsychologische Ansatz der sozialen Identität. Weiter sollen kurz die Phasen zur Entwicklung der modernen Nation sowie die Konstruktion von Nationen behandelt werden. Ausgangspunkt soll dabei die These der Nation als gesellschaftliches Konstrukt sein. In den weiteren Kapiteln folgt dann die Darstellung der jungtürkischen Bewegung, aus der Atatürk schließlich seinen nationalen Unabhängigkeitskampf entwickelte. Im letzten Kapitel soll schließlich auf die Rolle Atatürks in der Natiogenese der Türkei eingegangen werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Reformen, die der türkische Präsident ergriff, um eine nationale Identität zu schaffen.

2. Die Theorie der Nationsbildung – die Natiogenese

2.1. Die Theorie der sozialen Identität

Beschäftigt man sich mit der Natiogenese, der Theorie der Nationsbildung, stößt man zwangsläufig auf die Frage nach der Definition des Nationsbegriffes sowie auf die Frage nach Schaffung nationaler Identität.

Nationen sind „ imaginierte, erfundene, gedachte Größen partikularer Ein- und Ausgrenzung, [...], eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprache-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken ihrer eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtorganisation verbindet“.[3] Mit dieser Grundannahme, dass eine Nation kein „ naturwüchsiges Gebilde “, sondern vielmehr das „ Resultat politischer Auseinandersetzungen und kultureller Veränderungen “,[4] das heißt also, ein gesellschaftliches Konstrukt ist, soll im Folgenden auf die Schaffung des kollektiven Bewusstseins, der nationalen Identität, eingegangen werden. Als theoretische Grundlage dient der sozialpsychologische Ansatz der Theorie der sozialen Identität.

Individuen definieren sich über zwei Dinge, erstens über die ´personale´ oder ´Ich-Identität´ und zweitens als soziale Wesen, das heißt, über eine Gruppenzugehörigkeit und die Eigenschaften, die dieser Gruppe (ingroup) zugeordnet werden. Demnach strebt das Individuum danach, „ sein Leben zu einem möglichst kongruenten und für ihn selbst, aber auch nach außen hin plausiblen Beziehungsganzen zu ordnen “.[5] Gekennzeichnet ist die Gruppenzugehörigkeit in der Regel durch gemeinsame Ziele, Interessen und gleiche Eigenschaften. Gleichzeitig aber wird auch eine Herstellung der Gruppenzugehörigkeit durch Fremdgruppen (outgroups) notwendig, denn „ Gruppenbildungsprozesse basieren (...) auf strikten Unterscheidungen zwischen der „Wir-Gruppe“ und den „Anderen“, bei ethno-nationalen Gruppen nicht selten unter Bezugnahme auf eine Freund-Feind-Semantik, die sowohl die positive Identifikation mit der eigenen Gruppe (ingroup bias) als auch die Abgrenzung nach außen erleichtern und befördern “.[6]

Die Identifikation der Menschen mit ihrer Gruppe, bezeichnet als kollektive Identität, kann auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Man kann sich zu einer sozialen Klasse oder Schicht, zu einem Status oder einer Berufsgruppe zugehörig fühlen. Im übergeordneten Sinne kann aber auch, im Spannungsfeld von Politik und Kultur, die Nation zu einer ingroup werden. Diese Form der kollektiven Identität wird auch als nationale Identität bezeichnet. Definiert wird nationale Identität als der „ Zusammenhang zwischen subjektiver Identifikation mit der Nation und der emotionalen Bewertung der Nation als Ganzes bzw. bestimmter zentraler Merkmale und Kollektivgüter von Nationen “.[7]

Warum aber identifizieren sich Individuen mit einer bestimmten Gruppe? Ein Erklärungsansatz findet sich in der sozialpsychologischen Theorie der sozialen Identität.[8]

Die Basis dieses Erklärungsansatzes ist die Grundannahme, dass jeder Mensch das Bedürfnis nach einem positiven Selbstwert besitzt. Jeder Mensch strebt folglich nach einem positiven Selbstkonzept.[9] Aus diesem Bedürfnis folgt der Wunsch, Wege zu finden, die Eigengruppe in günstiger Weise von Fremdgruppen zu unterscheiden und eine „positive Distinktheit“[10] herzustellen. Dabei nun ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten: einmal die Abwertung und Ausgrenzung der Fremdgruppe, wodurch ein Überlegenheitsgefühl der entsprechenden ingroup entsteht, oder die Forderung an die eigene Gruppe, sich an gemeinsamen Ideen zu orientieren und dadurch ein positives Gruppenselbstbild zu erstellen.

Zusammenfassend kann folglich gesagt werden, dass eine gemeinsame nationale Identität durch die Abgrenzung von einer Fremdgruppe konstruiert wird und die Grundlage der Natiogenese eine positive Identifikation mit der eigenen Gruppe durch Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel einer gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur, Konfession oder Tradition, ist.

2.2. Die Phasen der Entwicklung zur modernen Nation

Bei der Frage nach der Periodisierung der Entwicklungsstadien der modernen Nation ergibt sich die grundsätzliche Frage nach dem Ausgangskriterium der Einteilung und damit, als ersten Schritt, die Frage nach der Definition des Nationsbegriffes.

Bereits im vorangegangenen Kapitel ist die Nation als ein gesellschaftliches Konstrukt definiert worden, zu dem sich die Menschen auf Grund ihres positiven Selbstkonzepts zugehörig fühlen. Dies bedeutet, von der Existenz der Nation ist dann die Rede, „ wenn sich alle oder fast alle, die als Angehörige in Betracht kommen, mit der Nation identifizieren “.[11] Ihnen liegt ein Identifikationsbewusstsein mit ihrer Nation zu Grunde. Sie besitzen eine nationale Identität. Mit diesem Ausgangspunkt ergibt sich schließlich als Periodisierungskriterium der Begriff der nationalen Identität.

Erste Voraussetzungen für die Identifikation mit der Nation ist die Schaffung „bestimmter Koordinaten“[12], nach denen sich die nationale Identität richten kann. Diese wären beispielsweise die Abgrenzung des `nationalen` Territoriums, die Erkenntnisse über national relevante Ereignisse aus der Vergangenheit, die Kodifizierung der Sprache oder das Bestimmen der nationalen Kulturtradition.[13] Meist ist die Bestimmung dieser Koordinaten auf Eigeninitiative von Gelehrten, beziehungsweise von Privatpersonen geschehen, oft aber auch aus staatlichen Interessen heraus.

Als der eigentliche Beginn der Nationalbewegung wird in einem zweiten Schritt der Entschluss gesehen, ein Nationalbewusstsein zu verbreiten und die neue `nationale Identität´ der breiten Masse näher zu bringen. Basis ist dabei meistens ein nationales Programm mit politischen Forderungen, vor allem aber mit sozialen, sprachlichen und kulturellen Zielen.[14]

Mit der nationalen Massenbewegung bildet sich schließlich ein differenziertes nationales politisches Programm heraus. Den Abschluss findet die Nationalbewegung, wenn eine komplette Sozialstruktur geschaffen und die politische Autonomie erreicht werden.

Wie jedoch konstruiert sich im Anschluss an die erfolgreiche Nationalbewegung eine Nation?

2.3. Die Konstruktion von Nationen

Nationen werden von Individuen geschaffen, ihnen von außen und auch von innen auferlegt oder kreiert. Aufgrund des gesellschaftlichen Diskurses – mangels tragfähiger Grundlagen in der Gegenwart – weichen Ideologen und Eliten oft auf die Geschichte aus, um die fehlende Kohärenz mittels (konstruierten) Gemeinsamkeiten herzustellen, denn „w as Nationen zu Nationen macht, ist nicht die Gemeinsamkeit eines Territoriums, einer Ethnie oder einer Sprache, sondern ein Diskurs, d.h. ‚eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassungen von uns selbst beeinflusst und organisiert “.[15]

Im ausgehenden 19. Jahrhundert kämpften die Nationalbewegungen zunächst nicht dafür, souveräne Nationen zu erschaffen, sondern in erster Linie standen sie in Opposition zur herrschenden Elite und zum alten Regime. Vor der Entstehung der modernen Nation gab es also zunächst den Kampf um politische Modernisierung und um die Überwindung der alten Legitimitäten, sprich, den gesellschaftlichen Diskurs.[16] So gesehen zeigten sich die Nationalbewegungen als Antwort auf die Krisen der alten Ordnung. Das Konstrukt ´Nation´ war zu diesem Zeitpunkt jedoch nur Programm, eine „Zukunftsvision“,[17] vor allem deshalb, weil der Erfolg der Nationalbewegungen nicht zwingend in der Bildung eines neuen modernen Nationalstaats mündete. Allerdings wurden jedoch wesentliche Attribute einer selbstständigen Nation angestrebt – „ eine komplette Sozialstruktur mit eigener Bildungs- und Unternehmerelite, eine Nationalkultur in der Nationalsprache und politische Partizipation “.[18]

Mit dem entscheidenden Kriterium – das Vorhandensein eines den Gruppenangehörigen eigenen Wir-Bewusstseins – findet die Konstruktion der Nation ihren eigentlichen Beginn. Inhaltlich lassen sich dem Wir-Bewusstsein vier Merkmale zuordnen:[19]

1. die Vorstellung von einer gemeinsamen und die Angehörigen gleichsam adelnden Abstammung
2. gruppeninterne geteilte historische Erinnerungen, Überlieferungen von einer gemeinsam erlebten Geschichte, kollektive Niederlagen oder Leiden
3. ein gewissermaßen axiomatisches Überlegenheitsbewusstsein, das vor allem in diesem Abstammungsglauben und den entsprechenden historischen Erinnerungen begriffen ist

[...]


[1] Im Folgenden wird aus Gründen der Einheitlichkeit der Name Atatürk verwendet, auch, wenn die Einführung
des Familiennamens in der Türkei chronologisch erst im Jahre 1934 erfolgte.

[2] Werner, Ernst; Markov, Walter: Geschichte der Türken. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1979, S.
213

[3] Conermann, Stephan: Mythen, Geschichte(n), Identitäten. Der Kampf um die Vergangenheit, in: Brinkhaus,
Horst; Conermann, Stephan; Haase, Klaus-Peter u. a. (Hrsg.): Asien und Afrika. Beiträge des Zentrums für
Asiatische und Afrikanische Studien (ZAAS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Band 2, Hamburg
1999, S. 13

[4] Berding, Helmut (Hrsg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des
kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a. Main 1996, S. 10

[5] Conermann: Kampf um die Vergangenheit, S. 2

[6] Schneckener, Ulrich: Auswege aus dem Bürgerkrieg. Modelle zur Regulierung ethno-nationaler Konflikte in
Europa. Frankfurt 2002, S. 44

[7] Schmidt, Peter: Nationale Identität, Nationalismus und Patriotismus in einer Panelstudie 1993, 1995 und
1996, in: Meulemann, Heiner: Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze
der Umfrageforschung, Opladen 1998, S. 270

[8] Soziale Identität („social identity“): „Die aus der Gruppenzugehörigkeit resultierende Vorstellung einer
Person darüber, wer oder was sie ist“, zit. nach: Stroebe, Wolfgang; Jonas, Klaus; Hewstone, Miles (Hrsg.):
Sozialpsychologie. Eine Einführung, Berlin 2002, S. 560

[9] Tajfel, Henri; Turner, John C.: The social identity theory of intergroup behaviour, in: Worchel, Stephan, u. a.
(Hrsg.): Psychology of intergroup relations, Chicago 1986, S. 7-24

[10] Tajfel, Henri: Differentation between social groups. Studies in the social psychology of intergroup relations,
London 1978, S. 83.

[11] Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, S. 45,
in: Ther, Philipp; Sundhaussen, Holm (Hrsg.): Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, Band 2,Göttingen 2005

[12] Ebd., S. 45

[13] Ebd., S.45

[14] Ebd., S.46

[15] Eikelpasch, Rolf; Rademacher, Claudia: Identität, Bielefeld 2004, S. 69

[16] Hroch: Europa der Nationen, S. 43

[17] Ebd., S.43

[18] Ebd., S.43

[19] Estel, Bernd: Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion, Wiesbaden 2002, S. 32

Fin de l'extrait de 27 pages

Résumé des informations

Titre
Atatürks Nationalismuskonzept - die Rolle des "Vaters der Türken" im Prozess der Natiogenese des türkischen Volkes
Université
University of Marburg  (Geschichte und Kulturwissenschaften - Osteuropäische Geschichte)
Cours
Männer der Moderne: Atatürk – Lenin - Mussolini
Note
1,0
Auteur
Année
2005
Pages
27
N° de catalogue
V78483
ISBN (ebook)
9783638840002
ISBN (Livre)
9783638919395
Taille d'un fichier
507 KB
Langue
allemand
Mots clés
Atatürks, Nationalismuskonzept, Rolle, Vaters, Türken, Prozess, Natiogenese, Volkes
Citation du texte
Anna Lenkewitz (Auteur), 2005, Atatürks Nationalismuskonzept - die Rolle des "Vaters der Türken" im Prozess der Natiogenese des türkischen Volkes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78483

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