Die Dissoziative Identitätsstörung als sozialpädagogisches Problem


Mémoire (de fin d'études), 2006

123 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Konzept der Dissoziativen Identitätsstörung
2.1 Dissoziation als psychischer Prozess
2.1.1 Begriffsdefinition
2.1.2 Dissoziationsfähigkeit als Grundvoraussetzung
2.1.3 Das Dissoziative Kontinuum
2.2 Klassifikationen dissoziativer Störungen nach DSM-IV-TR
2.2.1 Diagnosekriterien der Dissoziativen Amnesie
2.2.2 Diagnosekriterien der Dissoziativen Fugue
2.2.3 Diagnosekriterien der Depersonalisationsstörung
2.2.4 Diagnosekriterien der nicht- näher bezeichneten dissoziativen Störungen
2.3 Kriterien der Dissoziativen Identitätsstörung
2.4 Geschichtlicher Rückblick
2.5 Epidemiologische und demographische Daten
2.6 Kontroverse: Diskussion zur Iatrogenität

3 Dissoziation als Strategie der Trauma- Bewältigung und die Dissoziative Identitätsstörung als deren Folgestörung
3.1 Der Zusammenhang von Trauma, Missbrauch und Dissoziation
3.1.1 Kindesmisshandlung
3.1.1.1 Körperliche Misshandlung
3.1.1.2 Vernachlässigung
3.1.1.3 Emotionaler Missbrauch
3.1.1.4 Sexueller Missbrauch
3.1.2 Der Täterkreis
3.1.2.1 Der Familienkreis
3.1.2.2 Der Bekanntenkreis
3.1.2.3 Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen
3.1.2.4 Organisiertes Verbrechen
3.1.2.5 Satanische Kulte und ritueller Missbrauch
3.2 Ätiologische Überlegungen
3.2.1 Weibliches Geschlecht
3.2.2 Das Trauma
3.2.3 Dissoziationsfähigkeit
3.2.4 Niemand hilft
3.3 Diagnose Dissoziative Identitätsstörung
3.3.1 Diagnostische Kriterien und Hinweise
3.3.1.1 Spezifische Merkmale zur Bestimmung von DIS
3.3.1.2 Unspezifische diagnostische Hinweise zum Vorliegen einer DIS
3.3.1.2.1 Psychiatrische Symptome
3.3.1.2.2 Psychosomatische Symptome
3.3.1.2.3 Zusätzliche Kriterien
3.3.2 Komorbidität und Differenzialdiagnose
3.3.3 Diagnoseinstrumente
3.4 Phänomenologie oder „Das normal- verrückte Leben
DIS- Betroffener“
3.4.1 Das subjektive Ereben Betroffener
3.4.2 Die „alter- Persönlichkeiten“
3.4.2.1 Alltags- Persönlichkeit
3.4.2.2 Kinder- Persönlichkeiten
3.4.2.3 Verfolger- Persönlichkeiten
3.4.2.4 Beschützer- und Helfer- Persönlichkeiten
3.4.2.5 Weitere Persönlichkeitszustände
3.4.3 Das Persönlichkeits- System
3.4.4 Switchen

4 Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten
4.1 Möglichkeiten und Grenzen der Psychotherapie
4.1.1 Überblick zu den Behandlungsrichtlinien nach ISSD (1997)
4.1.2 Psychodynamisch- Imaginative Trauma- Therapie
4.1.2.1 Stabilisierung und Symptomreduktion
4.1.2.2 Arbeit mit Imaginationen und die Bearbeitung traumatischer
Erfahrungen
4.1.2.3 Integrationsarbeit
4.1.2.4 Postintegrative Therapie und Rehabilitation
4.1.3 Ergänzende Therapien
4.1.3.1 Gruppentherapie
4.1.3.2 Stationäre Behandlung
4.1.3.3 Pharmakotherapie
4.1.3.4 Nonverbale Therapieansätze
4.2 Möglichkeiten und Grenzen der Sozialpädagogik/ Sozialen Arbeit
4.2.1 Sozialpädagogische Prinzipien und Angebote
4.2.1.1 Mögliche Kontaktbereiche und Anlaufstellen
4.2.1.2 Qualifikationsmerkmale, Grundhaltungen und Anforderung an
SozialpädagogInnen im Umgang mit DIS
4.2.2 Sozialpädagogischer Handlungsbereich
4.2.2.1 Prävention
4.2.2.1.1 Primarprävention zur Kindermisshandlung
4.2.2.1.2 Sekundäre und tertiäre Prävention zur Kindermisshandlung
4.2.2.2 Öffentlichkeitsarbeit
4.2.2.3 Beratung und Begleitung
4.2.2.3.1 Beziehungsarbeit und soziales Netzwerk
4.2.2.3.2 Sicherheit und Stabilisierung
4.2.2.4 Krisenintervention
4.2.2.5 Begleitung im betreuten Wohnen
4.2.2.6 Bereich der Selbsthilfe und Selbsthilfegruppen

5 Schlusswort

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Anhang
Anlage I
Anlage II

1 Einleitung

Ich selbst wurde bereits in der ersten Hälfte meines Studiums auf die einzigartige „Welt der multiplen Persönlichkeiten“ aufmerksam, indem ich zwei Bücher las - authentische Erfahrungs- und Lebensberichte betroffener Frauen, die mich zum ersten Mal mit der Problematik konfrontierten. J.F. Caseys „Ich bin viele“ und T. Chases „Aufschrei“ haben mich tief berührt, beunruhigt und beeindruckt. Mein Interesse war geweckt und blieb seitdem bestehen. Doch sollte noch einige Zeit des Studiums vergehen, bis ich mich erneut und weit intensiver mit der Thematik auseinandersetzte. Die Wahl eines Themas zur Diplomarbeit, als Abschluss meines Studiums, bot schließlich den geeigneten Anlass und die Beschäftigung mit fachlich einschlägigen Publikationen. Ich suchte nach Antworten auf Fragen: Wie ist es möglich, dass derartiges Leid, wie es das Zitat im Vorwort zeigt, in einer modernen Gesellschaft vorkommt? Wie ist dem entgegen zu wirken? Wie funktioniert die Welt der multiplen Persönlichkeiten und welche Hilfen sind vorhanden?

Die Fachliteratur bezeichnet die „Welt der multiplen Persönlichkeiten“ heute vorwiegend mit dem Begriff der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Es handelt sich dabei um eine klinisch anerkannte, psychische Störung, bei der sich nicht etwa reale Personen einen gemeinsamen Körper teilen, sondern verschiedene Anteile eines Menschen sich als so sehr voneinander getrennt erleben, dass sie jeweils über eine eigene Identität verfügen. Diese Persönlichkeitsspaltung und ihre zum Teil bizarren Symptome rufen Faszination, Unbehagen und Protest gleichermaßen hervor und finden seit Beginn der 90iger Jahre zunehmend öffentliches Interesse vor allem durch die sensationsträchtige Berichterstattung der Medien. Tatsächlich ist die Dissoziative Identitätsstörung eine der ungewöhnlichsten psychischen Phänomene, die nicht nur für Psychologie, Neurologie oder Philosophie, sondern auch für Bereiche der Sozialpädagogik beziehungsweise Sozialen Arbeit eine besondere Herausforderung darstellt.

Die Natur hat der menschliche Psyche einzigartige Fähigkeiten mitgegeben um dem Menschen auch unter den schlimmsten Qualen und negativsten Bedingungen ein Überleben zu sichern. Meine Faszination für diese erstaunliche Leistung besteht bis heute und gipfelt in der vorliegenden Arbeit.

Die Diplomarbeit soll zum einen wichtiges Grundwissen über die Dissoziative Identitätsstörung vermitteln. Im Besonderen wird der Zusammenhang zwischen dem Erleben extremster Gewalt und der psychischen Verarbeitung durch Dissoziation hergestellt sowie das Störungsbild selbst und daraus resultierende (störungs-)spezifische Probleme aufgezeigt. Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung wurden bereits in frühester Kindheit physischer und/oder psychischer und/oder sexueller Misshandlung ausgesetzt, die oft über das Maß menschlicher Vorstellungskraft hinausreicht. Um das physische, wie psychische Überleben in Missbrauchssituationen zu sichern, wurden sie gezwungen ihre intimsten Körpergrenzen aufzugeben und dissoziative Mechanismen als einzige Möglichkeit zu nutzen, um ihre überwältigenden Ängste und Schmerzen zu bewältigen. Im Erwachsenenalter sind die „Überlebenskünstler“ allerdings mit einer Vielzahl an Problemen konfrontiert, die ihr Überleben erneut gefährden.

Daher berücksichtigt diese Arbeit als zweiten Schwerpunkt den Umgang und die Behandlungsmöglichkeiten Betroffener. Beachtung finden sowohl der psychologisch- therapeutische, wie auch der sozialpädagogische Unterstützungsrahmen. Derzeit gibt es noch immer unzureichend professionelle Hilfen, das wohl einerseits am Hinterfragen der Glaubwürdigkeit Betroffener zu ihrer meist extremen Lebensgeschichte, und andererseits an zu wenig Fachkenntnis in Wissenschaft und Öffentlichkeit zum Störungsbild selbst, liegt. Der Bezug zur Sozialpädagogik wird bereits in diesem Aspekt deutlich. In nahezu allen Bereichen kommen SozialpädagogInnen mit Misshandlung und Missbrauch in Berührung. Ihre Aufgabe ist es, kompetent und professionell zu agieren, da sie in Verantwortung gegenüber rat- und hilfesuchenden Menschen stehen. Theoretisches Wissen, Erkennungsmerkmale und praktische Leitlinien zur Missbrauchsproblematik sind daher unerlässlich. Erstmals mit der Thematik Dissoziative Identitätsstörung konfrontiert, müssen zudem effektive Ansätze, bereits vorhandene Angebote und ihre Vernetzung, besondere Helfer- Kompetenzen und so weiter hinterfragt werden.

Aufgrund dessen soll diese Diplomarbeit verdeutlichen, inwieweit die Dissoziative Identitätsstörung und ihre Ursachen eine besondere Herausforderung, über das übliche Maß hinaus, für das Helfersystem darstellt. Des Weiteren hat sie den Anspruch eine Hilfe zur Orientierung anzubieten und als Entwurf möglicher Handlungsstrategien für von Missbrauch und/oder dissoziativen Symptomen betroffenen Menschen, zu dienen.

Dabei befasst sich das zweite Kapitel dieser Arbeit mit dem Konzept der Dissoziation, dissoziativer Phänomene und Störungen, einschließlich der Dissoziativen Identitätsstörung. Begriffe werden erklärt, das dissoziative Kontinuum vorgestellt und Diagnosekriterien der Störungen mittels diagnostischer Handbücher erläutert. Anschließend erfolgt neben einem geschichtlichen Rückblick, die Hinwendung zur Prävalenz und der kontrovers geführten Diskussion über das Phänomen Dissoziative Identitätsstörung.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den ätiologischen Bedingungen, die für die Entstehung der Störung verantwortlich sind. Es wird der Zusammenhang zwischen Dissoziation, Missbrauch und Trauma dargestellt, Formen und TäterInnen bei Misshandlungen als traumatische Erfahrungen beschrieben sowie die Entstehung der Dissoziativen Identitätsstörung als Strategie der Bewältigung mit all ihren Voraussetzungen eingehend dargelegt. Im Anschluss daran, erhält der Leser einen Einblick in Diagnostik, Symptomatologie und Komorbidität des Störungsbildes sowie in das „normal- verrückte Leben eines multiplen Systems“, mit subjektivem Selbsterleben, verschiedenen Persönlichkeitszuständen und der „inneren Organisation“.

Die Möglichkeiten und Grenzen, die Psychologie und Sozialpädagogik für die Behandlung Betroffener anbieten, stellt das abschließende, vierte Kapitel heraus. Im ersten Abschnitt werden das psychotherapeutische Konzept und ergänzende Therapien vorgestellt; im zweiten Abschnitt auf die praktische Umsetzung konzeptioneller Aspekte der Sozialpädagogik, auf präventive und intervenierende Angebote sowie auf Leitlinien, Anforderungen und Konsequenzen für die sozialpädagogische Begleitung Betroffener eingegangen.

Intention dieser Diplomarbeit ist es, Interesse an der Problematik Dissoziative Identitätsstörung zu wecken, so dass professionelle Helfer den besonders hohen Anforderungen und spezifischen Belangen der Menschen dieser Störung mit Kompetenz, Professionalität und spezialisierten Hilfen begegnen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Um Ausarbeitungen verständlich zu gestalten und Wiederholungen zu vermeiden (z.B. Lebenspartner, Lebenspartnerin), werden im nachfolgenden Text überwiegend geschlechtsneutrale Formulierungen und teilweise auch die maskuline Sprachform verwendet, welche ebenfalls als geschlechtsneutral zu verstehen ist.

2 Konzept der Dissoziativen Identitätsstörung

Um DIS als komplexe psychische Störung in ihren Ursprüngen zu begreifen führt das anfängliche Kapitel in konzeptionelle Grundlagen zu Dissoziation und darüber hinaus in Klassifikationskriterien dissoziativer Störungen ein. Anschließend erhält der Leser einen Einblick über die geschichtliche Entwicklung der Störung und wird überdies zur Prävalenz informiert. Die brisant geführte Diskussion über existentielle und ätiologische Annahmen zu DIS soll dieses Kapitel zum Abschluss bringen.

2.1 Dissoziation als psychischer Prozess

2.1.1 Begriffsdefinition

Im weitesten Sinne bezeichnet Dissoziation das Gegenteil von Assoziation, dass heißt Spaltung oder Trennung. Spiegel und Cardena (1991) betrachten Dissoziation differenzierter, als „... eine strukturierte Separation mentaler Prozesse (von Gedanken, Körperempfindungen, Bedeutungen und Erinnerungen oder der Identität) [...], die zuvor in die ganzheitliche Wahrnehmung integriert waren.“. Weiter heißt es bei Putnam (1989, S.9), dass sich der ursprünglich „normale Prozess“, anfangs vom Individuum als Abwehr und zur Protektion eingesetzt, „... mit der Zeit in einen schlecht angepassten oder pathologischen Prozess verwandelt“.

Im „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder“ (DSM, anglo- amerikanisch geprägt), dem Handbuch zur Klassifikation psychischer Störungen, wird Dissoziation daher als Unterbrechung oder zumindest Veränderung der normalerweise integrativen Funktion des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität und der Wahrnehmung definiert (vgl. Saß et al. 2003, S.586).

Deistler und Vogler (2002, S.42f.) fassen Dissoziation als allgemein menschlichen, psychisch internalisierten Verarbeitungsprozess mit extremer Spannbreite unterschiedlicher Phänomene zusammen, bei dem Anteile eines ursprünglich

zusammengehörigen Vorgangs (Erleben, Handeln) voneinander fern gehalten werden. Das heißt es sind spezifische Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsprozesse aktiviert, welche die Informationsteile eines Gesamtgeschehens nicht mehr assoziieren, obwohl Teilbereiche ins Bewusstsein, dem Gedächtnis oder Selbstbild integriert wurden. Das Gesamterleben im Ursprung, das heißt mit Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen, Bewegungsabschnitten oder Handlungsimpulsen, ist nicht mehr oder nur teilweise bewusstseinsfähig.

2.1.2 Dissoziationsfähigkeit als Grundvoraussetzung

Die Fähigkeit zur Dissoziation ist in jedem Menschen vorhanden, kann allerdings in ihrem Ausprägungsgrad individuell variieren. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Dissoziationsvermögen wurden bislang nicht gefunden.

Studien (z.B. Morgan/ Hilgard 1973) belegen, dass Kinder generell stärker in der Lage sind zu dissoziieren (bspw. aufgrund größerer Phantasiefähigkeit), als Erwachsene, denn mit zunehmenden Lebensalter lässt das Dissoziationspotential nach. Forscher (Kluft 1984; Hilgard 1977) gehen davon aus, dass Kinder und DIS- Betroffene bereits prädispositionell besonders suggestibel für Dissoziationen sind. Ihnen fällt es leichter in andere Bewusstseinszustände, fremde oder innere Welten zu wechseln und das Außen zu vergessen. Unter extrem belastenden Umweltbedingungen, wie DIS- Betroffene sie vorfanden, kann die eigene Dissoziationsfähigkeit im gleichen Maße zunehmen, wie sich die Suggestibilität zu Dissoziieren und die Absorptionsneigung erhöht. Voraussetzung für ein erhöhtes Dissoziationspotential ist demnach die Hypnotisierbarkeit, Phantasie und Absorption. Angenommen wird, dass die Fähigkeit zur Dissoziation zum einen genetische Dispositionen aufweist und zum anderen externale Gegebenheiten beteiligt sind. Inwieweit Dissoziationsfähigkeit anlagen- oder umweltbedingt ist, sollte weiter erforscht werden (vgl. Dornbusch 2002, S.35ff).

2.1.3 Das Dissoziative Kontinuum

Putnam und Bernstein (1986) betrachten Dissoziation in verschiedenen Ausprägungen interindividuell auf einem Kontinuum. Je nach Grad ihrer Ausprägung reichen die dissoziativen Zustände und Phänomene von „normal“/ alltäglich (vorübergehender Zustand) bis „abweichend“/ pathologisch (Dissoziation als Hauptsymptom einer Störung, chronischer Zustand), während dazwischen „Dissoziation als Teil von anderen Störungen“ (z.B. bei Angststörungen oder als einzelnes Symptom) auftritt.

Bereits 1988 stellte Braun (1988) das Kontinuum- Modell dissoziativer Phänomene graphisch dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Dornbusch 2002, S.52)

Als Alltagsphänomen äußert sich Dissoziation in komplexen Handlungsroutinen, automatisierten und überlernten Verhaltensweisen sowie in selektiver Informationsverarbeitung. Dissoziative Phänomene reichen von Gedankenabwesenheit (z.B. „Autobahn- Trance“), Tagträumen, alltäglichem Vergessen, Flow- Erleben im Sinne von „ganz in eine Tätigkeit versunken zu sein“ (Csikszentmihalyi 1990) bis hin zum Eintauchen in andere Bewusstseinszustände, Schlafwandeln und ausgeprägten Trance- Erlebnissen (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.42ff).

So wie Kinder dissoziative Zustände in ihrem täglichen Verhalten spiegeln, indem sie imaginäre Spielgefährten haben, stark in unterschiedliche Affektzustände fluktuieren und sich selbst als eine andere Person wünschen (z.B. Prinzessin oder Ritter); nutzen auch Erwachsene Dissoziation, um täglichen Anforderungen gerecht zu werden. Durch die Trennung wesentlicher Informationen von unwesentlichen, wird der Aufmerksamkeitsfokus enger und Reaktionen effektiver. So sind gesellschaftliche Rollen und verschiedene Funktionen des Menschen (Rollen- Fluktuations- Hypothese: berufliche, mütterliche Rolle u.a.) erfolgreicher zu erfüllen und zu bewältigen (vgl. Fiedler 1999, S.187ff).

Bewegt man sich im Sinne der Kontinuum- Hypothese weg vom Alltäglichen, weiter in Richtung „pathologischen Pol“, zeigen sich dissoziative Zustände bereits als Symptome psychischer Störungen und erhärten sich im Extremfall zu chronischen, eigenständigen Störungen. Die stärkste Ausprägung ist ein übermäßiges, unkontrollierbares Dissoziieren und bezeichnet die DIS (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.43f.).

Obwohl in Fachkreisen anerkannt und angewandt, ist die Kontinuum- Hypothese zu dissoziativen Zuständen nicht ganz unumstritten. Einige Forscher (z.B. Waller et al. 1996) vertreten die Ansicht, Dissoziation sei lediglich in zwei Ausprägungsformen geteilt. Zum einen bestehe die kontinuierlich vorkommende, nicht- pathologische beziehungsweise alltägliche, und zum anderen eine diskret auftretende, pathologische Dissoziation, die selten bei „gesunden“ Individuen zu erwarten ist. Neuerdings widersprechen Putnam (Putnam et al. 1986) und Ross (1991) dieser Hypothese zunehmend selbst. Die Autorin schließt daraus, dass die Forschung noch am Anfang steht.

2.2 Klassifikation dissoziativer Störungen nach DSM-IV-TR

Im Kontext des Kontinuum- Modells kann Dissoziation also als Alltagsphänomen fungieren, aber auch pathologisiert als psychische Störung auftreten.

Neben DIS sind im DSM-IV-TR drei klassische dissoziative Störungen, die Dissoziative Amnesie, Dissoziative Fugue und Depersonalisation sowie die Restkategorie der Nicht- näher bezeichneten dissoziativen Störungen, festgehalten. Sie zeichnen sich aus durch fehlende Erinnerungen an wichtige vergangene Ereignisse des Lebens, plötzliches Verlassen des Zuhauses und durch eine Veränderung der Selbstwahrnehmung bezüglich des körperlichen Selbsterlebens oder des Gefühls für die eigene Wirklichkeit. Da DIS als komplexes Syndrom und stärkste Ausprägungsform des Kontinuums auch Amnesie- und Fugue- Episoden sowie Depersonalisations- und Derealisations- Erlebnisse aufweist, werden im Folgenden die Diagnosekriterien aller Dissoziationsstörungen nach DSM-IV-TR dargestellt (vgl. Saß et al. 2003, S.576ff)

Die Pathologisierung dissoziativer Phänomene beginnt, wenn Dissoziation autoregulativ häufiger als „normal“ im Alltag angewandt wird. Dies kann der Fall sein, wenn belastende und existentiell bedrohliche Lebensumstände wie zum Beispiel dauerhafte Traumatisierungen vorliegen, denen sich der Mensch zu entziehen versucht. Dissoziation übermäßig stark und regelmäßig zu nutzen, ist eine Möglichkeit der Reaktion und Verarbeitung. Dabei kommt es zur innerpsychischen Focusbildung auf das Geschehen, welche die Aufmerksamkeitsprozesse bindet und absorbiert. Das Dissoziationspotenzial wächst gleichzeitig mit der Häufigkeit der Anwendung und entzieht sich der Kontrolle und Bewusstheit des Menschen über sein Erleben und Handeln. Dissoziieren ist nicht mehr beeinflussbar und geht mit wesentlicher Beeinträchtigung der Integration von Identität, Gedächtnis, Bewusstsein und der Wahrnehmung der Umwelt einher. Dissoziation bekommt pathologischen Charakter (vgl. Fiedler 1999, S.37).

2.2.1 Diagnosekriterien der Dissoziativen Amnesie

Das vorherrschende Störungsbild der Dissoziativen Amnesie (300.12) zeigt sich in einer oder mehreren Episoden, in denen eine plötzlich einsetzende Unfähigkeit besteht, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zumeist traumatischer oder belastender Natur sind. Erinnerungen werden psychisch bedingt ausgeblendet, was nicht durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt werden kann (vgl. Saß et al. 2003, S.576f.).

„Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung, Dissoziativen Fugue, Posttraumatischen Belastungsstörung [oder, Anm. M.S.] Akuten Belastungsstörung auf und geht nicht zurück auf die direkte Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medikament) oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. eine Amnestische Störung aufgrund eines Schädel- Hirn- Traumas). Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen.“ (ebd., S.578)

2.2.2 Diagnosekriterien der Dissoziative Fugue

Die Dissoziative Fugue (franz. fugere: fliehen) ist gekennzeichnet durch plötzliches, unerwartetes Verlassen des gewohnten sozialen Umfeldes, das heißt durch ein Weggehen von zu Hause oder vom gewohnten Arbeitsplatz, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an seine Vergangenheit zu erinnern (vgl. Fiedler 1999, S.104).

Kriterien der Dissoziativen Fugue (300.13) gemäß DSM-IV-TR sind:

- Verwirrung über die eigene Identität oder die Annahme einer neuen Identität (teilweise oder vollständig).
- Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung auf und geht nicht zurück auf die direkte Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Temporallappen- Epilepsie).
- Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (vgl. Saß et al. 2003, S.580f.).

2.2.3 Diagnosekriterien der Depersonalisationsstörung

Depersonalisation (300.6) bezieht sich unter all den dissoziativen Störungen besonders stark auf die eigene Person und ähnelt DIS am meisten. Sie bezeichnet die andauernde oder wiederkehrende Erfahrung, sich von geistigen Prozessen oder dem Körper losgelöst und als außenstehender Beobachter über die eigenen geistigen, wie körperlichen Prozesse zu fühlen (z.B. sich fühlen, als sei man in einem Traum). Während der Depersonalisationserfahrung bleibt die Realitätsprüfung intakt. Das Depersonalisationserleben tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer anderen psychischen Störung auf wie Schizophrenie, Panikstörung, Akute Belastungsstörung oder einer anderen dissoziativen Störung und geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z.B. Temporallappen- Epilepsie). Die Depersonalisation verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (vgl. Saß et al. 2003, S.589f.).

An dieser Stelle sei auch die Derealisation genannt, die das DSM-IV-TR nicht als eigenständige Kategorie anführt, die aber dennoch in Verbindung mit DIS vorkommt. Derealisation bezieht sich auf die Wahrnehmung der Umgebung, indem Gefühle des irrationalen und/oder unwirklichen Wahrnehmens sowie das Gefühl, das Geschehen wie durch einen Nebel oder Schleier zu betrachten, auftreten (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.49f.).

2.2.4 Diagnosekriterien der Nicht- näher bezeichneten dissoziativen Störungen

Für Störungen, bei denen vorherrschendes Merkmal ein dissoziatives Symptom ist, das die Unterbrechung der integrativen Funktion des Bewusstseins verantwortet, hat das DSM-IV-TR eine zusätzliche Kategorie eingerichtet, die der Nicht- näher bezeichneten dissoziativen Störungen. Darunter fallen alle Störungsformen, die nicht vollständig die Kriterien für die genannten, spezifischen dissoziativen Kategorien erfüllen (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.48ff).

In dieser Katalogisierung werden folgende dissoziative Symptome aufgelistet, die in anderen psychischen Störungen auftreten können:

- Fälle, die DIS ähneln, aber nicht sämtliche Kriterien erfüllen;
- Derealisation, nicht begleitet von Depersonalisation;
- Dissoziative Zustände, die nach langen und intensiven Prozessen von Zwangsmassnahmen zur Veränderung der Einstellung auftreten;
- Dissoziative Trance- Störung und Ganser- Syndrom;
- Bewusstseinsverlust, Stupor oder Koma, welche nicht auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen sind (vgl. Saß et al. 2003, S.591).

2.3 Kriterien der Dissoziativen Identitätsstörung

Bereits 1980 wurde DIS ins DSM-III als anerkannte psychische Störung aufgenommen. Zu dieser Zeit als Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) bezeichnet, an klassischen, prototypischen Fallbeschreibungen orientiert und der Kategorie der Persönlichkeits­störungen zugeordnet, war ihre Darstellung relativ eng gefasst und zu „schwammig“ (vgl. Gast 2002, S.16).

Erst in einer polarisierten und kontrovers geführten Debatte zur vierten Ausgabe des DSM (1994) erfolgte schließlich die Zuordnung zur neuen Gruppe der dissoziativen Störungen. Gleichzeitig fand eine Umbenennung in Dissoziative Identitätsstörung mit eindeutigen diagnostischen Kriterien (300.14) statt, welche die Spaltung der Identität

einer Person in einem Körper stärker in den Vordergrund stellte (vgl. Dornbusch 2002, S.31). So wurde das Konzept der DIS auch in die heute aktuell überarbeitete Fassung des Klassifikationssystems (DSM-IV-TR 2000) übernommen. Kritiker, wie Dell (2000) sehen DIS als komplexe dissoziative Störung in ihrer Kernsymptomatik aber noch immer unzureichend abgebildet und empfehlen einen umfangreicheren Kriterienkatalog nach verhaltensspezifischen Merkmalen, ähnlich der Posttraumatischen Belastungsstörung (PBS) und der Borderline- Persönlichkeitsstörung (BPS) (vgl. Gast 2002, S.18f.).

Nach DSM-IV-TR bezeichnet DIS das Vorhandensein zweier oder mehrerer unterschiedlicher Persönlichkeitszustände (PZ) einer Person, welche die Betroffenen selbst in der Regel nicht oder kaum wahrnehmen, da amnestische Barrieren vorhanden sind. Als schwerste Form der Dissoziation, ist DIS gekennzeichnet durch die Spaltung der Identität in PZ, die als eigenständige „Ichs“ getrennt voneinander existieren (vgl. Saß et al. 2003, S.586f.).

Als diagnostische Kriterien gemäß DSM-IV-TR sind folgende angeführt:

A) Die Anwesenheit von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen (jeweils mit einem eigenen, relativ überdauernden Muster der Wahrnehmung von der Beziehung zur, und dem Denken über die Umgebung und dem Selbst).
B) Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person.
C) Eine Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zu umfassend ist, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt zu werden.
D) Die Störung geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. blackouts oder ungeordnetes Verhalten während einer Alkoholintoxikation) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z.B. komplex- partielle Anfälle).

Beachte: Bei Kindern sind die Symptome nicht durch imaginierte Spielkameraden oder andere Phantasiespiele zu erklären (ebd., S.587f.).

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt DIS als psychische Störung in die zehnte Ausgabe ihrer „International Classification of Diseases“ (ICD-10) in die

Kategorie F44 (Dissoziative Störungen) auf. Ihre Darstellung zeichnet sich allerdings eher durch eine Argumentation der Skeptiker aus. Die Zuordnung zu sonstigen dissoziativen Störungen, die Diagnosekriterien und die noch verwendete Begriffsbezeichnung MPS entsprechen nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand (vgl. Dornbusch 2002, S.31).

So erklärt die WHO Multiple Persönlichkeit (F44.81) als eine seltene Störung, bei der kontrovers diskutiert wird, in welchem Ausmaß sie iatrogen oder kulturspezifisch ist. „Das grundlegende Merkmal ist das offensichtliche Vorhandensein von zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeiten bei einem Individuum. Dafür ist zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine sichtbar. Jede Persönlichkeit ist vollständig, mit ihren eigenen Erinnerungen, Verhaltensweisen und Vorlieben. Diese können im deutlichen Kontrast zu der prämorbiden Persönlichkeit stehen. Bei der häufigsten Form mit zwei Persönlichkeiten ist meist eine von beiden dominant, keine hat Zugang zu den Erinnerungen der anderen, und die eine ist sich der Existenz der anderen fast niemals bewusst. Der Wechsel von der einen Persönlichkeit zu der anderen vollzieht sich beim ersten Mal gewöhnlich plötzlich und ist eng mit traumatischen Erlebnissen verbunden. Spätere Wechsel sind oft begrenzt auf dramatische oder belastende Ereignisse oder treten in Therapiesitzungen auf, in denen der Therapeut Hypnose oder Techniken zur Entspannung oder zum Abreagieren anwendet.“ (Dilling/ Mombour/ Schmidt 2005, S.182)

Eine übermäßig starke Dissoziation bis hin zur Spaltung des Selbst ist die Reaktion auf Traumatisierungen und ungünstige Lebensbedingungen, also ein Coping- Mechanismus (primäre Dissoziation). Dieser hat vordergründig protektive Funktion und ermöglicht es, auf ein Übermaß an traumatischen Geschehnissen, verbunden mit Angst, Schmerz, Trauer und Hilflosigkeit, zu regieren. Die vollständige Abspaltung der Erlebnisse vom Bewusstsein schafft positive Effekte, wie Erleichterung, hält die Funktionalität des Menschen aufrecht und wird deshalb dankend und immer häufiger angewandt. Im weiteren Verlauf wirkt sich Dissoziation nicht mehr nur auf lebensbedrohliche Erfahrungen, sondern auf das gesamte Leben aus (sekundäre Dissoziation). Ihre anfangs nützliche Funktion der Bewältigung wird unkontrollierbar (vgl. Fiedler 1999, S.77ff).

Ein ganzheitliches Identitätsbewusstsein integriert zu halten ist nicht mehr möglich, da sich Dissoziation durch dauerhafte Extremsituationen und der häufigen Anwendung autoregulativ eingestellt hat. Es bleibt ein inkohärentes Selbst, bestehend aus „vielen separat gehaltenen Identitäten“ mit separaten Erinnerungen zurück. Die abgespaltenen PZ, die helfen sollten das Selbst unter ungünstigen Umweltbedingungen zu schützen und aufrecht zu halten, entwickeln zunehmend eine Eigendynamik mit spezifischen Funktionen (tertiäre Dissoziation). Das Ganzheitserleben der Betroffenen ist gestört, die dissoziativen Symptome schaffen neue Probleme und machen den Kern der Störung aus (vgl. Dornbusch 2002, S. 36ff).

2.4 Geschichtlicher Rückblick

Das Wissen um die historischen Wurzeln von DIS geht auf den Verdienst H.F. Ellenbergers (1996) zurück. In seinem Buch „Die Entdeckung des Unbewussten“ rekonstruiert er historisch dokumentierte Fälle von Besessenheit und misst den dissoziativen Phänomenen eine große Bedeutung bei. Das Modell der Dissoziation und auch DIS finden in seiner Untersuchung zur Entwicklung und Entstehung der dynamischen Psychiatrie eingehende Beachtung.

Zustände eines fragmentierten Selbst und Veränderungen in der Identität (Trance und Besessenheit) sind bis in die Heilkünste der Schamanen zurückzuverfolgen und auch in Besessenheitskonzepten über Dämone, Tote oder Tiere wiederzufinden. Das wohl bekannteste Beispiel aus der Geschichte der DIS und wechselseitigen Amnesie ist die Schilderung des „Dr. Jekyll- und Mr. Hyde- Dualismus“ (vgl. Huber 2004, S.21).

Erste Fallberichte, die an DIS erinnern, tauchten bereits im 17. und 18. Jahrhundert auf. So berichtete beispielsweise im Jahre 1791 der Anthropologe E. Gmelin von einem „Fall von umgetauschter Persönlichkeit“, bei dem eine 20jährige deutsche Frau zu einer Person wechselte, die sich als Französin fühlte und die Sprache perfekt beherrschte, während die Deutsche kein Wort französisch sprach und nichts von der Existenz der „Französin“ wusste. Weitere gut dokumentierte Falldarstellungen folgten, zum Beispiel

der „Fall Mary Reynolds“ von Plumer (1860) oder die klinische Behandlung der elfjährigen Estelle (Despines 1840) (vgl. Gast 2002, S.10f.).

Doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts (1880 und 1920) setzte ein reges Interesse am Studium dissoziativer Störungen und DIS ein. In dieser Zeit kam es zu einer Vielzahl umfangreicher Fallbeschreibungen und experimenteller Untersuchungen in Psychologie, Psychiatrie und Philosophie.

M. Prince (1906) war es, der anhand des Falls „Miss Beauchamp“ erstmals einen Zusammenhang früher Traumatisierungs- und/oder Missbrauchserfahrungen und der späteren Ausbildung von DIS herstellte sowie den Begriff der multiplen beziehungsweise alternierenden Persönlichkeit einführte. Dieser Einschätzung schloss sich auch P. Janet (1859-1947) an. Aufgrund der Annahme zur Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins und einer Persönlichkeitsspaltung im Kontext traumatisierender Lebensumstände schuf er das Konzept der Dissoziation (1889). Darin begreift er Dissoziation als nicht- intentionalen Verarbeitungsmechanismus mit protektiver Funktion, den Menschen autoregulativ nutzen. Informationen werden in einzelne, separat gehaltene Szenen gesplittet und getrennt voneinander gespeichert. So wird erneutes Assoziieren der ursprünglich zusammengehörigen Informationen verhindert und das Individuum vor dem Gesamterlebnis geschützt. Janet gilt seither als Pionier auf dem Gebiet der dissoziativen Störungen. Seine vorgeschlagenen Behandlungsrichtlinien haben erstaunliche Ähnlichkeit mit den heutigen modernen Phasenmodellen, die DIS als Reaktion auf reale Traumata verstehen (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.23ff).

In Konkurrenz zu Janet, lieferte etwa zeitgleich auch S. Freud (1856-1939) plausible Erklärungen und Behandlungsmöglichkeiten für hysterische Störungen, wodurch Janets Konzept zur Dissoziation lange Zeit in Vergessenheit geriet (vgl. Gast 2002, S.13).

Nach anfänglichen Hinweisen und der ursprünglichen Annahme, reale frühkindliche Traumatisierungen in Form sexueller Gewalt, seien der ursächliche Grund für die hysterischen Symptome seiner KlientInnen, entwickelte Freud die Verführungstheorie, welche er später wieder verwarf. An ihre Stelle setzte er die Theorie des Ödipus- Komplexes, nach der seine KlientInnen über inzestiöse Handlungen phantasierten, sich wünschten (sexuell) „verführt“ zu werden und erst durch aktive selektive Abwehr,

Verdrängung und Unterdrückung ihrer Bedürfnisse zu HysterikerInnen wurden (vgl. Gast 2002, S.14f.).

Mit seinen triebtheoretischen Modellen beeinflusste Freud nachhaltig TherapeutInnen und WissenschaftlerInnen in ihrem Umgang mit missbrauchten Kindern und ebnete den Weg zum Aufschwung der Psychoanalyse. Viele der bis dahin bekannten und darauffolgenden Fälle dissoziativer Störungen wurden nach dem Freudschen Hysteriekonzept interpretiert. Erst sehr viel später nahm man die Überlegungen Janets wieder auf und hielt sie mit ihrer Einführung ins DSM fest (vgl. Fiedler 1999, S.137f.).

Freuds Modell der Verdrängung und Abwehr war allerdings nur ein Grund dafür, dass mit Beginn der 1920er Jahre das Konzept der Dissoziation keine Beachtung fand. Neben dem Aufkommen der Verhaltenstherapie und Psychopharmakologie hatten Bleulers Arbeiten (1927) über Schizophrenie den größten Anteil am schwindenden Interesse an Dissoziation und DIS. Mit der Einführung des neuen Krankheitsbildes (griech.: schizo- gespalten; phren- Geist/Hirn) wurden dissoziative Symptome und Störungen häufig der schizophrenen Erkrankung subsumiert. Das ist zum Teil heute noch der Grund für das starke Anwachsen der schizophren- diagnostizierten Fälle.

Obwohl im Zuge dieser Bewegung Publikationen zu DIS und berichtete Fälle stark zurückgingen, sorgte eine Falldarstellung für großes Aufsehen: „The three faces of Eve“ von Thipgen und Chleckley (1957). Sie leitete fast zeitgleich den Beginn der Gegenreaktion zum Konzept der DIS ein. Es wurde starke Kritik geäußert und erstmals der Vorwurf der Täuschung laut: DIS sei demnach ein Artefakt der Hypnose und die Persönlichkeiten unter Trancezuständen produziert. Obwohl bis dato bereits 76 Fälle von DIS bekannt und gewürdigt waren und ihre klinische Entität heute unmissverständlich anerkannt ist, ist die skeptische Zurückhaltung gegenüber dem Konzept von vielen späteren Autoren übernommen worden (vgl. Gast 2002, S.13ff). „Somit geriet eine der ältesten beschriebenen psychiatrischen Krankheitskonzepte unter starken Rechtfertigungsdruck, der bis heute anhält.“ (Gast 2002, S.14)

Erst ab Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts setzte eine Welle zur Wiederentdeckung und Etablierung des dissoziativen Konzepts nach Janet ein.

Die Neubesinnung auf die Wurzeln der Dissoziation wurde zum einen durch die Arbeiten Ellenbergers ausgelöst und ging zum anderen auf die öffentliche Verbreitung der Ursachen und Folgeschäden von Traumatisierungen (in Kriegen, bei

Naturkatastrophen, in Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Regimes, bei häuslicher Gewalt usw.) sowie auf die Frauenbewegung zurück. Traumatisierungen ebneten den Weg für die Psychotraumatologie und schließlich auch für die Auseinandersetzung mit dissoziativen Symptomen. Viele Psychiater und Psychologen schlossen sich in Kooperationsverbindungen zusammen, „klassische“ Fall-beschreibungen wurden neu diskutiert. Es kam zu einem enormen Anstieg von Publikationen und Versuchen, standardisierte Testverfahren zur Erfassung und Abgrenzung zu anderen Störungen zu entwickeln. Reges öffentliches Interesse wurde geweckt durch populärwissenschaftliche Darstellungen und Fallgeschichten wie zum Beispiel „Sybill“ (1976), „Das Leben des Billy Milligan“ (1988) oder „Ich bin viele“ (1992) (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.25ff).

Die fachlichen Bemühungen erreichten ihren Höherpunkt, als 1980 die „dissoziativen Störungen“ als eigenständige Kategorie ins DSM-III aufgenommen und 1984 in den USA die heute bezeichnete „International Society for the Study of Dissociation“ (ISSD) gegründet wurde (vgl. Huber 2004, S.25). Seither ist DIS als psychische Störung offiziell anerkannt und die Bereitschaft zur Diagnosestellung hat besonders in den USA und England stark zugenommen. In Deutschland und anderen europäischen Staaten ist das Interesse an Dissoziation und dissoziativen Störungen relativ neu. Im internationalen Vergleich setzte es circa zehn Jahre später ein. Das erste deutsche Lehrbuch zur Dissoziation verfasste P. Fiedler 1999. Demzufolge hat sich das Störungsbild noch nicht etablieren können, eine Tendenz zur steigenden Öffnung und Akzeptanz für DIS und ihre Hintergründe lässt sich aber, trotz anhaltender Kritik, Skepsis und Zurückhaltung, bereits erkennen (vgl. Huber 1995).

2.5 Epidemiologische und demographische Daten

In verschiedenen amerikanischen, wie europäischen Studien (z.B. Ross et al. 1991; Vanderlinden 1995; Modestin 1996; Gast 2001) wurden dissoziative Symptome und Störungen nach ihrem Vorkommen in der Gesamt- und klinischen Population untersucht. Mit weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen konnte ihre vielfach

betonte Seltenheit relativiert und eine regelhafte, sehr viel höher als erwartete Prävalenz festgestellt werden (vgl. Huber 1995).

Besonders in den letzten Jahren ist die Zahl der Betroffenen mit dissoziativen Störungen und DIS stark angestiegen. Forscher (Ross 1996; Putnam 2003) erklären zunehmende DIS- Fälle mit der Verbesserung des diagnostischen und klinischen Verständnisses, das heißt die Bereitschaft ätiologische Faktoren wie Traumata in epidemiologischen Studien mitzubeachten. Dazu hat wiederum auch die steigende gesellschaftliche Sensibilisierung für Traumatisierungen beigetragen (vgl. Fiedler 1999, S.152).

Bei Untersuchungen der Allgemeinbevölkerung (Ross et al. 1991; Murphy 1994; Vanderlinden 1995) gaben 1,7-20% (durchschnittlich 2-10%) der befragten Personen an, an dissoziativen Störungen zu leiden. Während DIS bei 0,4-2,6% der Befragten vorkam, traten einzelne dissoziative Symptome bei fast allen Probanden auf (vgl. Gast 2002, S.53f.).

Dagegen wiesen Studien (Putnam et al. 1986; Ross 1991; Modestin 1996; Gast 2001) in klinischen Populationen psychiatrischer Allgemeinstationen, dissoziative Störungen bei 5-17% der KlientInnen nach. Eine DIS konnte bei 0,4-12% der Befragten festgestellt werden. Deutlich höhere Ergebnisse für DIS (5,4-12%) traten nur in der Studie von Tutkun (1998), aufgrund der rein weiblichen Stichprobe, auf (ebd., S.54f.).

Die hohe Variabilität der Untersuchungsergebnisse lässt weitreichende Schluss­folgerungen zum Vorkommen und der Verteilung dissoziativer Störungen nicht zu. Trotzdem die große Spannbreite der Werte auf methodische Unterschiede in den einzelnen Studien zurückgeht, sehen Kritiker (z.B. Spanos 1994) sie als Hinweis für eine mangelnde Reliabilität der dissoziativen Diagnosen. Zurecht äußert sich deshalb auch das DSM-IV-TR zurückhaltend und eher kritisch und betont zudem, eine differenzierte Betrachtung der Prävalenz von DIS in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen (vgl. Putnam 2003, S.79).

2.6 Kontroverse: Diskussion zur Iatrogenität

Seit der unklaren Zuordnung von hysterischen und dissoziativen Symptomen und ihrer Diagnostik, stellt sich die Fachwelt die Frage: Ist DIS real oder iatrogen?

Entgegen der Argumentation der Befürworter, DIS sei eine psychiatrische Entität und beruhe auf frühkindlichen Traumatisierungen, stellen die Vertreter der soziokognitiven Theorie (Spanos 1994; Frankel; McHugh) sowie der False- Memory- Syndrome- Foundation (FMSF) dies in Frage. Der Vorwurf der Iatrogenität ist trotz eindeutiger Beweise zur Existenz von DIS als anerkannte Störung erdrückend, da die Vertreter der Trauma- Theorie (z.B. Kluft 1988; Putnam et al. 1986) nie eine Alternativhypothese zur Ätiologie von DIS, als die der traumatischen Erfahrungen, formuliert haben (vgl. Held 1999, S.28).

Während die soziokognitive Theorie die Existenz von DIS per se, sowohl in Validität der Diagnose, als auch die Trauma- Ätiologie in Frage stellt, zweifelt FMSF (seit 1992) als eine Kampagne mit dem Slogan „Missbrauch mit dem Missbrauch“ die Realität der Traumatisierungs- und Missbrauchsanschuldigung an (vgl. Hacking 2001, S.28f.).

Spanos (1994) hält DIS lediglich für ein Phänomen, das durch kulturelle, medienwirksame und therapeutische Beeinflussung produziert wird. Danach ist die Störung von suggestiblen und/oder hysterischen Menschen eingebildet oder vorgetäuscht, um Frustration und das eigene Versagen zu erklären und/oder zu rechtfertigen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken sowie Gewinn und Ansehen zu erreichen. Diese Menschen können sich perfekt mit den, in der Öffentlichkeit diskutierten und in den Medien vorgeführten Fällen von DIS identifizieren. So überzeugen sie Familie, Freunde und andere und erhalten von TherapeutInnen die Diagnose DIS, die sich ihrerseits Prestige erhoffen (vgl. Fiedler 1999, S.153).

Die Beeinflussung im therapeutischen Setting bezüglich traumatisierender Erfahrungen, die als ätiologische Faktoren für DIS gelten, greift neben Spanos (1994) auch die FMSF auf. Danach sind sowohl das Erleben „viele“ zu sein und verschiedene PZ zu haben als auch Trauma- und/oder Missbrauchserinnerungen nicht real, sondern über auffordernde und Suggestivfragen sowie Verfahren der Psychotrauma- Therapie erzeugt. Tatsächlich

belegen Studien, wie die von Ross (1999), dass in psychiatrischen Kliniken eine DIS aufgrund von Traumata nur bei der Hälfte der mit DIS diagnostizierten KlientInnen vorliegt. Bei den anderen 50% der Betroffenen ist DIS etwa zu gleichen Teilen entweder iatrogen, vorgetäuscht oder eingebildet (vgl. Dornbusch 2002, S.47). TherapeutInnen und vorrangig Techniken der Hypnose, Trance und Traumdeutung stehen somit in Verdacht nie stattgefundene und/oder bruchstückhafte Traumaerinnerungen zu provozieren und relativ normale Gedächtnislücken mit falschen Informationen zu füllen, die zu „falschen Erinnerungen“ werden (false- memory- theorie). Ähnlich sind auch die PZ einer Person suggeriert (vgl. Dornbusch 2002, S.39ff). „Auf der endlosen Suche nach Ordnung und Struktur greifen wir nach jedem vorbeihuschenden Bild und rücken unsere Vergangenheit in seinen Rahmen. [...] Es entsteht ein neuer Blick auf die Vergangenheit und dieser Blick hat den Namen MPS.“, so beschreibt es Hacking (2001, S.120ff).

Die soziokognitive Theorie (Spanos 1994; Frankel; McHugh) erklärt sowohl das Verhalten als auch die Erinnerungen der Betroffenen als kultiviert, das heißt durch Gesellschaft und TherapeutInnen hervorgehoben, bestärkt und aufrechterhalten. Dadurch wird ein Krankheitsbild kreiert, das in Wirklichkeit gar nicht existiert und mit zunehmender Verbreitung in der Gesellschaft als Modediagnose auftritt (vgl. Fiedler 1999, S.152ff).

Kritiker, wie Spanos (1994), begründen ihre Argumentation mit dem plötzlichen und enormen Anstieg der DIS- Fälle, obwohl die meisten, jahrelang praktizierenden TherapeutInnen und PsychiaterInnen noch keine Erfahrung mit einem Fall von DIS gemacht haben. Weiterhin werden methodische Mängel bei der Erfassung von DIS angegeben. Dabei richten sich Kritik und Skepsis vorrangig auf fehlende valide, externe Beweismittel zu den KlientInnen- Berichten und auf die voreilige, unkritische Identifikation Betroffener mit der Traumatisierungshypothese und der Diagnose DIS. Zudem sind Amnesien gegenüber größeren Lebensabschnitten nicht unmittelbar ein Beleg für Kindheitstraumata, welche in zum Teil besonders hoher Zahl bereits bei anderen psychischen Störungen vorkommen (vgl. Hacking 2001, S.27f.).

Der radikalen Negation von DIS ist entgegen zu halten, dass viele, heute offiziell anerkannte Störungen, zu Beginn ihres Auftretens auch als Modediagnosen angesehen wurden, wie beispielsweise Angst- oder Essstörungen. Aus der Geschichte der Dissoziation geht außerdem hervor, dass sich dissoziative Phänomene und Symptome weit zurückverfolgen lassen, nur nicht als diese erkannt, anders benannt oder zu anderen psychischen Störungen zugeordnet wurden. Zur heute vermehrt gestellten Diagnose DIS trägt vor allem auch die zunehmende Akzeptanz um Diagnostik und klinisches Verständnis von frühkindlichen Traumatisierungen bei, das wiederum Kritiker und Skeptiker ihrerseits bestärkt (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.26). Auch der Vorwurf, der in therapeutischer Behandlung konfabulierten traumatischen Ereignisse, konnte nicht empirisch belegt werden. Studien (z.B. Chu et al. 1999) zeigen, dass die meisten Erinnerungen außerhalb von Therapiesitzungen hervortreten und dass die Möglichkeit zwar besteht, „Persönlichkeiten“ unter Hypnose zu erschaffen, sie aber nur kurzfristig aufrecht erhalten werden und schnell wieder verfallen (vgl. Dornbusch 2002, S.46f.).

Viele der Argumente der Gegenbewegung, auch wenn einige gerechtfertigt sind, können nicht für oder gegen die Existenz von DIS geltend gemacht werden.

Festzuhalten bleibt, dass mit ihrer Aufnahme in beide Klassifikationssysteme für Krankheiten, DIS als offizielle psychische Störung anerkannt ist und gleichzeitig häufiger diagnostiziert wird. Der Vorwurf der Iatrogenität und bewussten Täuschung aber damit erneut gestärkt und wiederum auch die Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber der Diagnosestellung (besonders in europäischen Staaten) aufrechterhalten wird. Kritikpunkte haben aber dennoch prägenden Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion um DIS, die seither sachlicher geführt wird, sowie auf die Forschung, welche die Existenz von DIS exakter belegen muss.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3 Dissoziation als Strategie der Trauma- Bewältigung und die Dissoziative Identitätsstörung als deren Folgestörung

Im folgenden Kapitel soll verdeutlicht werden, dass Dissoziation als Anpassungsleistung an extreme Umweltbedingungen eingesetzt werden kann und DIS dann als Schutz- und Bewältigungsstrategie fungiert. In Verbindung mit neurophysiologischen Befunden werden Überlegungen und Theorien zur Ätiologie von DIS vorgestellt, welche auf der Annahme basieren, dauerhafte, überwältigende Traumata seien der Grund für eine übermäßig starke Dissoziation.

Die einstig sinnvolle Überlebensstrategie zu traumatischen Erfahrungen hat sich schließlich zu einer schweren Identitätsstörung entwickelt, die sich ihrerseits negativ auf das Leben der Betroffenen auswirkt. Diagnostische Kriterien und die Phänomenologie von DIS werden vorgestellt, das heißt wie sich die Störung im konkreten Fall äußert und mit welchen Problemen die Betroffenen im Alltag konfrontiert sind.

3.1 Der Zusammenhang von Trauma, Missbrauch und Dissoziation

In seinem Entwicklungsmodell beschreibt Putnam et al. (1986) DIS als eine psychobiologische Reaktion auf spezifische, sich wiederholende Erlebnisse negativer Art (Traumata) und stellt damit einen Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und dem Alltagsphänomen Dissoziation her. Ergebnisse retro- und prospektiver Studien (Dell 1998; Kluft 1984; Pearson 1997) belegen ebenfalls eine positive Korrelation beider Komponenten (vgl. Putnam et al. 1986).

Eine ätiologische Beziehung zwischen Trauma und Dissoziation konnte allerdings nicht bewiesen werden. Traumata sind eher als mögliche Variable zu betrachten, unter denen Kinder aufwachsen, als Umweltbedingungen. Sie stehen eng mit Dissoziation in Verbindung und werden im Sinne der Trauma- Theorie zu den Entstehungsbedingungen der DIS gezählt (vgl. Dornbusch 2002, S.37).

Das Trauma ist das Ergebnis psychischer Prozesse, das auf schreckliche und qualvolle Erlebnisse wie Mordanschläge, Kriege, schwere Unfälle und Katastrophen oder Missbrauchs- und Gewaltsituationen folgt, welche außerhalb des Rahmens normaler menschlicher Erfahrungen liegen und jeden Menschen seelisch belasten (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.67).

95% aller DIS- Betroffenen berichten von schwerwiegenden Traumatisierungen, die bereits im frühen Kindesalter begannen und über Jahre andauerten. In Quantität und Intensität (z.B. durch extreme Folter) übersteigen die Erlebnisse DIS- Betroffener die Erfahrungen anderer traumatisierter Menschen aber bei weitem. Kinder, die als Erwachsene an DIS leiden, sind wiederholt Nahtod- Erfahrungen ausgesetzt worden und erlebten extreme Gewalt, Missbrauch und Terror als alltägliche Realität ihres Lebens (vgl. Putnam 2003, S.70ff). Nicht ohne Grund behauptet Huber (2004) deshalb, dass zur Ausbildung einer DIS sehr viel mehr geschehen muss, als einmalige extreme Erlebnisse. „Denn nur, wer sehr viel Gewalt erlebt, wird multipel.“ (Huber 2004, S.38)

Traumatisierende Gewalterfahrungen DIS- Betroffener beruhen nachweislich vor allem auf jahrelanger, schwerer Kindesmisshandlung in gestörten familiären und anderen sozialen Strukturen. Laut Studien, wie die von Putnam et al. 1986; Ross 1989 oder Schultz et al. 1989, erlebten Betroffene physische (100%), psychische (100%) und sexualisierte (80-90%) Gewalt in etwa der gleichen prozentualen Größenordnung. In weniger als drei Prozent der Fälle wurden Traumata nicht mit Missbrauch in Zusammenhang gebracht. Dann spielen andere schwere Traumatisierungen eine Rolle, wie extreme Armut, Kriegshandlungen, ungünstige Eltern- Kind- Verhältnisse mit desorganisiertem beziehungsweise desorientiertem Bindungsstil sowie langwierige medizinische Eingriffe verbunden mit Deprivation. Betroffene mussten den gewaltsamen Tod vertrauter Menschen, den Mord eines Elternteils am anderen oder die Misshandlung und Tötung von Geschwistern durch einen oder beide Elterteile miterleben und so weiter (vgl. Gast 2002, S.42ff).

In allen DIS- Fällen konnte der Traumatisierungsbeginn zwischen Geburt und achtem Lebensjahr festgemacht werden, zu einer Zeit im Leben des Kindes, als sich seine Identität zu entwickeln begann. Aufgrund dieser frühkindlichen Traumatisierungen wird angenommen, dass bereits bis zum sechsten Lebensjahr auch erste Persönlichkeits­spaltungen auftraten. Weitere folgten, als sich die Lebensumstände der Betroffenen

nicht änderten. Fand der Missbrauch in der eigenen Familie statt, wurden bezüglich seiner Dauer durchschnittlich 11,7 Jahre bei sexuellem und 14 Jahre bei physischem Missbrauch nachgewiesen (ebd., S.43ff).

In fast allen ätiologischen Modellen zu DIS sind Auswirkungen psychischer Traumatisierungen als zentraler Faktor unter den Entstehungsbedingungen von DIS genannt. Die Kritik der soziokognitiven Theorie, dass es sich bei Trauma- Angaben um iatrogene, konfabulierte oder in Hypnose von TherapeutInnen suggerierte Pseudo- Erinnerungen handelt und aus diesem Grund der Realitätsgehalt der Berichte entweder teilweise oder ganz angezweifelt wird, konnte bis heute nicht wissenschaftlich belegt werden. Stattdessen bestätigte sich ein Kausalzusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation, zu dem offizielle Aufzeichnungen (z.B. Kranken- oder Gerichtsakten, Jugendamt) die Erfahrungsberichte Betroffener belegen (vgl. Gast 2002, S.45ff).

DIS kann deshalb als mögliche Verlaufsform der Posttraumatischen Belastungsstörung (PBS) betrachtet werden, die das Erleben von Traumata in der Biographie als Voraussetzung hat (Diagnostische Kriterien der PBS im Anhang, Anlage I). Ätiologische Überlegungen der PBS zum Erleben und Verarbeiten eines Traumas können so auch auf DIS übertragen werden (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.65).

Was DIS- Betroffene seit ihrer frühesten Kindheit erlebt haben, welchen traumatischen Erfahrungen und Misshandlungen sie ausgesetzt waren, wer die Beteiligten sind und wie sie mit dem Erlebten umgehen, beschreibt der nun folgende Abschnitt.

3.1.1 Kindesmisshandlung

Das Kinderschutz- Zentrum Berlin e.V. (2000, S.26) beschreibt Kindesmisshandlung als ein, das Wohl und die Rechte eines Kindes oder Jugendlichen beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln beziehungsweise ein Unterlassen einer angemessenen Sorge durch die Personensorgeberechtigten oder andere Personen in Familien oder Institutionen. Die Folgen sind nicht- zufällige, erhebliche Verletzungen, die wiederum

[...]

Fin de l'extrait de 123 pages

Résumé des informations

Titre
Die Dissoziative Identitätsstörung als sozialpädagogisches Problem
Université
Martin Luther University  (Pädagogik (Fachbereich Erziehungswissenschaften))
Note
2,0
Auteur
Année
2006
Pages
123
N° de catalogue
V79609
ISBN (ebook)
9783638799898
ISBN (Livre)
9783638803779
Taille d'un fichier
848 KB
Langue
allemand
Mots clés
Dissoziative, Identitätsstörung, Problem
Citation du texte
Diplom-Pädagogin Melanie Schöpcke (Auteur), 2006, Die Dissoziative Identitätsstörung als sozialpädagogisches Problem, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79609

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Die Dissoziative Identitätsstörung als sozialpädagogisches Problem



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur