Inklusiver Unterricht in der Sekundarstufe I. Theoretische Überlegungen und der Versuch einer Ethik


Trabajo de Investigación, 2007

175 Páginas


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. Begriffsklärungen
2.1 Inklusion vs. Integration
2.2 Begriffswirrwarr – Integration, Inclusion, Inklusion, Diversity Studies
2.3 Die entwicklungslogische Didaktik
2.4 Behinderung
2.4.1 Behinderung aus salutogenetischer Perspektive betrachtet
2.4.2 Behinderungsbedingte Traumaverarbeitung in Spiralphasen
2.4.3 Selbsthilfe
2.5 Empowerment

3. Das Problem der Inklusion
3.1 Entwicklungsneuropsychologische Aspekte
3.1.1 Struktur des Gehirns
3.1.2 Postnatale Gehirnentwicklung
3.2 Die kindliche Denkentwicklung

4. Inklusionsethik
4.1 Eine Begriffsbestimmung des Ethischen
4.2 Begründung einer Ethik
4.3 Versuch einer Inklusionsethik
4.4 Methodisches Vorgehen im inklusiven Unterricht
4.5 Was passiert mit den Schwerst- und Schwerstmehrfachbehinderungserfahrenen?

5. Erster Exkurs: Der Tag, an dem auch mein rechter Arm sich selbstständig macht
5.1 Abschließender Exkurs und Klärung der Motivlage

6. Literatur

7. Anhang

1. Einleitung

Eigene Behinderungserfahrungen des Autors, gerade und hauptsächlich im sonderschulischen Bereich – und hier dann von der Klasse 8 bis zum Abitur am System der Schule für Körperbehinderte -, haben eine Beschäftigung mit Inklusion in der hier vorliegenden Arbeit notwendig gemacht. Beim Verfasser handelt es sich um eine erst im Lebensalter von 12 Jahren behindert hervorgebrachte Persönlichkeit. Für die Behinderungsproduktion entscheidend war ein schweres Schädel-Hirntrauma nach Straßenverkehrsunfall im Februar 1982. Bis zu diesem Ereignis erfolgte die Beschulung im allgemeinen Schulsystem einer nordrhein-westfälischen Großstadt. Nach der regelrecht und ohne Wiederholung verlaufenen Grundschulzeit erfolgte der Wechsel auf das Gymnasium. Der Besuch dieser Schulform endete dann mit dem Unfall zu Beginn des zweiten Halbjahres der siebten Jahrgangsstufe. Entscheidend für das schwere Schädel-Hirntrauma, welches sich einen Tag vor einer geplanten Mathematikarbeit – und das Halbjahreszeugnis (Anhang I) wies im Unterrichtsfach Mathematik die Leistungsnote mangelhaft auf - ereignete waren die traumatischen Erfahrungen, die in RENSINGHOFF (2006) näher dargestellt sind. Es erfolgte, aufgrund des Polytraumas, eine stationäre Behandlung zunächst vier Wochen in der neurochirurgischen Intensivabteilung und anschließend für weitere acht Wochen in der unfallchirurgischen Abteilung. Hieran schloss sich direkt die stationäre Weiterbehandlung in einem neurologischen Rehabilitationskrankenhaus für Kinder und Jugendliche an. Während der Rehabilitationsbehandlung erfolgte eine Unterrichtung in den Fächern Deutsch, Erdkunde, Mathematik (s. hierzu die Schulberichte im Anhang II) und Englisch (hierfür wurde kein Schulbericht angefertigt) in der Schule für Kranke. Nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik musste dann ein Schulwechsel in die Schule für Körperbehinderte vollzogen werden. Dieser wurde durch die Schulberichte auch nahe gelegt. Der Schulbesuch dieses Systems erfolgte vom zweiten Halbjahr der Jahrgangsstufe acht an bis zum Erhalt der Allgemeinen Hochschulreife. Dieser Sonderschulbesuch hatte gravierende weitere Narben und Traumatisierungen verursacht, die sich bis in die Berufseinstiegsphase manifestierte (vgl. RENSINGHOFF 2004).

Es wird nun dazu eingeladen die theoretischen Ausführungen zur Inklusion behinderungserfahrener Schülerinnen und Schüler, die sich abschließend in einer Inklusionsethik verdichten, zu ergründen.

2. Begriffsklärungen

Zur Normalität geworden ist es, um mit Ulrike BÜTTNER (2005, 9) zu sprechen, „Menschen aus dem Blickwinkel egozentrischer Interessen zu betrachten und sie gezielt oder unbewusst abzuwerten.“ Eine derartige Haltung konzentriert sich dann – und der Autor weiß aus der eigenen Betroffenheit, eben als Mensch mit Behinderung, wovon er spricht – auf die Schülerinnen und Schüler, in besonderen, von der Fachwelt als für ihre vermeintlich – was dann aus dieser Perspektive betrachtet durchaus in Frage gestellt werden muss - speziellen Bedürfnisse errichteten Sonderinstitutionen. Die Folge ist eine Exklusion, später werden wir sehen dass es einen derartigen Terminus technicus nicht gibt, die dem Rassismus[1] auffallend ähnelt, denn „Rassismus zielt immer darauf, einen Menschen zu erniedrigen. Das Spektrum bewegt sich zwischen einem ‚kleinen’, scheinbar folgenlosen seelischen Schmerz, den man einem Menschen durch eine rassistische Bemerkung zufügt, und tödliche Gewalttaten, bei der die Auswirkung für alle sichtbar wird. Rassismus (genauso wie auch der institutionelle Ausschluss in Sonderinstitutionen für besondere Schülerinnen und Schüler – CR) versucht, Gewalt zu rechtfertigen, um Menschen scheinbar legitimiert schädigen und verletzen zu können“ (dies., 12). Bei der Verwendung des Rassismus-Begriffs handelt es sich um eine ideologisch motivierte und politisch begründete Form des Ausschlusses. Dieser Zustand wird erreicht, weil das Opfer, der Mensch mit einer ihm administrativ zugeschriebenen Behinderung, einer speziellen Gruppe angehört. Andererseits gehören die Rassismus bzw. Ausschluss praktizierenden Täterinnen und Täter einer spezifischen, nämlich in diesem Sinne Rassismus legitimierenden Gruppe an. „Der differenzielle Rassismus der Identitätspolitik, der Gruppenbildungsprozesse und der vielfältigen Exklusionen, der an die Logik des Unterscheidens bei der Bildung des Ich und des Wir anschließen kann, verändert sich im Prozess der Politisierung von Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen“ (BIELEFELD 2005, 11).

Für autoritär-nationalistische und rassistische Einstellungen sind insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene anfällig, welche sich mit den herrschenden Werten identifizieren, als da wären Geld, Karriere und Erfolg. Mit diesen Werten sollen andere, eben die schwächeren, Menschen funktionalisiert werden.

2.1 Inklusion vs. Integration

Menschen, die wir behindert nennen, schließen sich seit 1968 in immer mehr Städten zu Krüppel- und Behinderteninitiativen, Eltern behinderter Kinder zu älteren Initiativen zusammen und kämpften gegen die gerade erst in qualitativer und quantitativer Hinsicht ausgeweiteten sonderpädagogischen Einrichtungen. Nicht pädagogische Sonderbehandlung in speziellen Einrichtungen sondern Integration in allen regulären Lern-, Wohn- und Lebenszusammenhänge war ihre zentrale Forderung“ (ROHRMANN 2004, 19).

Der Weg zur Überwindung der institutionalisierten Ausgrenzung Behinderter geht unausweichlich über folgende Stationen:

1. .Akzeptanz des Grundsatzes der ‚Nichtaussonderung’ in unserer Gesellschaft als totales Prinzip;

und

2. Schaffung der notwendigen Bedingungen für die Verwirklichung dieses totalen Prinzips.

Halbwahrheiten führen nicht auf diesen Weg. Sie verharren in alten Sackgassen und führen in neue: Wer nur einige behinderte Kinder in die Regelschule bringen will, ist auf dem Holzwege. Wer behinderte Kinder in die Regelschule bringen will, sogenannte lernbehinderte und verhaltensauffällige aber aus der Klasse ausgrenzen will, befindet sich nicht auf dem Weg zur Überwindung der institutionalisierten Ausgrenzung“ (STEINER 1996,202).

Das „Besondere“ der Pädagogik .derer wir für Integration bedürfen, liegt nicht in der „Besonderung“ der Kinder und Schüler, sondern im Allgemeinen“ der Grundlagen menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens, im „Allgemeinen“ einer basalen, subjektorientierten Pädagogik.

Dieses „Allgemeine“ herauszuarbeiten ist das Spezielle unserer Arbeit; es in der „Besonderung“ (der Kinder und Schüler) zu suchen, ist ein Irrwerg!“ (FEUSER 2006, 25).

Auf der 7. Fachtagung der Fachschule für Sozialpädagogik der Johannes-Anstalten Mosbach formulierte die Rehabilitationssoziologin Elisabeth WACKER (2005, 23): „Inklusion bedeutet generell [...] Anteil zu haben an den Rechten und Pflichten der Bürger, die jedes Gesellschaftsmitglied hat – und das nicht nur formal, sondern im gelebten Alltag [...]. D. h., es geht Inklusion um die Ausprägung der tatsächlichen Teilhabe an relevanten und gewünschten gesellschaftlichen Teilsystemen.“ Stand zu früheren Zeiten die soziale Sicherung (als da wäre die Fürsorge und Versorgung) von behinderungserfahrenen Menschen im Mittelpunkt der politischen Anstrengungen und Interessen in Deutschland, so hat sich diese Zielsetzung in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert. Im Zentrum der bundesrepublikanischen Behindertenpolitik steht gegenwärtig - wenn auch auf wackligen Füßen, hier sei z. B. auf das Urteil des 5. Senats des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14.05.2005 verwiesen, welches die Eisenbahnunternehmen davon entbindet Zugänge zu Bahnsteigen barrierefrei zu gestalten bzw. zu erhalten (vgl. VGH Baden-Württemberg 2005, Urteil: 5 S 1423/04) - der Mensch mit Behinderung als Individuum, inklusive den ihm zustehenden Rechten. Für Sinneswandel verantwortlich ist ein neues Selbstverständnis der Menschen mit Behinderungen, welches zuvorderst in der Tätigkeit von Interessenvertretungen zum Ausdruck kommt, und sich in der Ergänzung des Grundgesetzes um ein – vielfach jedoch nicht beachtetes - Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) niederschlägt. Am 19.05.2000 wurde vom Deutschen Bundestag einstimmig der interfraktionelle Entschließungsantrag „Die Integration von Menschen mit Behinderung ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe“ angenommen. Sämtlichen Initiativen und Programmen gemeinsam ist die politische Anstrengung hinsichtlich des selbstbestimmten Teilhabe von behinderungserfahrenen Menschen sowie die Beseitigung jener Hindernisse, welche der Chancengleichheit entgegenstehen (und hier sei noch einmal auf das Urteil 5 S 1423/04 des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 21.04.2005 verwiesen, was der politischen Anstrengung diametral entgegensteht, wobei die Politik hier noch als Verursacher fungiert).

Inklusive Schulen bemühen sich um jeden Schüler, unabhängig von körperlichen, sozialen, geschlechtlichen, intellektuellen, ethnischen, religiösen, kulturellen oder sprachlichen Voraussetzungen. „Diese Schulen stellen Reformschulen ohne Aussonderung von Kindern mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf dar, wobei die Lebensbedingungen den Kindern angepasst werden sollen und nicht das Kind den Lebensbedingungen“ (STEIN 2005, 95). So bedeutet der Terminus Inklusion dann die Beseitigung struktureller Barrieren. Zuvor Gesagtes wird durch den Geschäftsführer der Johannes-Anstalten Mosbach nur unterstrichen: "Nicht mehr nur die Fürsorge für die uns anvertrauten Menschen, sondern der Assistenzgedanke, die Selbstbestimmung sowie die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben stehen zu Recht im Vordergrund der verschiedenen Diskussionen, Gesetze, Verordnungen, Konzeptionen und der praktischen Umsetzungen. Stichworte wie bedarfsgerechte Hilfeangebote, wohnortnahe Versorgung, Betreuung und Assistenz, ambulante Angebote, Community-care-Konzepte, persönliche Budget stehen hier beispielhaft für diese Integrations- und Inklusionsbemühungen der Gesellschaft." (ADLER 2005, 9)

Nach Georg KLAUS (1985) ist der Terminus Inklusion gleichbedeutend mit dem deutschen Begriff Enthaltenseinsbeziehung. Es handelt sich hierbei um eine logische Relation zwischen zwei Individuenklassen. Demzufolge ist das als behindert deklassierte Individuum, ebenso wie das Individuum ohne derartiger Degradierung, im Menschsein enthalten und hat deshalb dieselben Bedürfnisse, Rechte und Pflichten wie jeder Mensch. Das kann aber nicht heißen, dass

a) für Inklusion gekämpft wird, indem die behinderungserfahrenen Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden, sich den Erwartungen der allgemeinen Schule gemäß zu verändern

und

b) die behinderungserfahrenen Schülerinnen und Schüler im inklusiven Unterricht vor sämtliche Probleme zu schützen sind, indem sie präventiv von jedem potentiellen Lebensrisiko und jeder potentiellen Enttäuschung ausgeschlossen werden (vgl. WACKER 2005, 40).

„Inklusion will bestehende Strukturen und Auffassungen dahingehend verändern, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen wahrgenommen und dafür gesorgt wird, den Zugang aller Bürger zu allen Institutionen und Dienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Möglichkeiten zu gewährleisten“ (HÜLSE 2005, 150).

Herauszustellen ist FEUSERs (1989, 6) Feststellung, dass die pädagogische Wissenschaft - kritisch als praktische Wissenschaft verstanden, die theoretisch pädagogikrelevante Details der sozialen Realität beobachtet, analysiert und systematisiert (vgl. ROTHERMEL 1997, 19) - von Beginn an nur Sonderpädagogiken unterhielt, als da wären Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Universität. Bei allen Schulformen handelt es sich um einzelne Menschen ausschließende Sonderschulen. Exklusionstendenzen junger Menschen mit Behinderung, wegen der Behinderungserheblichkeit in Altenheimen eingesperrt, sind beispielsweise ROHRMANN (2003) zu entnehmen.

Oben Gesagtes verdeutlicht schon die Bevorzugung des Terminus’ Inklusion für unsere Zwecke, auch wenn über Jahre hinweg eigentlich für dieselbe Sache – und das auch heute noch – viel der Begriff Integration benutzt wird. So spricht Jakob MUTH (1992, 185) beispielsweise in seinen zehn Thesen zur Integration von behinderten Kindern von Integration als „ein Grundrecht im Zusammenleben der Menschen.“ Integration aber meint einen Prozess, bei welchem ein System höherer Ordnung aus recht selbständigen Systemen niederer Ordnung gebildet wird. Die angeführte Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird dann jedoch herabgesetzt, weil jene das System aufbauenden Teilsysteme in wechselseitige Abhängigkeit treten. Intensität und Ausmaß dieser wechselseitigen Abhängigkeit der Teilsysteme bedingen dann einen höheren bzw. niedrigeren Integrationsgrad. Nach Camilla WARNKE ist der Integrationsgrad somit „ein Maß für die Strukturiertheit, Organisiertheit, Komplexität usw. eines Systems“ (dies. 1985, 576). Integration kann ebenso durch Umgruppierung der Teilsysteme, eines bereits vorhandenen Systems vollzogen werden. Dies ist eben genau dann der Fall, wenn eine neue Systemstruktur zu einer erhöhten Abhängigkeit des jeweiligen Teilsystems führt. Dadurch dass der Integrationsprozess aufgrund der neuartigen Relationen spezielle Unterschiede, welche zwischen den einzelnen Teilsystemen bestehen, aufhebt, ist Integration immer auch Dedifferenzierung. Die sich bis hierher neu herausgebildete Struktur bewirkt dann aber neue Differenzierungen, erkennbar hier und dort an den Forderungen nach differenziertem Unterricht in Integrationsklassen. Demzufolge weist jede Integrationsart und -stufe die ihr gemäße Differenzierungsart und –stufe auf. Desintegration, also das Gegenteil von Integration, ist der Prozess, in welchem sich im Integrationsverlauf hervorgebrachte Systeme in ihre Teilsysteme auflösen. Charakterisiert ist Desintegration durch den wechselseitigen Abhängigkeitsverlust der bestehenden Objekte. Es folgt der Rückgang von einem höheren zu einem niedrigeren Integrationsgrad und schlimmstenfalls zum Ausschluss, eben zur Desintegration. Im Sinne MUTHs (1992) birgt schulische Aussonderung von als behindert deklassierten Schülern die Gefahr einer Desintegration in sich. Otto SPECK (2000, 245) bemerkt das von den beiden großen Kirchen eine irrige Auffassung vertreten wird, die unter anderem besagt das sich der essentielle Interessenausgleich innerhalb eines humanen Gemeinwesens von selbst einstellt. Demzufolge hat die Integrationsbewegung „merklich an Schwung verloren. Das Soziale droht zum Epiphänomen zu werden“ (ebd.). Gusti STEINER macht darauf aufmerksam das Integration immer auch Ausschluss beinhaltet. „Das Integrationsdenken geht von der irrigen Voraussetzung aus, Menschen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, müßten ganz, zumindest aber teilweise ausgegliedert werden, um durch spezielle Maßnahmen, die beim Einzelnen Veränderungen im Sinne von ‚Annäherung oder Herstellung von Normalität’ erreichen, Integration herbeizuführen“ (ders. 1996, 201). Desintegrationstendenzen, jetzt nicht nur auf Schule bezogen, sind beobachtbar. HUSTER (2004, 13) stellt klar, dass „der Ausschluss aus der gewünschten und für notwendig angesehenen Beteiligung am Erwerbsleben [...] in vielen Fällen Ausgrenzung und Armut zur Folge“ hat. Und – schon im Vorschulalter weisen arme Kinder deutliche Entwicklungsdefizite, beispielsweise ein eingeschränktes Sprachverhalten, auf (vgl. KLENNER 2005, 23). Dies, so KLENNER (ebd., 28) weiter liegt aber vor allem an der Arbeitslosigkeit der Familie, der die Kinder entstammen. Unter Familie wird das Vorhandensein von wenigstens zwei aufeinander bezogenen Generationen verstanden. Diese Familiengenerationen müssen in einer Eltern-Kind oder Kinder-Beziehung zueinander stehen, wobei die soziale Elternschaft nicht unbedingt die biologische Elternschaft sein muss, womit dann auch die Existenz einer Ein-Eltern-Familie oder Fortsetzungsfamilie, wo die Kinder nur bei einem leiblichen Elternteil und deren oder dessen neuem Partner oder Partnerin aufwachsen, festgestellt wird. Nicht zwingend ist der Umstand, dass Mutter und Vater verheiratet sind. Auch sind nicht im selben Haushalt lebende verwandte Personen Bestandteil der Familie, „d. h., Familie ist ein Netzwerk besonderer sozialer Beziehungen. Das wird besonders dann bedeutungsvoll, wenn ein Familienmitglied krank oder pflegebedürftig wird. Familie bedeutet ein Füreinander-Einstehen auch über den Rahmen der Haushaltsgemeinschaft hinaus“ (KLENNER 2005, 23).

So konnte HUSTER (ebd., 12) dann mit Verweis auf zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, dass Kinder unter Arbeitslosigkeit genauso leiden wie die davon betroffenen Eltern. „Folglich treffen Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit und Verschärfungen bei Maßnahmen der beruflichen Integration gerade auch die Kinder! Konzentrationsschwäche, Depressionen, Schulversagen, Auffälligkeiten im Sozialverhalten u.v.a.m. beeinträchtigen den weiteren Entwicklungsprozess dieser Kinder in einem so starken Maße, dass sich die Armut im weiteren Leben oftmals fortsetzt" (HUSTER 2004, 12). Somit kann – und das ist das Fatale an der Sache - gesagt werden, dass für das gesamte Familiensystem Erwerbsarbeit die notwendigste Voraussetzung zur Teilhabe am allgemeinen gesellschaftlichen Wertezuwachs ist, denn es sind mit Wolfgang HUBER (2005) gesprochen vorwiegend zwei Familienformen, welche gegenwärtig das Stigma Armutsrisiko für sich beanspruchen. Es sind dies die allein Erziehenden und die Familien mit mehreren Kindern. Diese These mündet in HUBERs Forderung, deklariert als sozialethische Orientierung, dass es staatliche und gesellschaftliche Pflicht ist, dafür Sorge zu tragen, Kinder nicht hin zu materieller Armut zu führen (vgl. ebd., 14), um Exklusion zu vermeiden. Gesagtes führt zu dem von HAAS-RIETSCHELl (2005) beschriebenen „Syndrom von Abwertungsprozessen mit der Konsequenz, die Integrität anderer zu verletzen. Am Ende wird physische und psychische Unversehrtheit nicht mehr gewährleistet“ (dies., 12-13). So enthalten Einstellungsmuster wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus oder Behindertenfeindlichkeit einen gemeinsamen Kern. Hierbei handelt es sich dann um die Ideologie der individuellen Ungleichwertigkeit. „Wenn Werte wie Gleichwertigkeit und Unversehrtheit des Menschen inhaltlich ausgehöhlt oder in Frage gestellt werden, nimmt die Qualität der Demokratie Schaden. Demokratische Substanz kann aber auch durch das Agieren der Politik verloren gehen, wenn sie den Bürgern vermittelt, dass sie ohne Einfluss sind und nicht gebraucht werden“ (dies., 13). Somit fällt es dem Benachteiligten dann sehr viel schwerer dem Meinungsdruck der Majorität seiner sozialen Umwelt zu widersprechen. Der eigenen Selbstaufwertung, d. h. der Aufrechterhaltung des individuellen positiven Selbstwertes, dient diese Abwertungsstrategie anderer und hier speziell marginalisierter Gruppen.

Der Inklusion abträglich ist – das sei, auch wenn sich das aus dem Gesagten bereits ergibt, an dieser Stelle der Vollständigkeit halber angeführt – der gesellschaftliche Ausschluss, also der Einschluss in Totale Institutionen. Derartige Einrichtungen „sind sozialwissenschaftlich als hinter unserem Rücken entstehende, gesellschaftliche Regelsysteme der Zuweisung von Individuen an soziale Orte und in soziale Felder zu begreifen. Dise Zuweisung führt in allgemeiner Hinsicht dazu, den Individuen symbolisches Kapital (Prestige, Anerkennung) zu- oder abzusprechen, bzw. führt zu ihrer Positionierung im jeweiligen gesellschaftlichen Feld und allgemein im Feld der Macht näher zum Pol der Macht oder zum Pol der Ohnmacht“ (JANTZEN 2005, S. 155). Ausschluss zeigt sich dann auch darin, „daß die Gemeinschaft – voran die Repräsentanten, die Wissenschaftler – Alte, Kranke, Behinderte, Unproduktive, die Stromlinienform des Alltags Störende nicht mehr tragen, nicht mehr ertragen, will“ (STEINER 1996, 203).

2.2 Begriffswirrwarr – Integration, Inclusion, Inklusion, Diversity Studies

Auch wenn sich hier jetzt einiges wiederholt - und die Wiederholung als rhetorisches Mittel zur Verdeutlichung eben dieses Sachverhaltes – muss das existierende Begriffswirrwarr entwirrt werden. Dazu dient dieser Abschnitt:

Auf dem Weg zur Teilhabe behinderungserfahrener und nicht behinderungserfahrener Menschen, bei der Zusammenführung zweier sich diametral gegenüberstehender Kulturen also, ist es nicht verwunderlich bei einer existierenden Begriffsvielfalt – man könnte es auch diversity of terms bezeichnen -, was dann zu einem – neudeutsch – confusion of terms führt, auf keinen Nenner zu kommen und da oben stehen nur vier Bezeichnungen, wobei sich zwei Termini, bis auf einen Buchstaben, ähneln. Der letzte Begriff ist dann wohl auch nur eine Wortschöpfung, die dem englischen deutsch geschuldet ist und sich dem Studium der Vielfalt – und diversity heißt ja Vielfalt, aber nicht Meinungsvielfalt, denn das heißt diversity of opinion und die Vielfalt in der Szene der Behinderungserfahrenen wird bevorzugt, wenn nicht sogar ausschließlich, von nicht behinderungserfahrenen Glaubensschwestern und -brüdern betrieben, die andere Meinungen nicht zulassen – widmet. Zum Lächerlichen verkommt das Studium der Vielfalt im Rahmen der Behinderungserfahrenheit, wenn KNUST-POTTER schreibt, dass Behinderung ihrem Verständnis nach „kein auf meßbare Defekte und soziale Abweichungen reduzierter sondern ein ökosystemisch zu verstehender Begriff (ist – CR). Er beschreibt so gesehen eine soziale Relation und kann nur im Kontext der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft verstanden werden, aus dem sich der Lebens- und Lernweg eines jeden ableitet [...]. Insofern besteht die Aufgabe darin, behindernde soziale Relationen und Barrieren zu erkennen und zu ‚enthindern’.

In diesen Verständnis werden Menschen nicht auf ihre Behinderung reduziert (und die Autorin tut es dann doch, wenn sie statt Menschen mit Behinderung dann den Terminus technicus ‚Menschen mit Assistenzbedarf’ verwendet, wie sie es einige Zeilen vorher darstellt - CR), sondern als Personen mit vielfältigen Fähigkeiten, Eigenschaften und sozialen Einbindungen – unter denen auch solche sind, die ihre Lebens-, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten erschweren“ (dies. 1998,5). Wo ist nun das Lächerliche in diesem eigentlich guten und auch aus der Szene der Behinderungserfahrenen unterstützenswerten Gedanken? Lächerlich wird das dann, wenn jemand, die derartige Texte an den behinderungserfahrenen Mann bringt, diesen dann dafür anklagt, weil er, man führe sich hier gewissenhaft vor Augen das er das aufgrund seiner Behinderungserfahrenheit tut, scheinbar nur in Selbstmitleid verfalle und nicht das übrige und dann auch viel schlimmere Leid in dieser Welt sieht. Die Behinderungserfahrenheit, so gravierend sie auch tatsächlich ist, ist es dann doch nicht, weil sie über die Diversity Studies ja enthindert wird. Enthinderung wird dann auch versucht – und das habe ich in mehreren Gesprächen mit der zuletzt zitierten Autorin erlebt – indem harte Begriffe, wie Verbot oder Auftrag in ein sanfteres Fahrwasser geleitet werden, in welchem dann der Begriff Verbot zu Vereinbarung und der Begriff Auftrag zu Bitte verkommt. – Aber es wird kräftig enthindert, auch wenn es nur Wortklauberei ist, um die Vielfalt der Behinderungserfahrenheit zu symbolisieren. Das Bemühen der unterschiedlichen (Re-)Habilitationsinstitutionen, deren Behandlungsmaßnahmen immer nur bis zu einem bestimmten Punkt reichen und dann abrupt abbrechen, weil die Forschung als erledigt anzusehen ist, habe ich früher als soziale Euthanasie (vgl. RENSINGHOFF 2000, 195), also leichter Tod, bezeichnet. Heute würde ich es, da:

a) es sich bei der heutigen Vorgehensweise mit behinderungserfahrenen Menschen in den meisten Fällen nicht um einen leichten Tod handelt

b) der Tod tatsächlich nicht notwendigerweise eintritt

und

c) um der scheinbar behindertenpädagogischen Forderung nach einer sanften oder engelhaften Terminologie nachzukommen

als Disbiotik bezeichnen, womit die Lehre vom ungesunden körperlichen und geistigen Leben gemeint ist. Das Gegenteil ist die Eubiotik.

Wir erkennen bis hierher das der Begriff Diversity Studies ein schöner neudeutsch englischer Begriff ist, der aber ohne Wert ist – und das aber nur aus der wertlosen Perspektive einer behinderungserfahrenen Persönlichkeit, wie der des Verfassers dieses Beitrags hier.

Zwei andere Termini technici vervollständigen das Begriffswirrwarr aber dennoch. Und das ist:

a) der Begriff Integration

und

b) der Begriff Inklusion oder neudeutsch englisch Inclusion.

Beiden gemeinsam ist das Präfix ‚In-’, was ja dann schon das Richtige meint, denn ich komme mit meiner gesamten mir anhaftenden Behinderung und Behinderungserfahrenheit in das Haus, die Schule, die Arbeitsstelle oder die Jugendgruppe hinein, werde ein Teil des Ganzen und wir können so dann gemeinsam leben. Das Problem liegt jetzt also in den folgenden Wortteilen. Eine nähere Betrachtung erscheint sinnvoll, um dieses Problem auf einen Nenner hin zu führen – und das geht selbstredend nicht ohne die vorhandene und jederzeit abrufbare Professionalität der Behinderungserfahrenen -, damit politische Aktivitäten hin zu einem gemeinsamen Leben auf der gesamten Linie erfolgen kann.

Unter Integration ist ein Prozess der Bildung eines Systems höherer Ordnung aus relativ selbstständigen Systemen niederer Ordnung oder Elementen zu verstehen, „wobei die das System konstituierenden Teilsysteme (Elemente) in wechselseitige Abhängigkeit treten, so daß ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit herabgesetzt wird. Je nach Ausmaß und Intensität der wechselseitigen Abhängigkeit der Teilsysteme besitzen Systeme einen höheren oder geringeren Integrationsgrad. Der Integrationsgrad ist Maß für die Strukturiertheit, Organisiertheit, Komplexität usw. eines Systems. Integration kann jedoch nicht nur auf dem Wege der Vereinigung von Systemen niederer (und das wären dann wohl die Behinderungserfahrenen – CR) zu Systemen höherer Ordnung (und das sind die nicht Behinderungserfahrenen – CR) erreicht werden, sondern auch durch Umgruppierung der Teilsysteme bzw. der Elemente in einem schon vorhandenen System genau dann, wenn die neue Struktur des Systems zu erhöhter Abhängigkeit der Elemente oder Teilsysteme führt. Im Prozeß der Integration resultiert sowohl eine qualitativ neue Ganzheit als auch in Abhängigkeit von den neuartigen Relationen ein qualitativ neuartiges Verhalten der Elemente und Teilsysteme. Diese realisieren neuartige Funktionen, indem bestimmte ihrer latenten Möglichkeiten aktualisiert und andere, bereits aktualisierte, unterdrückt werden.

Daraus folgt, daß der der Integration entgegengesetzte Prozeß nicht derjenige der Differenzierung ist. Integration ist immer mit Dedifferenzierung verbunden, da durch die neuen Relationen bestimmte zwischen den Teilsystemen bestehende Unterschiede aufgehoben werden. Integration bewirkt jedoch gleichzeitig, daß die sich herausbildende Struktur neue Differenzierungen setzt, so daß jede Art und Stufe der Integration die ihr gemäße Art und Stufe der Differenzierung aufweist. Das Gegenteil von Integration ist Desintegration, worunter derjenige Prozeß verstanden wird, in dem sich im Verlaufe von Integrationen entstandene Systeme in ihre Teilsysteme bzw. Elemente auflösen. Desintegration ist gekennzeichnet durch Verlust der wechselseitigen Abhängigkeit der Elemente, der bestehenden Organisation, Zentralisation usw., ist Rückzug von einem höheren zu einem niederen Integrationsgrad und im Extremfall völlige Desintegration“ (WARNKE 1985, 576 f.).

Unter Inklusion, mit allen seinen sprachlichen Facetten und Raffinessen, wird im deutschen Sprachraum eine logische Relation zwischen zwei Individuenklassen oder Klassen, nämlich Klasse A und Klasse B, verstanden. Hierbei ist jedes Element der Klasse A auch Element der Klasse B. Ein anderer gleichbedeutender, aber nicht so moderner Terminus, weil es halt eine deutsche Vokabel ist, ist der Begriff Enthaltenseinsbeziehung. Die Klasse der Behinderungserfahrenen ist demgemäß z. B. in der Klasse der Menschen enthalten:

Die Enthaltenseinsbeziehung oder neudeutsch Inklusion und die Elementseinsbeziehung wird im deutschen Sprachraum mit dem Partikel ist ausgedrückt. Wenn beispielsweise gesagt wird ‚jeder Mensch ist sterblich’, scheint das so, als hätte diese Behauptung die gleiche logische Struktur wie die Behauptung ‚jede und jeder Behinderungserfahrene ist sterblich’. „Tatsächlich bezeichnet ‚ist’ in beiden Fällen nicht dieselbe Beziehung. Im ersten Fall bezeichnet es die Tatsache, daß die Klasse der Menschen in der Klasse der Sterbenden enthalten ist, im zweiten Fall hingegen“ (KLAUS 1985), dass die oder der Behinderungserfahrene ein Element der Klasse der Menschen ist. Zu logischen Fehlern führt die Verwechslung der Relation des Element- mit der des Enthaltenseins.

Zur Klärung des Begriffs Element ist anzuführen, dass es sich im allgemeinen philosophischen und systemtheoretischen Sinn hierbei um ein Objekt in einem System von Objekten handelt, welches dann innerhalb dieses Systems selbst nicht mehr in einfachere oder kleinere Objekte zerlegt werden kann, ergo innerhalb dieses Systems als unzerlegbar anzusehen ist. Einzelne Menschen können z. B. als Elemente spezifischer sozialer Gruppen angesehen werden.

Der Elementbegriff ist relativ. Ein Objekt, welches mit Blick auf ein System die Eigenschaft des Elements trägt, kann , auf ein anderes System blickend, dann ein hoch kompliziertes Teilsystem des jeweiligen betreffenden anderen Systems sein.

Kommen wir zur Elementbeziehung: Hierunter wird eine zweistellige logische Relation verstanden, welche zwischen Objekten (etwa Dingen oder Individuen) und einer Klasse besteht, welcher diese Objekte zugehörig sind. Eine bestimmte Person kann zeitgleich Element unterschiedlicher Klassen sein, etwa die der begabten Mathematiker, die der Fremdsprachennieten und die der behindertenfeindlich Eingestellten. Bei der Elementbeziehung zwischen einem Element und einer Klasse, die entweder besteht oder eben nicht besteht, tritt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten – und damit ist gemeint, dass für ein Individuum gilt, dass es beispielsweise über Behinderungserfahrung verfügt oder dass es nicht über Behinderungserfahrung verfügt – in Kraft. Bezüglich dieser prädikatenlogischen Formulierung existiert eine Einschränkung: So ist die Behauptung, dass jeder Mensch behinderungserfahren oder nicht behinderungserfahren ist, im Wesentlichen korrekt, als dass sie den qualitativen Unterschied zwischen Behinderungserfahrenheit und nicht Behinderungserfahrenheit zum Ausdruck bringt. Das Problem liegt aber in einem Zustand begründet, in welchem die Individuen, etwa durch ein traumatisches Ereignis, von einer Qualität zu einer anderen Qualität übergehen. Hinsichtlich scharf abgegrenzter Klassen ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten absolut gültig. Er ist aber nicht dazu imstande die Übergänge zu erfassen.

Für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt, dass beispielsweise ein behinderungserfahrener Mensch, der zu einer bestimmten Zeit Element, d. h. Schüler, einer Klasse der Schule für Körperbehinderte ist, sich selbstredend und natürlicherweise so verändert, dass eine derartige Elementbeziehung zu einem späteren Zeitpunkt, in dem etwa auf lautstarke Forderung der Initiativen Gemeinsam leben – Gemeinsam lernen hin, die es erreicht hat alle Schülerinnen und Schüler in allgemeinen Schulen beschult werden müssen, nicht mehr besteht.

Soweit nun eine vorläufige Begriffsklärung mit philosophischen Bezügen und die Philosophie ist ja bekanntermaßen die Königin der Wissenschaft.

Wenn nun die verehrte Leserin oder der verehrte Leser ein Rezept für das gemeinsame Leben behinderungserfahrener und nicht behinderungserfahrener Menschen sucht, so ist das hier nicht der richtige Platz. Wichtig war mir hier die begrifflichen Unstimmigkeiten vor Augen zu führen. In einem gemeinsamen Prozess, etwa in Form einer Zukunftswerkstatt, müssen die behinderungserfahrenen und nicht behinderungserfahrenen Integrationsforscherinnen und Integrationsforscher – und ich schließ mich hier, auch weil ich hier moderatorisch tätig sein will, Entschuldigung möchte, mit ein – zu einer Definition gelangen, denn „das ‚Besondere’ der Pädagogik, derer wir für Integration bedürfen, liegt nicht in der ‚Besonderung’ der Kinder und Schüler, sondern im ‚Allgemeinen’ der Grundlagen menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens, im ‚Allgemeinen’ einer basalen, subjektorientierten Pädagogik. Dieses ‚Allgemeine’ herauszuarbeiten ist das Spezielle unserer Arbeit; es in der ‚Besonderung’ [...] zu suchen, ist ein Irrweg! “ (FEUSER 2006, 25).

FEUSER führt zur Begrifflichkeit weiter aus: „Ich wurde [...] gebeten, [...] zu den Perspektiven einer inklusiven Pädagogik Stellung zu nehmen. Aber diesem Auftrag entziehe ich mich [...], u. a. auch deshalb, weil ich darin keinen Sinn sehe. Ich spreche zu Fragen der ‚Integration’! Dies zu tun ist verbunden mit dem Bemühen, sowohl vor der Gefahr der Ersetzung als auch der Abwertung des einen Begriffs durch den anderen zu warnen, wie die besondere Bedeutung des Integrationsbegriffes im Grunde zu rehabilitieren, die ich durch undifferenzierte und sich ahistorisch gebärdende Betrachtungen als beschädigt ansehe“ (ebd.).

Studierende des neunten Semesters der Integrativen Heilpädagogik/Inclusive Education der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt haben ihren Standpunkt hinsichtlich der Notwendigkeit eines integrationspolitischen Gremiums vorgelegt, in dem sie zunächst ihr Verständnis von Integration erklärten:

„Von der Anerkennung der natürlichen Verschiedenheit eines jeden Menschen ausgehend, verstehen wir Integration als Methode, Weg und Ziel, um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an allen naturgegebenen und von Menschen geschaffenen Gütern und Institutionen zu garantieren. Jeder Mensch soll das Recht und die Wahl(-möglichkeit) haben, seine eigene Form der Teilhabe zu definieren und die dafür notwendige Unterstützung zu erhalten. Die Umsetzung erfolgt durch interdisziplinäre Kommunikation, Partizipation und Kooperation aller beteiligten Akteure auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Politik und Gesellschaft haben hierfür geeignete Bedingungen zu schaffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe garantiert ist. Nur in diesem Falle kann davon ausgegangen werden, dass be- und aussondernde Bedingungen kontinuierlich abgebaut und soziale Ausgrenzung verhindert wird.

Bezüglich des in letzter Zeit häufig verwendeten Begriffs der Inklusion, positionieren wir uns wie folgt:

Inklusion als ‚neuer’ Begriff ist nach unserem Verständnis mit den oben angeführten Inhalten zu füllen, weswegen wir ihn diesem Integrationsverständnis gleichsetzen. Er birgt unserer Meinung nach die Chance, eine klare Abgrenzung zu all jenen Integrationsbestrebungen herzustellen, die sich auf den schulischen bzw. vorschulischen Bereich beschränken. Der Begriff trägt daher dazu bei, den umfassenden Charakter dieses Ansatzes herauszustellen und somit auch die Notwendigkeit der Re-Politisierung im Bereich der Integration. Z usammenfassend ist Inklusion für uns somit das Vorhandensein gesellschaftlicher Strukturen und Lebensbedingungen, die für keinen Menschen Segregation, sondern für ALLE Teilhabe in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens bedeutet.

Integrations-/ Inklusionspolitik muss (sich) deshalb...

... sich auf politischer Ebene für die Bildung und Ausbildung der inhaltlich bestimmten Ziele von Integration/ Inklusion einsetzen.

... mit Selbstvertretungsgruppen ein Sprachrohr bilden und sie unterstützen, damit sie auf politischer Ebene stärker wahrgenommen werden.

...dafür werben und sorgen, dass Disziplinen kooperativ zusammengeführt werden und arbeiten.

... Öffentlichkeit schaffen, gewinnen, ‚aufklären’, damit Verständnis, Toleranz und Akzeptanz entstehen kann (Bewusstseinsarbeit).

... sich auf der Ebene eines allgemeinen Gemeinwesens dafür einsetzen, dass alle Menschen als ‚Bürger’ wahrgenommen werden.

... sich auf Bildungsebene für eine Schule und Aus- und Weiterbildung für ausnahmslos Alle einsetzen.

Wesentliche Aufgabenbereiche eines integrationspolitischen Gremiums sind demnach:

- Gemeinwesenarbeit
- Öffentlichkeitsarbeit
- Bildungsbereich (Kindergarten-, Schul- und Erwachsenenbildung) sowie die Bereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen
- Politische Arbeit (Gewinnen von Kooperations- und Bündnispartnern,…)“ (ALTHAUS/DAUBERSCHMIDT/FREITAG 2006).

Zum Schluss seien die Worte Josef STRÖBLs vom Netzwerk People First Deutschland e. V. zum Thema Forschung – und damit gleichzeitig zur Integrationsforschung – wiedergegeben: „Viele Stdierende wissen nicht, wie gute Unterstützung für uns aussieht. Zu denen sagen wir, wir brauchen keine pädagogische Erziehung. Sie sollen lieber auf die Sprache, die Wörter und die Schrift achten. Das wollen wir den Studierenden selber beibringen. Sie sollen es nicht nur von den Professoren und Professorinnen erzählt bekommen.

Bei Forschung wollen wir auch gefragt werden. Die Forschung meint es ja nur gut mit uns! Aber wir möchten bitte gefragt werden! Ich war im Untersuchungsausschuss des Eisinger-Falles tätig. In einer Einrichtung in der Nähe von Würzburg haben Humangenetiker von der Universität Würzburg mit damaligen Ärzten der Einrichtung zusammen gearbeitet und haben Untersuchungen gemacht ohne Betroffene oder Angehörige um Erlaubnis zu fragen. Dabei habe ich festgestellt, dass auch Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf falsch ausüben können“ (ders. 2006, 48).

2.3 Die entwicklungslogische Didaktik

Das Grundkonzept der Informationsverarbeitung lautet: Der Lehrer sendet sprachlich gefasste bedeutungsbehaftete Informationen aus, die in das die Information verarbeitende System des Schülers eindringen, dort in ihrer Bedeutung enkodiert, mit Vorwissen verbunden und nach bestimmten Denkregeln verarbeitet werden, um so dann als Wissen im Langzeitgedächtnis abgelegt und von dort unter Umständen, etwa in einer Prüfung, abgefragt zu werden. Lernen ist somit als Instruktion, als Verarbeiten und Abspeichern des angebotenen Wissens aufzufassen. Notwendig ist die Optimierung jener hieran beteiligten Mechanismen (vgl. ROTH 2004, 496).

Perspektivisch sind grundlegende Veränderungen im Schulprofil und bei der Unterrichtskonzeption notwendig, um Zusammenhänge von Gesellschaft, Bildung, der Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch das Bildungssystem entgegenzuwirken“ (SÜNKER/SWIDEREK 1997, 182)

Die für ein inklusives allgemeinpädagogisches Vorgehen grundlegende entwicklungslogische Didaktik ist schülerzentriert, weil sie:

„- auf den Grundlagen menschlicher Entwicklung fußt,
- auf der Ebene der ‚aktuellen Zone der Entwicklung’ und damit auf dem Niveau der momentanen Handlungskompetenz eines Kindes sich mit diesem handelnd in Beziehung setzt und
- auf die ‚nächste Zone der Entwicklung’[2] des Kindes orientiert ist“ (FEUSER 1984, 15).

Im deutschen Sprachraum sind aus allgemeinpädagogischer Perspektive Erziehung und Bildung ineinander verschmolzen. Mit dieser Verbindung verschafft sich die allgemeine Pädagogik eine tragfähige Basis. „Bedeutet Erziehung immer auch Zuschliff des Rohlings (nach GRAMM hat ‚roh’ als ‚unbearbeitet’ zu gelten – CR) und darum unverwechselbare Fixiertheit des je Besonderen, so wird im Bildungsprozeß die Entgrenzung zum Allgemeinen hin vollzogen“ (GRAMM 1997, 31).

Bildung wird verstanden als Handlungsbewegung auf eine höhere und auf höherer Stufe. So gesehen muss der Schulunterricht für jeden Schüler, ob nun als behindert deklassiert oder nicht, entsprechende entwicklungspsychologisch seinen Bildungsmöglichkeiten angemessene Zugänge zum Gegenstand des Lernens bereiten. „Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand ist die Formel, die auf individuelle Differenzierung im Kontext sozialer Kooperation zielt“ (JANTZEN 1997, 287). Und das ist auch nur dann möglich, wenn beachtet wird das sämtliches Wissen aus neurobiologisch-konstruktivistischer Lehr- und Lerntheorie im Gehirn eines jeden Lernenden neu produziert werden muss und nicht einfach übertragen werden kann. Lernerfolg kann nicht durch die lehrende Person erzwungen werden, ist aber durch günstige Rahmenbedingungen – wie etwa der Gebrauch der entwicklungslogischen Didaktik –beeinflussbar.

Die entwicklungslogische Didaktik - Entwicklung verstanden als ein gesetzmäßiger Prozess der Persönlichkeitsveränderung, „in dessen Verlauf sich eine fortschreitende Tendenz, ein Übergang ihrer Qualitäten von niederen zu höheren, von einfachen zu komplizierten Formen durchsetzt“ (KIRCHHOFF/KLAUS/KRÖBER 1985, 334) - als allgemeinpädagogisches, somit dann Inklusion erst ermöglichendes, Prinzip ist gemäß FEUSER in folgendem Unterrichtsbeispiel gegeben: „Wenn im Projekt ‚Ernährung’ sich [...] Schüler eine Mahlzeit zubereiten, ist der ‚Gemeinsame Gegenstand’ weder das vom Wochenmarkt besorgte Rohgemüse, das kaum zu kauen ist oder schlecht schmeckt, und dann der fertige, leckere Gemüseeintopf, sondern der Prozeß, der vom ersten zum zweiten Zustand führt – das Kochen, die einwirkende, Veränderung bewirkende Wärme, ihre Erzeugung und ihr Transport, ja die Gesetze der Thermodynamik! Indem wir die Kinder für Wert befinden, sich mittels des trivialen Vorhabens ‚Wir kochen einen Gemüseeintopf’ (der Zweig eines Astes der didaktischen Baumstruktur, z.B. des Projekts ‚Ernährung’) mit den Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamik zu befassen (‚gemeinsamer Gegenstand’ im Sinne des ‚Elementaren’ und ‚Fundamentalen’ als Inneres des sich aus den Wurzeln des Baumes – Geschichte und Erkenntnisstand der Physik, Chemie, Molekularbiologie u.a. – speisender Kern des Stammes) werden sich ihnen vielleicht einmal die Fragen der Selbstorganisation der Materie, des Kosmos wie die des Lebens und der menschlichen Psyche in einer Weise erschließen, dass daraus eine Achtung des Lebens resultiert, die die durch Jahrhunderte erfolgte mystifizierende Ideologisierung ganzer Gesellschaften zu durchschauen vermag, die letztlich immer in Vernichtung von Leben und in Kriegen kulminierte.

Die im Vorgang des Kochens durch die einwirkende Wärme entstehenden Veränderungen sind der gemeinsame Gegenstand des Unterrichts. Aber die Repräsentation und das Ziel dieses Unterrichts liegen für den einen Schüler auf der Ebene der sinnlich-konkreten Erfahrung dieses Vorgangs durch Wärmeausstrahlung, Isolierung, Düfte, Geräusche u.v.m., für den anderen auf der Ebene der mathematischen Bewältigung der physikalischen und chemischen Vorgänge oder der dazu bestehenden Theoriebildung. Für den schwerstbehinderten Schüler wird deutlich, wie didaktisch akademisiert bis pervertiert sich dagegen Unterrichtsmaterialien ausnehmen, die mit Stoffen bezogen weich, mit Klettenband und Sandpapier belegt rau oder mit Noppen übersäht griffiger gemacht werden, womit er stimuliert werden soll, wo er mit vergleichbarem Aufwand bei einer Umorientierung im Sinne einer allgemeinen Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik im Rahmen der realen Alltagserfordernisse weit reichhaltigere und sinnvollere Erfahrungen machen kann“ (FEUSER 1989, 32). Korrekt verstanden ist die Logik, welche der entwicklungslogischen Didaktik innewohnt, eine imperative Logik. Imperative Logik deshalb, weil das gedankliche Gebilde eine Handlungsaufforderung enthält (vgl. KLAUS 1985, 722), als da wäre die Aufforderung zur Änderung des didaktischen Prinzips mit Blick auf Inklusion. „Es wäre ein Irrtum, wollte man die allgemeine Bildung nur auf Inhalte beschränken. Sie meint neben den Inhalten, also dem Kopf, ebenso sehr das Herz, also die emotionalen Beziehungen der Menschen zueinander und untereinander. Und wo um der allgemeinen Bildung willen auch die Hand noch mitgemeint ist, da kommt man auf Pestalozzis Trias von Kopf, Herz und Hand zurück“ (MUTH 1992, 186).

Das Gehirn muss, damit es beispielsweise physikalische Phänomene als bedeutungstragende Zeichen, eben als Sprachsymbole, erkennen kann über ein dementsprechendes – auf der entwicklungslogischen Didaktik beruhenden – Vorwissen verfügen. Es müssen Bedeutungskontexte vorhanden sein, welche erst das Erfassen jener der Physik innewohnenden Symbole und Zeichen ihre Bedeutung ermöglichen. Somit ist es gar nicht möglich Bedeutungen vom Lehrer auf die Schülerin oder den Schüler zu übertragen. Diese müssen vom Gehirn der Schülerin oder des Schülers konstruiert werden. Wichtig bei dieser Bedeutungskonstruktion ist die Erkenntnis, dass die meisten hoch automatisiert und vollkommen unbewusst ablaufen. Auch dann wenn sie bewusst erlebt werden, unterliegen sie in der Regel nicht dem menschlichen Willen (vgl. ROTH 2004, 497).

Damit auch alle Schüler an ein und demselben Gegenstand effektiv lernen können ist es notwendig im gemeinsamen Unterricht das methodisch-didaktische Prinzip der Individualisierung, welches nicht nur auf die als behindert deklassierten Schüler beschränkt wird, anzuwenden. Alle Schüler profitieren vom individualisierenden Unterricht. „Das Prinzip der Individualisierung soll jedem Kind eine optimale Teilhabe am kooperativen Prozeß ermöglichen und ihm den Gegenstand kooperativer Tätigkeit auf seinem Niveau weit möglichst erschließen“ (FEUSER 1984, 143).

Der Lehrer wendet sich dem einzelnen Schüler zu, „um ihm seinen Interessen und Schwierigkeiten entsprechend eine Hilfe anzubieten“ (KUNERT 1972, 45f.). So ist dem Schüler dann ein selbständiges Weiterarbeiten am gemeinsamen Gegenstand möglich. MUTH (1992, 186ff) bezeichnet die Individualisierung als kardinales didaktisches Prinzip, das jedem Kind die Möglichkeit eröffnet, seinem individuellen Lernvermögen entsprechend an den Lehr- und Lernprozessen teilzunehmen.

So bedeutet die, in früheren Zeiten als abartige Lebensform bezeichnete, fatale Diagnose Trisomie 21 bei einer effizienten entwicklungslogischen Förderung eine gute Prognose. „Trisomie 21 ist [...] keine Krankheit, die sich heilen oder gar ‚wegoperieren’ lässt. Sie geht auch nicht ‚irgendwann von selbst’ wieder vorbei. [...] Menschen mit Down-Syndrom leiden [...] allenfalls unter unangemessen hohen Forderungen aus ihrem Umfeld. [...] Sie stecken voller Originalität und Kreativität.“ (MÖLLER 2005, 6o f.).

Das beschriebene allgemeinpädagogische didaktische Prinzip setzt ganz kategorisch – und das ist bis hierhin auch klar geworden, wird vollständigkeitshalber dennoch angeführt - Deinstitutionalisierung, einer sich vom medizinisch-defizitorientierten und daraus resultierenden bewahrenden bzw. beschützenden Grundhaltung abwendenden entwicklungsorientierten Leitbild, voraus.

Oskar ANWEILER (1984, 19), der die Einführung in MAKARENKOs (1984) pädagogisches Poem geschrieben hat stellt fest, dass Makarenko „gegenüber den Skeptikern unbedingt die Meinung (vertrat – CR), daß seine pädagogischen Prinzipien keineswegs in das Sondergebiet ‚Verwahrlosten- und Kinderheimpädagogik’ gehörten, sondern Allgemeingültigkeit beanspruchen konnten, also auch auf die Normalschule [...] anwendbar seien.“ In diesem Sinne darf dann auch die entwicklungslogische Didaktik als quasi revolutionäres didaktisches Prinzip bezogen auf eine inklusive, niemanden ausschließende Pädagogik verstanden werden. Makarenko hielt in seiner Kollektivpädagogik besondere Heilverfahren – man beachte den Verweis auf die Heilpädagogik – zur Überwindung von Verwahrlosung und asozialem Verhalten nicht für notwendig. Diese Heilung sollte, nicht allmählich sondern schlagartig, über eine Korrektur des Charakters erfolgen, „in Form von Erschütterungen vor der Gesamtheit der Zöglinge, durch die ein ‚starker Eindruck’ bewirkt wird“ (HILLIG 2002, 487).

2.4 Behinderung

„Unser Krampf heißt: eigentlich müßten wir alle gleich sein, alle schöner Durchschnitt. Was wir lernen müssen: Es gibt Menschen, die sich anders bewegen oder die sich anders benehmen oder die anders denken als andere. [...]

Wenn im Bewußtsein unserer Bevölkerung eine Behinderung etwas schlechthin Entsetzliches und Schockierendes ist – und wenn diese Meinung noch verstärkt wird durch gut gemeinte, aber schlimme und rührselige Artikel in bestimmten Illustrierten, da hätte sich ein gesundes Mädchen ‚aufgeopfert’ (!) und einen Mann geheiratet, der an den Rollstuhl ‚gefesselt’ (!) ist [...] – ich sage, wenn unter uns so über Behinderte gedacht wird, dann kann doch der ‚Mann von der Straße’ gar nicht ‚ja’ sagen, wenn er plötzlich gefragt wird, ob er mit einem Behinderten im selben Hause leben möchte“ (BACH 1986, 26).

Anders als bei den anderen Diskriminierungsgründen gibt es in den nationalen Rechtsvorschriften bezüglich der Behinderung eine Vielzahl von Begriffsbestimmungen. [...]

Wenn in den Antidiskriminierungsvorschriften der Begriff der Behinderung definiert wird, gibt es eine Reihe gemeinsamer Elemente:

- Zeitliche Anforderungen: Die Beeinträchtigung muss permanent sein oder lang andauern;
- Grad der Beeinträchtigung: Verschiedene Grade der Schwere;
- Tatsächlicher Status: Behandlung der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Beeinträchtigungen“ (CORMACK/BELL 2005, 24 f.).

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen Behinderungsbegriff gemäß § 3 Absatz 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz definiert. Demzufolge ist Behinderung die Konsequenz einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, welche auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht (vgl. Auktor 2003, 29).

Das Sozialgesetzbuch SGB IX sagt, dass gemäß §2 Abs. 1 Menschen behindert sind, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“ (BIH 2002, 14). Dieser Gesetzestext besagt, dass die Menschen mit Behinderungen nicht mehr nur als Fürsorgeempfänger und Bittsteller zu betrachten sind, sondern stattdessen als Gewinn das Recht auf Gleichwertigkeit als Bürger bei sämtlich vorliegender Verschiedenheit beanspruchen dürfen. Mit Bezug auf das Grundgesetz Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 analysiert AUKTOR (2003, 39) das früher die soziale Sicherung, also die Fürsorge und Versorgung, von Menschen mit Behinderungen im Zentrum der bundesrepublikanischen politischen Bestrebungen standen. Gegenwärtig ist eine Änderung der Zielsetzung zu konstatieren. Der Mensch mit Behinderung, einschließlich der ihm zustehenden Rechte, steht nunmehr im Fokus jeglicher behindertenpolitischer Anstrengungen. Für diesen Sinneswandel führt AUKTOR ein neues Selbstverständnis der Betroffenen an, welches zuvorderst ihren Ausdruck in der Interessenvertretung findet, was dann schließlich in der Ergänzung des Grundgesetzes um weiter oben angeführten Artikel ihren Niederschlag gefunden hat, dessen Regelung eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung darstellt, welche vom Staat die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft einfordert.

Es ist zu fragen, was z. B. eine Lernbehinderung oder geistige Behinderung denn überhaupt ist. André ZIMPEL (1995, 5) versucht Antworten darauf zu finden, die er in rhetorische Fragen kleidet: „Mangel an Denkvermögen (wenn er z. B. den als geistigbehindert deklassierten Jungen betrachtet, der die Frage was denn ein Heft sei mit ‚Ein Heft ist das, wo ich einen roten Umschlag drum gemacht habe!’ beantwortet – CR)? ... Das Stehenbleiben bei einem konkreten Beispiel? Oder der Mangel an Allgemeinheit (ein geistig behinderter Junge antwortet auf die o. g. Frage: ‚Ein Heft ist Materie, die um den magnetischen Mittelpunkt der Erde kreist!’ - CR)? [] Bedeutet die Tatsache, daß jemand konkret denkt, gleich Mangel an Denkvermögen? [...] Bedeutet die Tatsache, daß jemand in sehr allgemeinen Zusammenhängen denkt, Mangel an Denkvermögen? [...] (Tatsächlich ist es die – CR) Einsamkeit, Wer so denkt, steht allein da. Denken unter den Bedingungen der geistigen Behinderung bedeutet nicht etwa weniger, langsamer oder unpräziserer zu denken, sondern es bedeutet Einsamkeit im Denken.

Und das trifft den Kern, es ist die Einsamkeit unter isolierten Bedingungen, in gutmeinenden Sondereinrichtungen eingesperrt, die fast die Luft zum Atmen nehmen und, so sie einem behördlichen Gutachten (wobei das ‚Gut’ nicht den Tatsachen entspricht) folgt, an den Einschluss in eine schlecht ausgestattete Justizvollzugsanstalt erinnert. „Behinderung ist [...] nicht ein ‚pathologisches’, sondern ein ‚entwicklungslogisches’ Ergebnis des Versuches des Menschen, sich an ihn isolierende Bedingungen bestmöglich anzupassen und seine individuelle Existenz mittels dieser Anpassung an und der Aneignung von isolierenden Bedingungen zu erhalten“ (FEUSER 1984, 103). So gesehen ist unter Behinderung ein ökosystemischer Begriff zu verstehen. „Er beschreibt [...] eine soziale Relation und kann nur im Kontext der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft verstanden werden, aus dem sich der Lebens- und Lernweg eines jeden ableitet“ (KNUST-POTTER 1998, 5).

Am Beispiel des am 18.05.1920 im polnischen Wadowice geborenen Papstes Johannes Paul II. wurde am 02.04.2005 in den Radionachrichten des Westdeutschen Rundfunks um 1800 Uhr, anlässlich seines bis dahin bereits über 48 Stunden andauernden Todeskampfes (der Vatikansprecher Joaquin Navarro-Valls verkündete dann gegen 2200 Uhr das der Tod um 2137 Uhr eingetreten ist), herausgestellt das der Pontifex maximus seit mehreren Jahren mit Morbus Parkinson lebt. Todesursache, so teilte es Stefan BRANDENBURG am 03.04.2005 in einem WDR extra im dritten Fernsehprogramm des Westdeutschen Rundfunks mit und wurde es auch in der Todesurkunde vermerkt, sei ein septischer Schock und ein irreversibler Herz-Kreislaufzusammenbruch gewesen. Das römisch-katholische Kirchenoberhaupt hat durch sein Leben und Wirken mit dem Parkinsonsyndrom diese Körperbehinderung - und unnötigerweise wurde diese Behinderungsform eben als eine Körperbehinderung in Abgrenzung und dann mit negativem Unterton zur geistigen Behinderung genannt - gewissermaßen gesellschaftsfähig gemacht. Beim Parkinsonsyndrom, einem hypokinetischen extrapyramidalen Krankheitsbild, handelt es sich um ein hypokinetisch-hypertones Syndrom. Verantwortlich für das Parkinsonsyndrom ist die Zerstörung der Zellen der Substantia nigra, weshalb dann deren Neurotransmitter Dopamin nicht in ausreichendem Maße vorliegt. Pallidum und Striatum sind aus besagtem Grund in Mitleidenschaft gezogen. Es kommt typischerweise zu einem erhöhten Muskeltonus, dem so genannten Rigor, welcher Bewegungen unter Umständen nur gegen starken Widerstand ermöglicht. Auch ist der Ruhetremor, ein Zittern in Ruhe oder Pillen-Dreh-Phänomen, charakteristisch für dieses Behinderungsbild. Oft ist, vor allem wenn es sich um eine Erkrankung im Alter handelt, eine Auffälligkeit der Mimik in Form eines Salbengesichts erkennbar (vgl. HÜLSHOFF 2000, 158; DÖNER/PLOG 1996, 533).

Für das Zustandekommen von behindernden Lebensverhältnissen verantwortlich ist u. a. auch die familiäre Situation, in welcher das Kind bzw. der Jugendliche aufwächst. In diesem Feld stellt Christina KLENNER im Jahr 2005 auf dem sozialpolitischen Aschermittwoch der Kirchen eine soziale Schieflage fest. Der Familienbegriff, wie er bisher verwendet wurde, hat an Gültigkeit verloren. Die Formen des Zusammenlebens haben sich pluralisiert. Zur Verwendung des Begriffs Familie unabdingbar ist das Vorhandensein von wenigstens zwei aufeinander bezogenen Generationen. Sie „stehen zueinander in Eltern-Kind-Beziehung, dabei muss die ‚soziale Elternschaft’ nicht in jedem Fall auch die biologische Elternschaft sein. Es gibt [...] auch so genannte ‚Ein-Eltern-Familien’ und andere Formen wie etwa ‚Fortsetzungsfamilien’, bei denen Kinder nur bei einem leiblichen Elternteil und dessen neuem Partner oder neuer Partnerin aufwachsen“ (dies. 2005, 22 f.). Mutter und Vater müssen nicht unbedingt verheiratet sein. Zur Familie gehören dann auch im weiteren Sinne nicht im selben Haushalt lebende Verwandte. Erkennbar ist, dass es sich bei der Familie um ein Netzwerk besonderer sozialer Beziehungen handelt. Von besonderer Bedeutung ist diese Tatsache, wenn ein Familienmitglied krank bzw. pflegebedürftig wird. So bedeutet Familie ein Füreinander-Einstehen über den Rahmen Haushaltsgemeinschaft hinaus.

Derartig produzierte Behinderungen, wie sie oft in Schulen für Lernbehinderte bzw. Erziehungsschwierige vorkommen, sind das Resultat von familiärer Armut, hervorgerufen durch elterliche Arbeitslosigkeit. Schülerinnen und Schüler aus armen Familienverhältnissen weisen bereits im Vorschulalter deutliche Entwicklungsdefizite auf, als da beispielsweise wären Einschränkungen des Sprachverhaltens. In vielen Fällen kommt es zu psychotraumatologischen Erfahrungen, welche verheerende Auswirkungen auf das Selbst- und Weltbild haben. „Je jünger jemand zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist und je länger das Trauma dauert, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß die betreffende Person langfristige Probleme bei der Regulation von Wut, Angst und sexuellen Impulsen hat [...]. Der Verlust der Selbst-Regulation kann sich in verschiedener Weise bemerkbar machen: als Aufmerksamkeitsproblem (d.h. als Verlust der Fähigkeit, sich auf bestimmte Reize zu konzentrieren) oder als Unfähigkeit, im Erregungszustand Handlungen zu bremsen (Verlust der Impulskontrolle), was zur Folge hat, mit unbeherrschbarer Angst, Wut oder Traurigkeit zu reagieren. Solange sie den traumatischen Ursprung solcher Gefühle nicht kennen, werden traumatisierte Personen ihre eigenen Gefühlsausbrüche ebenso wie die emotionalen Reaktionen anderer immer wieder als Re-Traumatisierungen erleben. Somit werden die Gefühle, die mit dem ursprünglichen Trauma verbunden sind, fortlaufend auf einer intrapersonalen Ebene wiedererlebt; solche Personen führen oft ein Leben, in dem sie sich und andere traumatisieren“ (KOLK 1998, 42 f.). Im Verlust der Selbst-Regulation liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gravierendste psychische Traumafolge, da hierdurch die Befähigung zur Hemmung der einer Bedrohung folgenden Kampf-oder-Flucht (fight or fly)-Reaktion beeinträchtigt wird. Die Folge ist eine gestörte Fähigkeit, die Natur des entsprechenden Reizes wahrzunehmen und eine optimale Reaktion darauf auszuführen. Gegenwärtige traumatische Situationen produzieren Gefühle, welche bereits vergangener Situationen entstammen. Trauma erfahrene Menschen suchen ihr Heil nicht im Nachdenken, sondern im raschen und manchmal auch zu raschen Handeln. Isolierende Bedingungen haben als Resultat eine erworbene Hilflosigkeit gegenüber mächtigen Anderen, als da wären die Macht ausübenden Personen mit symbolischem Kapital. Diese Hilflosigkeit verliert sich nicht im Laufe des Lebens sondern besteht auch in späteren Beziehungen weiter. Diese Beziehungen werden dann im Sinne von Dominanz und Unterwerfung gestaltet. Oft geraten traumatisierte Personen in eine soziale Situation, welche den Situationen, in welchen sie Traumaerfahrungen gesammelt haben, auffallend ähneln. Derartige Re-Inszenierungen machen dem hiervon Betroffenen häufig nicht bewusst, dass hierbei frühere Lebenserfahrungen wiederholt werden. Die betroffene Person kann in Fällen der Re-Inszenierung eines Traumas entweder die Rolle des Opfers oder dieselbe des Täters oder auch beides spielen. Die Fähigkeit Erfahrungen zu begreifen wird unmöglich, wenn eine psychische Belastung in eine traumatische Erfahrung mündet. Menschen mit einem posttraumatischen Stresssyndrom (PTSD), also der Zustand, welcher dem akuten traumatischen Ereignis folgt, sind gewissermaßen in ihrem Trauma gefangen. Sie sind auf das Trauma fixiert und können es daher nicht von der Gegenwart differenzieren. Oft verstricken sich die Jugendlichen in einen Teufelskreis von immer wieder inszenierten Traumatisierungen. Für eine ohnehin schon schwierige Lebensphase kann die Adoleszenz auch zu einer Zeit der schweren Traumatisierungen, der Zusammenbrüche, des Beginns von schweren chronfizierten psychischen Erkrankungen, der Dissozialität und des gesellschaftlichen Ausstiegs werden. Eine traumatische Situation ist gekennzeichnet „als ein ‚vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt’“ (RIEDESSER/FISCHER/SCHULTE-MARKWORT 1998, 83). Der Kernaspekte der individuellen Betroffenheit durch die traumatische Situation ist durch das zentrale traumatische Situationsthema (ZTST) gekennzeichnet. Dauerhafte Symptome, wie depressive und phobische Reaktionen, Aufmerksamkeitsdefizite, hyperkinetisches Verhalten, Regression etc., sind psychobiologische Alarmreaktionen, welche in der traumatischen Situation aufgrund von entwicklungstypischen, individuellen psychischen Vorerfahrungen und den unterschiedlichen Elementen inklusive des zentralen traumatischen Situationsthemas des psychischen Apparates an einer so genannten Soll-Bruchstelle traumatisch dekompensieren. „Grundsätzlich ist festzuhalten, daß je nach traumatischer Situation, die das Signal-Angst-System überrollt und das Kind in extrem bedrohliche Hilflosigkeit bringt, Alarmreaktionen entstehen, die teilweise in den Symptomen des PTSD beschrieben worden sind; diese entsprechen einigen basalen, überwiegend physiologisch bedingten Charakteristika, nicht aber schon einer umfassenden Beschreibung der komplexen Konfiguration, die sich in traumatischen Verlaufsprozessen ausbilden können.“ (RIEDESSER/FISCHER/SCHULTE-MARKWORT 1998, 89). Als sinnvolle Reaktion auf lebensbedrohliche Situationen - und das kann der Einschluss in besonderen Institutionen für den hiervon Betroffenen bedeuten - kann die Entwicklung von dissoziativen Mechanismen betrachtet werden. Jemand der beispielsweise einen schweren Schockzustand durch einen Unfall erfahren hat, konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diese initiative Aktivität des psychischen Apparates als hilfreich empfinden.

"Wenn die elementaren Kontakte zur Realisierung des angeborenen Weltbildes frustriert werden, kommt es im Rahmen frühkindlicher sozialer Deprivation, jedoch auch lebenslang unter dem Einfluss traumatischer Ereignisse und schwerer Isolation, bei Menschen ebenso wie bei allen anderen Säugetieren, zu schweren Folgen im Aufbau des Gehirns (massive Veränderungen im Bereich des Hippocampus, der Basalganglien, des Cingulums und vermutlich auch des Kleinhirns), die für die Realisierung von biografischem Gedächtnis, Handlungsentwürfen und Arbeitsgedächtnis fundamentale Bedeutung haben. Zudem kommt es zu Umbildungen in der Selbstbewertung in Form langfristig veränderter Stressbewältigungseinstellungen im Sinne eines Posttraumatischen Stresssyndroms und/oder schwerer Deprivation" (JANTZEN 2005, 155-156).

In seinen Ausführungen – Behinderte als Bürger –schreibt Gusti STEINER: „Im August 1972 kam mir die Idee, zum Treffen einer (kirchlichen) Behindertengruppe in Frankfurt zu gehen. Ich kam zum Sommerfest, an dessen Ende die Sozialpädagogin – den Körperbehinderten, die allesamt lesen konnten – eine Geschichte vorlas. Ich fühlte mich wie im Kindergarten und dachte mir, ‚was soll das denn?’ In Frankfurt gab es zu dieser Zeit keine einzige Behindertenwohnung, öffentliche Verkehrsmittel waren behindertensicher, und da liest jemand Behinderten eine Geschichte vor? Ich merkte schnell, daß dieses Erlebnis damals symptomatisch für die Behindertenarbeit war (und wer aufmerksam durch die Sonderwelten marschiert erkennt das auch heute noch – CR): Behinderte wurden ‚betüttelt’, bebastelt’ und bei gemütlichen Kaffeetrinken ‚befeiert’.

Für mich hatten sich damals sehr schnell zwei Dinge geklärt:

1. Die Lebenssituation behinderter Menschen in der Ausgrenzung und Isolation, in Sondereinrichtungen von der Geburt bis zur Bahre – vom Sonderkindergarten über das Heim bis zum Sonderfriedhof der Großanstalten ist durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und damit durch politische Entscheidungen bestimmt.
2. Wir Behinderten nehmen die Rolle, die uns die Gesellschaft zuweist, brav an. Wir sind ‚Musterkrüppelchen’, die man haben will: dankbar, lieb, ein bißchen doof und leicht zu verwalten“ (ders. 1996, 198 f.).

2.4.1 Behinderung aus salutogenetischer Perspektive betrachtet

„Health is not only the absence of disease and infirmary but a state of complete well-being in a physical, mental and social meaning“(UNITED NATIONS DEPARTMENT OF PUBLIC INFORMATION 1948).

“The dynamic health theories were introduced focusing on heath promotion; in other words, the post-modern Public Health and the realization of the Ottawa Charter in terms of salutogenesis and quality of life” (LINDSTRÖM/ERIKSSON 2006, 239).

Die Salutogenese fragt in ihrer eigentlichen Bedeutung danach, warum ein Mensch gesund bleibt (ANTONOVSKY 1988). Der Bezug zum Thema Behinderung erscheint zunächst unklar und das gerade dann, wenn davon auszugehen ist das ein Mensch, der zu seinem Menschsein, dann eben über eine Behinderung, ganz gleich ob gesellschaftlich konstruiert oder durch ein traumatisches Ereignis erworben, verfügt, nicht krank ist. Gemeinhin setzen die Nichtbehinderungserfahrenen eine Behinderung mit Krankheit gleich, beispielsweise wenn Verhaltensweisen mit der Behinderung in Zusammenhang gebracht werden. Werden derartige Zusammenhänge konstruiert – und hierbei handelt es sich abermals um eine Konstruktion, denn dieselbe, unter Umständen negative Verhaltensweise, wird bei einem Nichtbehinderungserfahrenen oder Gesunden als zufällig und entschuldbar abgetan -, so liegt das halt in der Krankheit, also Behinderung, begründet. Aber der Mensch mit Behinderung ist in der Regel krank, wenn er sich beispielsweise einen grippalen Infekt einholt. Die Behinderung, welche aus dem Umstand nicht laufen zu können resultiert, ist kein Zustand, der mit Krankheit bezeichnet werden darf. Die lebenslängliche Behinderung kann einer Erkrankung folgen, ist aber nicht immer lebenslänglicher Begleiter. Es erscheint aus diesem Grund wichtig die salutogenetische Perspektive in die Behinderungsthematik mit einzubeziehen und zu thematisieren. „Salutogenese bedeutet [...] nicht nur die Kehrseite einer pathogenetisch orientierten Sichtweise [...]. Pathogenetisch denken heißt, sich mit der Entstehung und Behandlung von Krankheiten zu beschäftigen. Salutogenese bedeutet nicht das Gegenteil in dem Sinne, daß es nun um die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit als einem absoluten Zustand geht. Salutogenese meint, alle Menschen als mehr oder weniger gesund und gleichzeitig mehr oder weniger krank zu betrachten. Die Frage lautet daher: Wie wird ein Mensch mehr gesund und weniger krank?“ (BENGEL/STRITTMATTER/WILLMANN 2001, 24).

Behinderung salutogenetisch und dann mit Blick auf Inklusion betrachtet führt zu einem ausgeprägten sense of coherence oder Kohärenzgefühl. „Wenn also die äußeren Bedingungen vergleichbar sind, dann wird es [...] von der Ausprägung dieser individuellen, sowohl kognitiven als auch affektiv-motivationalen Grundeinstellung abhängen, wie gut Menschen in der Lage sind, vorhandene Ressourcen zum Erhalt ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu nutzen“ (dies., 28). Dieses Kohärenzgefühl – und der Terminus Kohärenz bedeutet Zusammenhang bzw. Stimmigkeit -, der Nucleus des salutogenetischen Modells, lässt sich bei Realisierung der inklusiven Beschulung behinderungserfahrener Schülerinnen und Schüler mit nichtbehinderungserfahrenen Schülerinnen und Schülern in besonders ausgeprägter Form erreichen, da die behinderungserfahrenen Schülerinnen und Schüler auf diese Weise reale Chancen erhalten, um ihre individuellen Lebensziele zu realisieren. Die inklusive Beschulung gibt den betroffenen Schülerinnen und Schülern die hierfür essentiellen gesellschaftlichen Ressourcen und diese können in Sonderwelten mit ihren speziell hergerichteten Schonräumen nicht erreicht werden. „Gelingt es einem Menschen, seine Ziele zu erreichen und schwierige Probleme zu lösen, so entsteht ein Gefühl der Zuversicht, auch zukünftige Schwierigkeiten zu meistern. So können [...] (behinderungserfahrene Schülerinnen und Schüler – CR) Vertrauen in die eigenen Kompetenzen entwickeln und erfahren, dass Probleme lösbar sind, dass es sich lohnt, aktiv zu werden. Damit geht eine Stärkung des Selbstwertgefühls einher“ (SCHNOOR 2005, 170).

Die Grundhaltung, eben die Kohärenz, die Realität, mit allem was sie behindert, als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben, umfasst die folgenden drei Komponenten:

- das Gefühl der Verstehbarkeit oder the sense of comprehensibility:

Das ist die Komponente, welche die Erwartungen oder Fähigkeiten von Menschen beschreibt, die Reize jedweder Art, also auch die unbekannten, als geordnete, konsistente und strukturierte Stimuli auffassen zu können. Es handelt sich hierbei um ein kognitives Verarbeitungsmuster.

- das Gefühl der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit oder the sense of managebility:

Mit dieser Komponente ist gemeint, dass Menschen davon überzeugt sind Probleme und Schwierigkeiten lösen zu können. Es geht hierbei nicht nur darum, die Problemlösung über eigene Ressourcen oder Kompetenzen herbeiführen zu können. „Auch der Glaube daran, daß andere Personen oder eine höhere Macht dabei helfen, Schwierigkeiten zu überwinden, ist damit gemeint. Ein Mensch, dem diese Überzeugung fehlt, gleicht dem ewigen Pechvogel, der sich immer wieder schrecklichen Ereignissen ausgeliefert sieht, ohne etwas dagegen unternehmen zu können“ (dies., 29). Hierbei haben wir es mit einem kognitiv-emotionalen Verarbeitungsmuster zu tun.

- Das Gefühl von Sinnhaftig- bzw. Bedeutsamkeit oder the sense of meaningfulness:

Eine Behinderung als etwas Sinnvolles betrachten entbehrt wohl jeder Logik. Jede und jeder, die oder der einmal für kurze Zeit, etwa nach Knochenbrüchen, in ihrer oder seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt bzw. blockiert und somit behindert war, kann einer Behinderungserfahrung sicher keinen Sinn beimessen. Gleichermaßen dürfte es auch der jungen Mutter ergehen bzw. ergangen sein, von der Monika VERNOOIJ berichtet, als sie mit dem IC von Hannover nach Frankfurt fuhr:

Im Zugabteil saßen am Fenster ein katholischer Priester mittleren Alters und ihm gegenüber eine junge Frau, Anfang 30 mit einem etwa 4jährigen Kind mit Down Syndrom. Ich saß am Gang, der jungen Frau schräg gegenüber. Zwischen ihr und dem Priester entspann sich ein Gespräch über das Kind, in dessen Verlauf die Frau in Tränen ausbrach und schluchzte: ‚Ich kann mich nicht damit abfinden, daß gerade ich ein so behindertes Kind habe! Was hat das für einen Sinn?’ Der Priester räusperte sich und schaute etwas irritiert von der Mutter zu ihrem Kind. Offenbar hatte er mit diesem Gefühlsausbruch nicht gerechnet. Er öffnete den Mund, schloß ihn wieder- räusperte sich erneut und sagte dann, und in seinem Ton schwang der erhobene Zeigefinger mit: ‚Wie können Sie so etwas fragen? Wissen Sie nicht, daß uns im Leiden Gott begegnet?!

Die junge Frau sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, senkte dann den Kopf und weinte noch eine Weile vor sich hin. Es wurde kein Wort mehr gesprochen.

In mir machte sich eine Mischung aus Zorn und Mitleid, aus ambivalenten Gefühlen hinsichtlich meiner katholischen Erziehung und situativer Hilflosigkeit breit. Ich vergegenwärtigte mir die Situation:

- ein behindertes Kind,
- eine schmerzerfüllte Mutter,
- eine außenstehende Person, Repräsentant einer christlichen Kirche, die einen kirchenkonformen Kommentar abgibt“ (dies. 1998, 23).

Derartige, von eben diesem Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche, sicher gut gemeinten und in gewissem Sinne auch trösten wollenden Worte vermitteln bei der Angesprochenen – und das nachfolgende Weiterweinen und Schweigen belegt das auch anschaulich – kein Gefühl der Kohärenz. Ebenso ergeht es Fulbert STEFENSKY, wenn er Überlegungen dazu anstellt, wie wir mit dem Leid umgehen bzw. wie das Leiden mit uns umgeht. So führt STEFENSKY aus der Perspektive der oder des Kranken aus – und der Kranke kann auch durch die oder den Behinderungserfahrenen ersetzt werden:

„Ich bin krank und liege: Ich bin auf einer anderen Ebene, ich teile die Perspektive meiner Umwelt nicht mehr völlig. Ich schaue hoch, sie schauen auf mich herab. Ihr Blick mag ein Blick des Erbarmens sein. Aber ich bin ihnen nicht mehr ebenbürtig, wir teilen die Ebenen nicht mehr. Die Krankheit hat mich ausgesondert. Daß ich liege und daß sie stehen, ist nicht nur eine Äußerlichkeit. Es gibt keine Äußerlichkeiten, die nicht auch Inszenierung innerer Wichtigkeit wären. Ich liege, sie stehen. Das ist ein Teil meiner Einsamkeit als Kranker.

Die Gesunden sprechen mit mir, vielleicht sprechen sie noch mehr über mich. Ich bin mehr ein Beredeter als ein Redender. Je größer meine Krankheit, um so mehr bin ich ein Beredeter. Unter ihrer Beredung werde ich kleiner als ich bin: Kind (das leider immer noch nicht ganz abgelegte Sorgenkind-Image wird hier sichtbar – CR). Ich werde älter als ich bin: Greis (aber immer noch Sorgenkind – CR). Auf jeden Fall verliere ich, wenn die Krankheit länger dauert und wenn sie schwer ist, die Konstellationen meines Lebens. Zur Einsamkeit kommt die Angst. Die Geläufigkeiten des Lebens sind zerbrochen und stehen in Frage. Was wird morgen sein? Was wird mit alten Freundschaften?“ (ders. 1998, 11).

Und das alles soll mit Sinn behaftet sein, soll eine Bedeutung haben? Schwer vorstellbar! Aber diese Komponente der Sinnhaftig- und Bedeutsamkeit erschütternder Ereignisse ist die wichtigste Komponente. „Ohne die Erfahrung von Sinnhaftigkeit und ohne positive Erwartungen an das Leben ergibt sich trotz einer hohen Ausprägung der anderen beiden Komponenten kein hoher Wert des gesamten Kohärenzgefühls. Ein Mensch ohne Erleben von Sinnhaftigkeit wird das Leben in allen Bereichen nur als Last empfinden und jede weitere sich stellende Aufgabe als zusätzliche Qual“ ((BENGEL/STRITTMATTER/WILLMANN 2001, 30). Eine Beschulung in Sonderwelten institutionalisiert lässt die Sinnhaftigkeit, auch wenn sie noch so offensichtlich erscheint, missen und führt an den Pol der pathogenetischen Isolation. „Die pathogenetisch orientierte Forschung vergleicht Patienten mit Kontrollgruppen, die als gesund bezeichnet werden, da sie eine bestimmte Erkrankung nicht haben [...]; sie leiden jedoch vielleicht an anderen Erkrankungen die unerkannt bleiben“ (dies., 27).

2.4.2 Behinderungsbedingte Traumaverarbeitung in Spiralphasen

Die Adoleszenz kann unter Umständen [...] zu einer Zeit der schweren Traumatisierungen, der Zusammenbrüche, des Beginns von schweren psychischen Erkrankungen, der Dissozialität und des Ausstiegs aus der Gesellschaft werden. [...] Patienten mit späteren Traumata in ihrer Lebensgeschichte werden dann zu einer Frühstörung deklassiert. Es werden ihnen u. U. Krankheitskonstrukte übergestülpt (und diese Gefahr besteht besonders bei behinderungserfahrenen Menschen – CR), die sie aufgrund von Spaltungsneigungen, gestörten Teil-Objektbeziehungen und Wiederholungszwängen zu Borderlinestörungen machen, deren Denkfiguren dazu führen, nur noch die Folgen der traumatischen Verarbeitung zu erkennen, jedoch nicht mehr die überwältigenden realen Ereignisse“ (STREECK-FISCHER 1998, 13-20).

Eine Behinderungserfahrung hat immer wieder Traumatisierungen oder Verletzungen zur Folge. „Der zunehmend ausgeweitete Traumabegriff bezeichnet in seinem Kern einen Erfahrungszustand, bei welchem die Fähigkeit eines Individuums (und damit seines Ich), seine Erlebnisse zu organisieren und zu regulieren, überfordert wurde, so daß ein Zustand von Hilflosigkeit entstand“ (BÜRGIN 1998, 142). Für die Trauma- und somit gleichzeitig für die Behinderungsverarbeitung ist es empfehlenswert als Copingstrategie das von Erika SCHUCHARDT (2002) entwickelte Modell der Krisenverarbeitung als Lernprozess in acht Spiralphasen einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

Traumatische Erfahrungen, die immer wieder als Retraumatisierungen erfahrbar werden, lassen sich nie voll und ganz auf nur ein Ereignis fixieren. Aus diesem Grunde ist die Verwendung des Begriffs Spiralphasen sinnvoll, weil damit die Dynamik der krisenhaft erlebten Traumatisierungen beschrieben wird.

Zur Veranschaulichung wird an dieser Stelle das Modell der Krisenverarbeitung als Lernprozess in acht Spiralphasen nach SCHUCHARDT (ebd., 54) dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] „Mit der Wahl des Wortes wird, trotz der zu Recht kritisierten Normalität des alltäglichen Rassismus, auf einen historischen Kern verwiesen, der schließlich doch mit dem Bösesten verbunden war, das wir uns vorstellen können“ (BIELEFELD 2005, 10).

[2] „Der Grund jeder Handlung des Kindes ist die Beziehung zu anderen Menschen. Diese Beziehung ist Grundlage der Zone der nächsten Entwicklung. Die höheren psychischen Funktionen sind jene, die zunächst zwischen den Menschen liegen und erst dann interiorisiert und individualisiert werden“ (JANTZEN 1996, 39; vgl. OBUCHOVA 1996, 10; vgl. ZIMPEL 1995, 35)

Final del extracto de 175 páginas

Detalles

Título
Inklusiver Unterricht in der Sekundarstufe I. Theoretische Überlegungen und der Versuch einer Ethik
Autor
Año
2007
Páginas
175
No. de catálogo
V79591
ISBN (Ebook)
9783638846929
ISBN (Libro)
9783638845564
Tamaño de fichero
1653 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Theoretische, Unterricht, Sekundarstufe, Versuchs, Ethik
Citar trabajo
Dr. phil. Carsten Rensinghoff (Autor), 2007, Inklusiver Unterricht in der Sekundarstufe I. Theoretische Überlegungen und der Versuch einer Ethik, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79591

Comentarios

  • No hay comentarios todavía.
Leer eBook
Título: Inklusiver Unterricht in der Sekundarstufe I. Theoretische Überlegungen und der Versuch einer Ethik



Cargar textos

Sus trabajos académicos / tesis:

- Publicación como eBook y libro impreso
- Honorarios altos para las ventas
- Totalmente gratuito y con ISBN
- Le llevará solo 5 minutos
- Cada trabajo encuentra lectores

Así es como funciona