"Ich darf doch nicht erfrieren" - "Der Kübelreiter" als Allegorie der Schreibexistenz Franz Kafkas


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ich darf doch nicht erfrieren – Wovor rettet das Schreiben?

3. Röchelnd vor Hunger – Kafkas Schreibexistenz

4. Meine Auffahrt schon – Schreiben als Kübelritt

5. Kohlenhändler! – Das Gegenbild des Kübelreiters

6. Eine Frauenschürze – Bedrohung künstlerischer Produktion

7. Kafkas Kübelreiterexistenz – Eine Zusammenfassung

8. Bibliographie

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1. Einleitung

„Comment entrer dans l’œuvre de Kafka? C’est un rhizome, un terrier.“[1] Gilles Deleuze und sein Co-Autor Félix Guattari wählen eine treffende Metapher für die hermeneutische Struktur des Werkes Franz Kafkas – die Blatttriebe an der Textoberfläche verbergen ein fein und weit verzweigtes, knapp unter der Erde verlaufendes Netzwerk von Bedeutungssträngen, deren einzelne Verfolgung eine verwirrende Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten bietet. Die in die Tiefe führende Hauptwurzel zu finden erscheint unwahrscheinlich, wenn man es nicht schon vermessen finden möchte, ihre Existenz überhaupt anzunehmen und den Texten Kafkas eine „Bestreben“[2] unterstellt, „sich von einer noch viel zu signifikanten Fessel zu lösen.“[3]

Auf die kurze Erzählung „Der Kübelreiter“, die um die Jahreswende 1916/ 17 entsteht und Teil einer „starke[n] Schaffensphase ist, in die Kafka nach beinahe zweijährigem Stocken der Produktion während der Wintermonate 1916/ 17 gerät, […]“[4] ist die Rhizom-Metapher ebenfalls anwendbar. Man kann durchaus einem der fein verzweigten Wurzelfäden folgen und den „Kübelreiter“ als Dokument literarischer Moderne auffassen, in dem „das Individuum seine durch keine unerfüllbaren Hoffnungen mehr getrübte Freiheit“[5] angesichts „der absoluten Einsamkeit im Gebirge begreift“[6] und gleichzeitig mit der Kehrseite dieser Freiheit konfrontiert wird, „dem intensiven Gefühl der Einsamkeit“[7] und der „absolute[n] und unwiderrufliche[n] Isolation des Einzelnen von der Gemeinschaft“[8].

Den „Kübelreiter“ als „Geschichte einer Abweisung in höchster Not“[9] zu lesen erscheint in gleicher Hinsicht legitim. Eine Betrachtung der Erzählung unter dem Aspekt sozialer Problematik scheint dem Rezipienten keine allzu anspruchsvolle interpretatorische Leistung abzuverlangen, liegt doch die materielle Not des Ich-Erzählers auf der Hand und erscheint die Zahlungsunfähigkeit auf den ersten Blick als die Ursache des vollkommenen Scheiterns desselben. Die Deutung des sozialen Konflikts im Zeichen marxistischen Klassenkampfes bei Richter mag man, gerade auch in historischer Rückschau, als allzu starkes Zugeständnis eines DDR-Germanisten an die Staatsdoktrin empfinden.[10] Weltanschaulich neutraler formuliert Herbert Kraft in seiner Deutung des „Kübelreiters“ als den Leser zu einer „Analyse der Gesellschaftsstruktur“[11] anregenden Erzählung: „Die Geschichte vom ‚Kübelreiter’, dem es, weil er nicht bezahlen kann, nicht gelingt, Kohlen zu beschaffen, deckt die soziale (inhaltlich: antisoziale) Struktur der bestehenden Gesellschaft auf […]“.[12]

Selbst die Grundproblematik der Unvereinbarkeit von Leben und Kunst scheint Teil des „Kübelreiter“-Rhizoms zu sein. In der Opposition Kübelreiter - Kohlenhändler erkennt Sabine Schindler die von Kafka immer als Gegensatz empfundenen Existenzweisen des Künstlers und des Ehemanns, die Kafka vor allem in den Briefen an seine Verlobte Felice Bauer schildert: „ Einmal schriebst Du, Du wolltest bei mir sitzen, während ich schreibe; denke nur, da könnte ich nicht schreiben (ich kann auch sonst nicht viel) aber da könnte ich gar nicht schreiben.[…] Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht.“[13]

In der Weiterführung dieses Interpretationsansatzes erscheint mir der genauere Blick auf einen Aspekt der künstl(eris)chen Existenz Franz Kafkas besonders lohnenswert: Seine literarische Produktionsweise. Lassen sich Spuren des genuin kafkaschen Schreibens im ‚fertigen’ Produkt „Kübelreiter“ finden? Welche Hinweise liefert der Text im Hinblick auf seine Genese? Inwiefern lässt sich der „Kübelreiter“ als Allegorie des Schreibbegriffs Franz Kafkas und seines besonderen Verhältnisses zum Vorgang literarischer Produktion deuten?

Einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen zu leisten, ist Anliegen der auf den weiteren Seiten folgenden Ausführungen. Die darin aufgestellten und diskutierten Thesen wollen keinesfalls einen Anspruch auf Ausschließlichkeit erheben, gilt es doch die Vielschichtigkeit der Werke Franz Kafkas unter Rückgriff auf die von Deleuze und Guattari meiner Meinung nach treffend gewählte Rhizom-Metapher zu berücksichtigen und zu würdigen. Angesichts des begrenzten Umfangs der Erzählung „ Der Kübelreiter“ erscheint es plausibel methodisch eine nah am Text orientierte Interpretation vorzunehmen, die die in seinen Tagebüchern und Briefen vorzufindenden Selbstzeugnisse Kafkas als Hauptquellen poetologischer Äußerungen mit einbezieht.

2. Ich darf doch nicht erfrieren – Wovor rettet das Schreiben?

Verbraucht alle Kohle, leer der Kübel, sinnlos die Schaufel, Kälte atmend der Ofen, das Zimmer vollgeblasen von Frost, vor dem Fenster Bäume starr im Reif, der Himmel ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will. Ich muß Kohle haben, ich darf doch nicht erfrieren, […][14]

Beginnend mit einer knapp formulierten Reihung wird der Leser in eine Szenerie der Leere, Sinnlosigkeit und Kälte gestellt, die sich schließlich als die Ausgangslage eines Ich-Erzählers zu erkennen gibt und deutlich im Wort „erfrieren“[15] als existentiell bedrohlich identifiziert werden kann. Die den Tod ahnen lassende Bewegungslosigkeit der omnipräsenten Kälte findet nicht nur in der Naturschilderung der „starr im Reif“[16] stehenden Bäume, sondern auch im Sprachduktus ihre Entsprechung. Die Worte „verbraucht“, „leer“, „still“ und „starr“[17] bilden den semantischen Rahmen dieses Erzähleingangs, der bar jeder Aktion oder Bewegung ist. Die Darstellung der Situation des erst danach als „Ich“[18] erscheinenden Erzählers in einer parataktischen Reihung vollendet den Eindruck des Statischen. Eine Fluchtmöglichkeit aus dieser lebensfeindlichen Statik bietet noch nicht einmal „der Himmel“[19], der als „silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will“[20] den Raum nach oben abschließt und so gegenüber dem „Ofen“[21], der in Verkehrung seiner Funktion zum Erzeuger lebensgefährdender Kälte wird, zur zweiten, einengenden Begrenzung wird, der man nur durch die Flucht zum „Kohlenhändler“[22] entgehen kann. Er wird gleichsam zum Spiegel, „der die Hoffnungen, die sich an ihn richten […] zurücklenk[t]“[23] und das Ich auf sich selbst zurückwirft. Der Raum des Transzendenten ist für das Ich verschlossen. Konsequenz dieser Situation des Eingeklemmt-Seins zwischen Himmel und Erde, zwischen dem „erbarmungslose[n] Ofen“[24] und dem als ebenso empfundenen „Himmel“[25], ist die Flucht: „infolgedessen muß ich scharf zwischendurch reiten und in der Mitte beim Kohlenhändler Hilfe suchen.“[26]

Die Ausgangslage des Ich ist klar: Eine existenzbedrohende Situation des Mangels liegt vor, die nur noch eine Möglichkeit des Auswegs kennt – den „Kohlenhändler“[27]. Franz Kafkas Ausführungen in seinen Tagebüchern und Briefen geben Auskunft über eine Selbstsicht der eigenen Existenz, die der Lage des Ich im „Kübelreiter“ nicht ganz unähnlich zu sein scheint. Auf vielerlei Weise erfährt sich Kafka als Eingeklemmter, der sich permanent in einer Zwangslage befindet. Die berufliche Tätigkeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, ist einer der Zwangsfaktoren, die er subjektiv in Hinsicht auf seine ihm persönlich zur Verfügung stehende Zeit und Energie als bedrängend empfindet:

Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur dadurch einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüßte, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese 6 Stunden täglich dort verbringen müßte, die mich besonders am Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war gequält haben daß Sie es sich nicht ausdenken können.[28]

Neben der ungeliebten Berufstätigkeit als Jurist, die Kafka hier in einem Tagebucheintrag vom 19. November 1911 schildert, sind auch die familiären Gegebenheiten immer wieder Ausgangspunkt eines Gefühls der Isoliertheit und der Machtlosigkeit, die für ihn zu einem „Einblick in den kalten Raum unserer Welt,“ werden, „den ich mit einem Feuer erwärmen mußte, das ich erst suchen wollte“[29]. Besonders Franz Kafkas Beziehung zu seinem Vater Hermann scheint einige Störungen aufzuweisen, von denen am deutlichsten im „Brief an den Vater“[30] die Rede ist. Kafka, der die von ihm vermutete Sicht seines Vaters auf sich selbst schildert, schreibt sich selbst „Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit“[31] gegenüber seinem Vater zu, die die „Schuld“[32] ausmacht, die das Verhältnis der beiden verschiedenartigen Charaktere zueinander bestimmt. Eine derartige Beziehung erklärt Kafka aus der Differenz der Wesenseigenschaften, die sich bis auf die Ebene der Körperlichkeit herab zeigt: „Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit.“[33] Dem lebenstüchtigen, dominanten Geschäftsmann und Pater familias Hermann Kafka steht ein „schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch“[34] gegenüber, der gegenüber den Erziehungsmitteln „Kraft, Lärm und Jähzorn“[35] und der vermeintlichen „Stärke, Gesundheit, […], Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, […]“[36] nur ein „Gefühl der Nichtigkeit“[37] entwickeln kann.

[...]


[1] Deleuze, Gilles: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris : Les editions de minuit 1975 (= Collection « critique »). S. 7.

[2] Deleuze, Gilles: Kafka. Für eine kleine Literatur. Übersetzt aus dem Französischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976 (= edition suhrkamp 807). S. 11.

[3] ebd. S. 11.

[4] Binder, Hartmut: Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Bd. 1. Stuttgart: Kröner 1979. S. 313.

[5] Schindler, Sabine: Der Kübelreiter. In: Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Hg. v. Michael Müller. Stuttgart: Reclam 1994 (= RUB 8811). S. 241.

[6] ebd. S. 241.

[7] ebd. S. 241.

[8] ebd. S. 241.

[9] Richter, Helmut: Franz Kafka. Werk und Entwurf. Berlin: Rütten & Loening 1962 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 14). S. 134.

[10] vgl. Richter 1962. S. 135.

[11] Kraft, Herbert: Kafka. Wirklichkeit und Perspektive. Bebenhausen: Rotsch 1972 (= Thesen und Analysen Bd. 2). S. 74.

[12] ebd. S. 74.

[13] Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Erich Heller und Jürgen Born. 10. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. S. 250.

[14] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 2004. S. 46. (Im weiteren Verlauf mit der Sigle BCM bezeichnet.)

[15] ebd. S. 46.

[16] ebd. S. 46.

[17] ebd. S. 46.

[18] ebd. S. 46.

[19] ebd. S. 46.

[20] ebd. S. 46.

[21] BCM S. 46.

[22] ebd. S. 46.

[23] Schindler 1994. S. 244.

[24] BCM S. 46.

[25] ebd. S. 46.

[26] ebd. S. 46.

[27] ebd. S. 46.

[28] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 9: Tagebücher 1909 - 1912. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2004. S. 26.

[29] Kafka, Franz: Tagebücher 1909 - 1912. S. 116.

[30] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 7: Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994. S. 10 – 66.

[31] ebd. S. 11.

[32] ebd. S. 11.

[33] ebd. S. 16.

[34] ebd. S. 12.

[35] ebd. S. 14.

[36] ebd. S. 12.

[37] ebd. S. 15.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
"Ich darf doch nicht erfrieren" - "Der Kübelreiter" als Allegorie der Schreibexistenz Franz Kafkas
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für deutsche Philologie, Abt. Neuere deutsche Literaturgeschichte)
Veranstaltung
Franz Kafka - Das Spätwerk
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V78844
ISBN (eBook)
9783638852524
ISBN (Buch)
9783638851930
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kübelreiter, Allegorie, Schreibexistenz, Franz, Kafkas, Franz, Kafka, Spätwerk
Arbeit zitieren
Magister Artium Christoph Hartmann (Autor:in), 2004, "Ich darf doch nicht erfrieren" - "Der Kübelreiter" als Allegorie der Schreibexistenz Franz Kafkas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78844

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: "Ich darf doch nicht erfrieren" - "Der Kübelreiter" als Allegorie der Schreibexistenz Franz Kafkas



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden