Leseprobe
Niemand entgeht der Offenbarung des Identischen, wenn er sich einbildet, dem Differenten begegnen zu können.
Eco, Das Foucaultsche Pendel.
Zwei Gedanken werden im Folgenden zu bedenken sein. Erstens geht es um Sassures Theorie der gleichursprünglichen Differentialität und Arbitrarität des Zeichens eines jeden semeologischen Systems sowie seine Synchronizität und Diachronizität innerhalb der Semiose, d.h. dem Prozessieren des Systems. Um es vereinfachend vorweg zu nehmen, ein semeologisches System meint schlechterdings Diskurs. Und sein Prozessieren in der Zeit meint das Generieren von Bedeutung und die Stiftung von Sinn. Zweitens werden diskursanalytische Anschlüsse mithilfe topologischen Metaphern seiner Zeichenrepräsentationen zusammengedacht.
Geboren wurde Mongin Ferdinand de Saussure 1857 in Genf. Bevor er sich 1876 in Leipzig der Erforschung der Sprachen zuwandte, besuchte er in Genf ein Jahr lang naturwissenschaftliche Lehrveranstaltungen. Als Philologe wurde er 1891 Professor für Sanskrit und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Genf. Aufgrund seiner Erkenntnisse innerhalb seines Hauptwerkes Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, das erst drei Jahre nach seinem Tode 1913 aus Vorlesungsskripten seiner Studenten und anderem Material zusammengestellt wurde, gilt Saussure als Begründer des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus oder synchronischen Sprachwissenschaft. Den Auftakt seines Gedankengebäudes markiert die Erkenntnis, daß Sprache und Schrift insofern dasselbe sind, als daß sie sich strukturell auf gleiche bzw. ähnliche Weise beschreiben und analysieren lassen:
Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift [und anderen Diskursen …] vergleichbar. […] Eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht […]. [W]ir werden sie Semeologie nennen. [Die Lehre von den Zeichen …] Wenn man die wahre Natur der Sprache entdecken will, muß man an ihr zuerst das ins Auge fassen, was sie mit alten andern Systemen der gleichen Ordnung gemein hat […] und man wird das Bedürfnis empfinden, sie in die Semeologie einzuordnen.[1]
Seine wichtigsten prinzipiellen Unterscheidungen sind topologisch beschrieben durch die systematische Orthogonalität von synchroner Sprachbeschreibung und diachroner Sprachhistorie als bedeutungstheoretische Orthogonalität von Syntagma und Paradigma (Abb.[2] ) sowie die Theorie einer phänomenologischen Differenz von Zeichen oder Schriftbild (Signifikant) und Vorstellungsinhalt oder Lautbild (Signifikat). Die Achse der paradigmatischen Relation steht senkrecht zum Textfluß in der Zeit bzw. zur Linie des Text und beschreibt die synchrone, d.h. bestimmte gleichzeitige Relation eines Wortes zu all jenen Worten, die an derselben Stelle des Textes eine ähnliche Bedeutungen im Textfluß produzieren können. Parallel zur Linie des Textes in der Zeit verläuft die zweite Achse der syntagmatischen Relation. Sie bedeutet das syntaktische Funktionieren eines Textes sowohl in grammatischer als auch semantischer Hinsicht.
Weil Zeichen losgelöst von ihren bezeichneten Objekten kommuniziert werden können, war es für Saussure im Cours de linguistique générale anfänglich entscheidend, „zwischen der Ordnung der Zeichen und jener Objekte, auf die sie verweisen, grundlegend zu unterscheiden.”[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ein Zeichen definiert Saussure modellhaft als zweifache Entität, bestehend aus signifiant (Signifikant), dem Bezeichnenden oder Zeichenvehikel und signifié (Signifikat), dem Bezeichneten oder Bedeutungsinhalt (linke Abb.[4] ). Die Beziehung zwischen den zwei so genannten Nebelwolken (rechte Abb.[5] ) aller Signifikanten und aller Signifikate als für sich relativ unabhängige Systeme wird beherrscht auf der Grundlage eines Systems von syntaktischen und semantischen Regeln, genannt la langue (die Sprache) . Dennoch darf identisch nicht streng ontologisch verstanden werden, da eine assoziative Verknüpfung verschiedene Paradigmen bilden, d. h. ein Signifikat an mehrere Signifikanten ”gebunden“ sein kann. Beispielsweise kann der Signifikant schlafen auf mehrere Signifikate, d. h. Vorstellungsinhalte zeigen wie schlummern, dösen und tod sein oder auch beischlafen.
Die bedeutungsspendende Gabe eines so genannten Bandes zwischen Signifikant und Signifikat eines einzelnen sprachlichen Zeichens innerhalb der synchronischen Netzstruktur aller Zeichen war für Saussure nicht reduzierbar und arbiträr, kurzum gottgegeben. Der Verlust der Ur(In)schrift ist für Saussure mit der so genannten metaphysischen Urszene eines ersten Striches, d. h. eines ersten Bandes zwischen den beiden gestaltlosen Massen oder Nebelwolken aller Signifikanten und Signifikate nicht hinterdenkbar und bemerkt:
Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistigung der Laute statt, sondern es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der [erste] Lautgedanke Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten [Zeichen] herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet.[6]
[...]
[1] Saussure 1967, 19 bis 21.
[2] Saussure 1967, 94. Abbildung zur besseren Lesbarkeit um 90 Grad gedreht.
[3] Saussure 1997, 145.
[4] Saussure 1967, 78.
[5] Saussure 1967, 133.
[6] Saussure 1967, 134.