Gibt es die libanesische Diaspora?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

29 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Quellenlage

Der wissenschaftliche Diskurs über das Konzept Diasporen

1. Der Begriff ‚Libanesen’?

2. Wer verlässt wann und warum den Nahen Osten ?

3. Wohin wird emigriert und was folgt?

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Vorwort

Diese Arbeit versteht sich als ein diskursiver Beitrag, der auf die Komplexität der ethnologischen und/oder ethnographischen Diasporaforschung im allgemeinen, und der libanesischen Diaspora in Besonderem hinweisen möchte. Im Rahmen der Arbeit werden die Migrationsursachen und Zusammensetzung in verschiedenen historischen Phasen, die Reiseziele und die Entwicklung der Menschen in verschiedenen Gastländern beschrieben. Den Rahmen der Beschreibung bieten Diasporamerkmale, die in der wissenschaftlichen Literatur angeführt werden. Dabei entwickelt sich ein Bild der Migrationsgeschichte der Libanesen, das die libanesische Diaspora als Konstrukt erscheinen lässt. Eine Dekonstruktion scheint mir durch ihre inhaltliche Relevanz bezüglich des wissenschaftlichen Konzeptes Diaspora die Berechtigung zu haben gefordert zu werden.

Die Arbeit nimmt eine globale Perspektive ein, ohne auf Detailangaben aus einzelnen communities zu verzichten. Diese Detaillese, in Form von Wiedergaben aus der einschlägigen Literatur ermöglichen Vergleiche zwischen verschiedenen communities und zeigt Beispiele.

Einzelne Abschnitte der Arbeit sind in der Form organisiert, dass jeweils verschiedene Aspekte der libanesischen Migrationsgeschichte beschreiben werden und anschließend eine Zusammenfassung und eine Interpretation des dargestellten folgt, in der der konstruktartige Charakter der libanesischen Diaspora deutlich wird. Das Gesamtbild baut sich in sukzessiven Abschnitten auf, das im letzten Abschnitt in einem Fazit mündet.

Diesem Vorwort schließt sich eine Quellenkritik an, die es dem Leser erlauben soll zu einer eigenen Einschätzung der Datengrundlage zu gelangen.

Die libanesische Diaspora wird hier definiert als im Exil lebende Gruppen von Menschen, die mit Personen durch Verwandtschaft verbunden sind, welche innerhalb des Gebietes des heutigen Nationalstaates Libanon geboren wurden, der selbst territorial definiert ist.

Quellenlage

Auf betreiben des Centre for Lebanese Studies fand 1989 eine Konferenz statt, die die Emigrationsgeschichte und die Situation einzelner communities der libanesischen Diaspora beschreiben sollte. Dieses unabhängige Institut wurde 1984 in Oxford von Libanesen gegründet, die auf wissenschaftlicher Basis auf Probleme und Aspekte des Libanon und des Nahen Ostens aufmerksam machen woll(t)en. Die Konferenz mündete in einem Sammelband, der 1992 erschienen ist und neben vier historischen Beiträgen, 26 Arbeiten verschiedener Autoren zu einzelnen Diaspora- communities enthält . Die Autoren der einzelnen Beiträge sind überwiegend Historiker und Politikwissenschaftler, aber auch Soziologen u.a. Die Beiträge sind mehrheitlich strukturell gehalten und interpretieren statistisches Material, aber auch historische Dokumente, Fragebögen und Interviews. Die Interpretationen sind in der Regel verallgemeinernd, obwohl manchmal Zitate aus Interviews und Fallbeispiele aufgeführt werden. Ein Feldaufenthalt der Autoren selbst wird selten beschrieben. Die folgende Arbeit basiert in der Hauptsache auf Beiträgen aus diesem Sammelband. Eine Überprüfung der Informationen und Daten konnte von mir nicht vorgenommen werden.

Darüber hinaus wurden zwei weitere ethnologische Quellen zu Ghana und Australien und aus den Internet einige Veröffentlichungen, Foren-Beiträge und mehrerer Websites politischer Parteien und Organisationen des Libanon in die Datenaufnahme integriert .

Die beiden ethnologischen Quellen behandeln einmal autobiographische Schriften von drei Libanesen in Ghana, die diese im Libanon veröffentlicht haben. Und das andere Mal werden die ökonomische Situation der moslemischen Libanesen in Australien und islamisches Familienrecht im Konflikt mit australischer Rechtsprechung fokussiert. Die Internetquellen, teils von Privatpersonen, teils von religiösen Gruppierungen, machen manchmal bezüglich der veröffentlichten Daten keine Quellenangaben und diese entziehen sich somit einer Überprüfung.

Eine Einschränkung an die Daten bezieht sich in erster Linie auf statistische Angaben, die oft auf Schätzungen beruhen und von Beitrag zu Beitrag variieren können, wie von den Autoren der Beiträge zugegeben wird. Dass diese Arbeit trotzdem Verwendung von diesen Daten macht, dient der Veranschaulichung von Verhältnismäßigkeiten und die Zahlen sollten nicht als absolut verstanden werden. Um einen Vergleich mit im Text verwendeten Zahlenangaben zu ermöglichen, ist im Anhang eine statistische Tabelle aus dem Internet angefügt, die allerdings keine Quellenangaben macht.

Die hier aufgeführten schriftlichen Quellen stellen den gesamten Umfang des in den Bibliotheken der Universität HH zur Verfügung stehenden Materials dar. M.E. ist es anhand der gegebenen Daten möglich zu einem guten Überblick über die Migrationsgeschichte der Libanesen weltweit zu gelangen.

Wissenschaftliche Diskurse über das Konzept Diaspora

Seit den 60’er Jahren des 20. Jahrhunderts widmeten sich zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten vermehrt den globalen Phänomenen von Migration und trans- bzw. internationalen Organisationen. Tölöyan (1991:6, 1996:25) beschrieb diesen neuen Diskurs in der „westlichen Welt“ als Folge der Dekonstruktion der monopolartigen Machtstellung von Nationalstaaten und der Abkehr von innerstaatlichen Hegemoniebestrebungen der Ideologie der Moderne. Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Untersuchung trans- bzw. internationaler Organisationen der Politik und Wirtschaft (Multilaterale, Multinationale Organisationen) rückte ein weiteres Phänomen in den Blickpunkt sozialpolitischer und wirtschaftswissenschaftlicher Arbeiten; ethnische Diasporen. Tölöyan (1991:5) beschrieb Diasporen als prototypisch für Transnationalität. Cohen (1997:175f) führte aus, dass, obwohl kein neues Phänomen, Diasporen und Globalisierung gut zusammen passten, weil erstere durch ihre Deterritorialität, Multilingualität und der Überbrückung lokaler und globaler Tendenzen Globalisierungsphänomene (ökonomische, strukturelle und kulturelle) besonders gut nutzen könnten. Wurden Diasporen bis dahin meist durch Probleme beschrieben, die diese an demographische Struktur, Ökonomie und Integration ihren Gastländern stellten, wurden sie nun vermehrt als eine Organisationsform in transnationalem Raum betrachtet (Scheffler 1986, Foner 1997, GlickSchiller/Basch/SzantonBlanc 1995)[1]. Safran und Tölöyan erläuterten in ihren Beiträgen eine notwendig gewordene Erweiterung des „alten“ klassischen Diasporabegriffs (Juden, Armenier, Griechen), um communities wie die der Polen in den USA, der Türken in Deutschland, der Chinesen, Inder oder Libanesen u.a. erfassen zu können. Es erschienen soziologische und ethnographische Arbeiten, die die lokale Wirklichkeit einzelner Diasporen analysierten (FogOlwig 2004, Schwalgin 2004, u.a.). Bald entstanden auch diskursive Arbeiten, die Definitionen, universelle Strukturen und Merkmale von Diasporen untersuchten (Safran 1991, Tölöyan 1996, Cohen 1997). Cohen (1997) stellte neben der Aufarbeitung von Diasporamerkmalen wie sie Safran (1991) aufgelistet hatte[2] eine Typologie auf, die auf die Prominenz einiger gemeinsamer Merkmale beruhte. Diese Typologisierung hebt teils Ereignisse in der Heimat der Migranten hervor, teils werden Aktivitäten der Diaspora in ihrem Gastland hervor gehoben.[3]

Dabei wird deutlich, dass erstens einzelne Diasporen sich in der Ausprägung einzelner Merkmale unterscheiden und, dass zweitens die Merkmale einzelner Diasporen sich im Laufe ihrer Geschichte ändern können.

Um dieser Komplexität einer Diaspora Rechnung zu tragen, wird in den nächsten Abschnitten eine Einführung in das letzte Jahrhundert der Emigrationsgeschichte der weltweit verstreuten libanesischen Diaspora gegeben und einzelne Merkmale dieser Diaspora in verschiedenen, geschichtlichen Phasen hervorgehoben. Dabei wird sich zeigen, es nicht möglich scheint ein gemeinsames Merkmal aller Diasporamitglieder oder aller communities der verschiedenen Gastländer zu finden.

1. Der Begriff ‚Libanesen’

Die Gebiete, die seit 1926 Groß Libanon genannt werden und die heutigen Landesgrenzen der Republik Libanon umfassen, waren gemeinsam mit dem gesamten Nahen Osten, von Anfang des 16. Jahrhunderts bis 1918 unter ottomanischer Herrschaft und danach bis zur Unabhängigkeit unter französischer Mandatsmacht. Immigranten aus dem Nahen Osten, die zu ottomanischer Zeit aus Schiffen stiegen, wurden von staatlichen Stellen in Argentinien (Valverde:314), in den USA bis 1899 und in Brasilien bis 1892, als türkische Subjekte und danach in Brasilien als Turco-Arabs (Knowlton:291) und in den USA als Syrian oder Syrian-Libanese klassifiziert (Naff:142). Die undifferenzierte Kategorie Syro-Lebanese wurde auch in der französischen (Kolonial-) Administration verwendet, wie in der Rubrik „Nationalität“ in durchgeführten Zählungen in allen französischen Konsulatsgebieten 1921 gelesen werden kann (Hashimoto:72:89). Aus diesem Grund sind nationale Immigrationsdaten bis 1924 uneindeutig. (in Realität meist bis in die 50’er Jahre des 20. Jahrhunderts), als die französische Mandatsmacht erstmals mit dem Treaty of Lausanne (Hasimoto:75) die syrische und die libanesische Nationalität einführte.

Was die internen Eigendefinition der Immigranten betrifft, so ist bei mehreren Autoren zu lesen, dass die ‚libanesischen’ Menschen ihre größte Loyalität zu ihrem Heimatdorf, ihrer Religion und ihren (traditionell erweiterten) Familien (-Namen) zeig(t)en (Naff:149f, Suleiman:194).

Nach Außen bezeichneten die heutigen ‚Libanesen’ sich damals als Syrer; nach der gleichnamigen ottomanischen Provinz Syria, die den Mount Lebanon einschloß (Naff:142, Aswad:173).

Nach 1924 spaltete eine stark geführte Debatte über die syrische bzw. libanesische Frage die Gemeinschaft in den USA, was sich u.a. an der Namensgebung von Klubs und Assoziationen der Gemeinschaft herauskristallisierte. Diese (Selbsthilfe-) Organisationen kümmerten sich um in Not geratene Landsleute, lehrten die englische Sprache und die kulturelle Integration in die (US-)Gesellschaft. Einige unterstützten soziale Einrichtungen in ihren Heimatorten. In diesen Klubs, die regional, konfessionell und ideologisch exklusiv waren, fanden Menschen Ehepartner, Solidarität und Kontinuität ihrer Identität. Die meisten Klubs trugen Namen, die auf den Herkunftsort oder die Familiennamen ihrer Mitglieder verwiesen. Viele dieser Organisationen waren nur kurzlebig (Naff:151ff).

Auf der anderen Seite beantragten nur schätzungsweise 8 – 10% der im Ausland lebenden Libanesen zwischen 1924-26, als die entsprechende Frist endete, einen libanesischen Pass in jeweiligen französischen Konsulaten (entsprechende Zahlen für Syrer sind leider nicht bekannt) (Hashimoto:76). Darüber hinaus sahen sich viele maronitische ‚Libanesen’ spätestens seit 1924 als Nachfolger der handelstreibenden Phönizier (Naff:153, Suleiman:193).

In Argentinien, wie auch anderswo, unterhielten die Syrer und ‚Libanesen’ bis zur Unabhängigkeit Syriens 1936 gemeinsame Zeitungen und community associations (Valverde:314). Gegenüber der Administration in ihren Gastländern fand sich auch oft ein gewisser Pragmatismus. In Australien setzten führende Diasporamitglieder 1920 durch, dass Syrer innerhalb der australischen, amtlichen Kategorien eine weiße Rasse mit kaukasischer Abstammung seien und somit Zugang zu der Möglichkeit der Einbürgerung erhalten konnten (Humphrey:453).

Seit 1948 (Gründung Israels) und vor allem mit dem Aufkommen anti-arabischer Stimmung in den USA seit 1967 (Sechstagekrieg) setzte bei vielen ‚Libanesen’, die sich ohnehin als Teil der arabischen Welt betrachte(te)n, ein Bewusstsein für einen arabischen Nationalismus und eine Identifizierung mit dem Panarabismus ein[4]. Dies betrifft vor allem die moslemischen ‚Libanesen’, die in der Diaspora mit einer Revitalisierung islamischer Vorschriften reagierten[5] (Suleiman:194:205, Aswad:177).

Die innerstaatlichen Kriegshandlungen und Machtkämpfe seit 1975 (-1990) im Libanon (Maroniten gegen Moslems, pro-nationalistische gegen pro-arabische Kräfte) führten auch in der Diaspora zu internen Fraktionierungen mit Solidarisierungen entlang politischer Linien (Naff:163f). In jüngster Zeit (Oktober 2004) ist auf den Seiten des Forums der LFPM (Lebanese Free Patriotic Movement) in mehreren Beiträgen von ‚Libanesen’ zu lesen, dass die amerikanische und kanadische Gesellschaft die Libanesen indifferent als Araber und seit Bin Ladin oft als Terroristen wahrnehmen, und dass man etwas gegen die Unwissenheit über die eigenen kulturellen Güter der ‚Libanesen’ tun sollte. Diese Organisation wird von Maroniten dominiert (T1).

In der Frage nach einer Referenzbezeichnung für die Menschen, die aus dem Gebiet der heutigen Republik Libanon emigriert sind zu beantworten, können in der ‚libanesischen’ Emigrationsgeschichte verschiedene Kategorisierungen seitens staatlicher Institutionen und seitens der Betroffenen selbst hervorgehoben werden. Während administrative Stellen lange keine Differenzierung von Menschen aus dem nahen Osten vornahmen, änderte sich im Laufe der Zeit die Eigenkategorisierung der ‚Libanesen’ von Syrern über Libanesen bis zu Arabern und teilweise Phöniziern.

Cohen (1997:26) führt unter Punkt sechs der Merkmale für Diasporen die Aufrechterhaltung einer Gruppenidentität auf. Wenn kein Zweifel darüber bestehen mag, dass die ‚libanesischen’ Migranten in der Diaspora immer eine Distinktivität bezüglich den indigenen Gastgesellschaften auszeichnete, so scheint die Frage nach der Referenzgruppe der ‚Libanesen’ selbst sehr komplex, heterogen und Veränderungen unterworfen. Die verschiedenen Gruppenidentitäten stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit politischen Gegebenheiten in ihrer jeweiligen Zeitphase.

[...]


[1] Definition;„Transnationalism refers to the process by which immigrants forge and sustain multistranded social relations that link together their societies of origin and settlement“ (Foner 1997:355)

[2] 1.+2. dispersal from a homeland…/ 3. a collective memory…/4. idealization of and commitment to an ancestral home…/5. a return movement…/6. sustained group consciousness…/7. a troubled relation to host societies…/8. solidarity with co-ethnic members worldwide…/ 9. a possibility of a distinct life in host countries (:26)

[3] Opferdiaspora, Arbeitsdiaspora, Imperiale Diaspora, Handelsdiaspora, Kulturelle Diaspora (Cohen 1997:v:vi)

[4] In einer Studie aus dem Jahr 1989 in den USA geben 70% der Befragten Libanesen an, dass sie glaubten Teil einer ethnisch arabischen community zu sein (Suleiman:197:202). Suleiman (:189) schreibt: „However, for much of their history in this country [USA], the Lebanese have not been a clearly distinct group [innerhalb der arabischsprachigen Immigranten] .“

[5] Der weltweit signifikant erhöhte Anteil moslemischer Immigranten aus dem Nahen Osten seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnete sicherlich verantwortlich für diese Entwicklung. Die neuen Immigranten bewirkten in den USA vor allem eine Revision der zwischen den Nachkommen der ersten Einwanderer eingesetzten Assimilation an die amerikanische mittelschicht-Kultur. So wurde zum Beispiel das Arabische erneut als Liturgiesprache eingeführt und die erste libanesisch-amerikanische nationale Dachorganisation wurde 1967 gegründet (Naff:160:163:154, Suleiman:194)

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Gibt es die libanesische Diaspora?
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
Diaspora
Note
"-"
Autor
Jahr
2005
Seiten
29
Katalognummer
V79154
ISBN (eBook)
9783638883696
ISBN (Buch)
9783638933513
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es wurden nur Daten bis Anfang der 90er des 20. Jhd. verwendet.
Schlagworte
Diaspora, Libanesen
Arbeit zitieren
Schirin Agha-Mohamad-Beigui (Autor:in), 2005, Gibt es die libanesische Diaspora?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79154

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