Die Frühzeit des Buchdrucks als Zeugnis eines Medienwandels am Beispiel des Text-Bild-Bezugs im „Narrenschiff“ des Sebastian Brant


Magisterarbeit, 2000

79 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Medien als Forschungsproblem
1.1 Gegenstandsbestimmung
1.2 Grundlegende Positionen zum Medien-Begriff
1.3 Medientheorie zwischen Aktualität und Forschungstradition
1.4 Bebilderte Bücher als Medien

2 Medienwandel: Oralität – Skriptographie – Typographie
2.1 Oralität
2.1.1. Mündlich tradierte Information und ihre Kodierung
2.1.2. Die Schaffensbedingungen oral tradierter Literatur
2.1.3. Mündlichkeit und Bildlichkeit: Bilder im Kopf
2.2 Skriptographie
2.2.1. Die sozialen Voraussetzungen für die Prämierung der Skriptographie
2.2.2. Text und Bild in bebilderten Sammelhandschriften
2.3 Die Typographie: Eine Brücke zwischen Bild und Text

3 Das „Narrenschiff“ als Produkt seiner Zeit
3.1 Zeit als Zeugnis und Zeugnisse einer Zeit
3.1.1. Das Wissen über die Anfänge der Typographie: Die Quellenlage
3.1.2. Das Kolophon des „Catholicons“ als Zeugnis des frühen Buchdrucks
3.1.3. Der Holzschnitt aus „La Danse macabre“ und die Buchdruckkunst
3.1.3.1. Die Quellenlage der bildlichen Überlieferung des Buchdrucks
3.1.3.2. Exkurs: Der mittelalterliche Totentanz
3.1.3.3. Der Holzschnitt von 1499/1500 als Zeugnis seiner Zeit
3.1.3.4. Die Kritik der Typographie: der zeitgeschichtliche Blickwinkel
3.1.3.5. Die Kritik der Typographie: Der mediengeschichtliche Blickwinkel
3.2 Text- und Bildmedien der frühen Typographie - Das Beispiel: Die Flugschriften von Sebastian Brant
3.2.1. Das Kolophon des Catholicons als Textmedium
3.2.2. Die Flugschriften Brants als Bildmedium
3.2.3. Die Flugschriften Brants als Textmedium
3.3 Der Text-Bild-Bezug im „Narrenschiff“ als Medium
3.3.1. Der Text im „Narrenschiff“ als Medium
3.3.2. Die Bilder im „Narrenschiff“ als Medium

4 Visualisierung
4.1 Die Prämierung des visuellen Kanals: Eine neue Wirklichkeit entsteht
4.2 Die Einführung der Zentralperspektive in Bild und Text
4.2.1. Die Zentralperspektive als kodierte Information
4.2.2. Die Konstruktion von Perspektive im „Narrenschiff“
4.2.2.1. Perspektive im Bild
4.2.2.2. Perspektive im Text

5 Die Prämierung der Typographie und die Entdeckung der „Neuen Welt“

6 Schluß: Das Wissen, der Buchdruck und die „Neue Welt“

7 Bibliographie
7.1 Quellen
7.2 Darstellungen
7.3 Bildquellen

1 Einleitung: Medien als Forschungsproblem

1.1 Gegenstandsbestimmung

Der Gegenstand dieser Arbeit ist die Darstellung der Einführung des Buchdrucks als Umbruch in der Mediengeschichte. „Das Narrenschiff“ des Sebastian Brant erscheint für eine solche Untersuchung als besonders geeignet, weil dieses Werk Bild und Text gleichermaßen als Medien nutzt, indem die Bilder, die jedes einzelne Kapitel einleiten, den Text des betreffenden Kapitels illustrieren. Brant weist in der „vorred in das / narren schyff“[1] bereits auf die textunterstützende Funktion der Bilder hin:

„Vil narren / doren kummen dryn/Dern bildniß ich hab har gemacht/ /Und fyndet dar inn / wer er ist/Wem er glich sy / was im gebrist /[...]“[2]

Wenngleich im Jahre 1494, dem Erscheinungsjahr des „Narrenschiffs“ und zugleich auch der „Geburtsstunde der Narrenliteratur,“[3] von Medien noch keine Rede war, benennt Brant an dieser Stelle doch die Grundfunktion eines jeden Mediums[4], indem er erklärt, daß die Bilder, die man im „Narrenschiff“ findet, auch als Ersatz für den Text dienen können: „Wer yeman der die gschrifft veracht/Oder villicht die nit künd lesen/Der siecht im molen wol syn wesen“[5] Dieser Hinweis verleiht den Medien Bild und Schrift eine Gleichwertigkeit, weil hier zum Ausdruck kommt, daß der Informationsgehalt auch erhalten bleibt, wenn man sich, etwa wegen der Unfähigkeit zu lesen, nur die Bilder betrachtet. Dieser Anspruch des Werks soll im Verlauf der Arbeit noch kritisch betrachtet werden.

Da aber die Buchdruckkunst und damit das gedruckte Buch nicht das erste Speichermedium war, muß zunächst dargestellt werden, welcher mediengeschichtlichen Tradition das gedruckte Buch entstammt. Die Arbeit geht von einem Überblick über die Mediengeschichte aus, der bei der Mündlichkeit als Mittel zur Weitergabe von Information beginnt und bei der Durchsetzung des Buchdrucks endet. Zweck dieses Überblicks ist es zum einen, den Medienbegriff zu konkretisieren und zum anderen, aufzuzeigen, welche Bedeutung es hat, daß die Entstehung des hier besprochenen Brant-Texts gerade mit der Einführung des Buchdrucks zusammenfällt. Der Medienbegriff wird dabei sowohl in einem engen Sinn gesehen als auch in einen weiteren Kontext gesetzt. Das heißt: Ein Medium wird zum einen als Informationsträger und Informationsüberträger angesehen und zum anderen, nach dem Ansatz von McLuhan, als „Ausweitung des Menschen“.[6] So sollen hier zwei verschiedene Medienkonzepte dargestellt werden, die sich jedoch nicht etwa aufheben, sondern ineinander greifen.

Die hier vorgelegte Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: In einem ersten Schritt wird in Kapitel 2 die mediengeschichtliche Entwicklung als eine lineare Struktur dargestellt. Das Ziel dieses Kapitels ist es, den Medienwandel als eine Kette von medialen Veränderungen darzustellen, deren Ende im Rahmen dieser Arbeit an der Wende zur Neuzeit liegt. Nicht Hintergründe sollen hier aufgezeigt werden, sondern es soll an dieser Stelle eine Entwicklung grob nachvollzogen werden. Der Grund für diese vereinfachende Darstellung des Medienwandels liegt darin, daß es sich nur um eine erste Annäherung an das Thema der frühen Typographie handeln soll.

Anschließend werden in Kapitel 3 die Voraussetzungen untersucht, die gegeben sein mußten, damit Gutenberg sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, mit einer „Schönschreibmaschine“[7] zu schreiben. Das Wissen über diese allerersten Anfänge der Typographie ist, wie zu sehen sein wird, sehr begrenzt, weshalb die technologie- und geistesgeschichtlichen Zeugnisse einerseits als äußerst wertvoll eingeschätzt werden müssen, aber andererseits auch mit Vorsicht und Kritik zu bewerten sind. Es wird versucht, dem Umstand dieser besonderen Quellenlage Rechnung zu tragen, indem auf die exemplarisch besprochenen technologischen und geistesgeschichtlichen Quellen möglichst differenziert eingegangen wird. Als Unterstützung zur Dokumentation und Bewertung der Quellen dienen eine Reihe von Abbildungen. Aufbauend auf die Darstellung der Quellenlage der frühen Typographie geht es in diesem Kapitel zudem darum, zu zeigen, wie Brant mit der neuen Technologie umgeht. Brant nutzt die Typographie gezielt für die Verbreitung seiner humanistischen Lehre und zur Veröffentlichung seiner moralischen Ansichten.

Das damals neue Medium der Typographie legt besonderes Gewicht auf den visuellen Kommunikationskanal. Als ein Resultat der Visualisierung kann die Einführung und Durchsetzung der Zentralperspektive angesehen werden. Auf visueller Ebene entsteht dadurch eine neue Wirklichkeit. Mit dieser neuen Wirklichkeit befaßt sich das 4. Kapitel der Arbeit. Es wird versucht, darzustellen, wie die Zentralperspektive mit dem Verständnis von Wirklichkeit zusammenhängt. Das „Narrenschiff“ wird dabei als Reflex des Bewußtseins über die Zentralperspektive und über die neue Wirklichkeit aufgefaßt.

Anknüpfend an die Frage nach der neu entstandenen Wirklichkeit wird abschließend der These nachgegangen, daß Wirklichkeit auch immer das Weltbild definiert.[8] Es wird hier ein Zusammenhang zwischen der Entdeckung der „Neuen Welt“ und der Prämierung der Typographie hergeleitet. Der Zusammenhang soll darin bestehen, daß sowohl die Entdeckung der „Neuen Welt“ als auch die Typographie das Produkt eines Lernprozesses[9] war, der auf die Erweiterung von Wissen ausgerichtet war und nicht, wie bis zur Bruchstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, auf das Sammeln[10] und die Tradierung von Wissen. Seit der frühen Neuzeit geht es nicht mehr darum, Wissen analog[11] aufzuzeichnen, sondern auf der Basis der Analyse des Vorwissens zu erweitern.[12]

1.2 Grundlegende Positionen zum Medien-Begriff

Die Literatur- und Kulturforschung der letzten Jahre hat offenbar einen Begriff in ihr Zentrum gerückt, nämlich den der Medien. Dabei fallen zwei Dinge ins Auge: zum einen ist dies der Umstand, daß sich dieser Begriff erst vor ganz kurzer Zeit etabliert zu haben scheint. Damit verbunden ist die plötzliche Fülle von Publikationen zum Thema Medien, wobei diese Fülle mit einer enormen thematischen Spannbreite einher geht. Gemeint ist hier die zu beobachtende Tatsache, daß unter dem Stichwort Medien sehr viele und sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden, worauf noch im einleitenden Teil der hier vorgelegten Arbeit näher eingegangen werden wird.

Zum anderen fällt aber auch auf, daß die Auseinandersetzung mit Medien für die Forschung nicht so neu ist, wie es auf Anhieb scheint. Dies darf nicht übersehen werden. Denn schon lange vor dem aktuellen Interesse am Thema Medien hat sich die Forschung systematisch mit der Frage auseinandergesetzt, was Medien eigentlich sind und warum sich ein gegebener Gegenstand als Medium verstehen läßt. Hier ist vor allem die für die Medienforschung grundlegende Arbeit von Marshall McLuhan von 1964 hervorzuheben, die gerade den bezeichnenden Titel „Understanding Media”[13] trägt.

Als Fortentwicklung der Thesen McLuhans kann der Ansatz von Neil Postman[14] gesehen werden, der unter dem Titel „Amusing Ourselves to Death” Mitte der achtziger Jahre für Aufsehen sorgte. Postman kann als Weiterentwicklung McLuhans angesehen werden, weil er von der Grundannahme ausgeht „The medium is the metaphor”.[15] McLuhan stellt dagegen fest: „The medium is the message“.[16] Bei McLuhan kommt also in erster Linie zum Ausdruck, daß Medien zur Informationsgewinnung und –übertragung dienen. Hierbei ist jedoch zu betonen, daß es McLuhan nicht darum geht, das Medium als etwas darzustellen, das eine Botschaft einfach nur transportiert. Vielmehr ist für ihn das einzelne Medium selbst die Botschaft.[17] Er verdeutlicht diese Ansicht zunächst am Beispiel des elektrischen Lichts[18] und stellt folgende Behauptung auf:

„Ob das Licht nun bei einem gehirnchirurgischen Eingriff oder bei einem nächtlichen Baseballspiel verwendet wird, ist vollkommen gleichgültig. Man könnte behaupten, daß diese Tätigkeiten [...] der 'Inhalt' des elektrischen Lichts seien, da sie ohne elektrisches Licht nicht auskommen. Diese Tatsache unterstreicht nur die Ansicht, 'daß das Medium die Botschaft' ist, weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert.“[19]

Das Medium definiert sich bei McLuhan also durch seinen Zweck und durch das, was es ermöglicht und nicht durch das, was es an Information transportiert. In diesem Sinne ist das Medium die Botschaft. Es teilt, wenn man so will, seinem Benutzer den spezifischen Zweck mit, für den es gemacht ist. Dieser Sachverhalt ließe sich auch als Medienspezifität bezeichnen. Auch in dieser Arbeit verstehe ich ein Medium als etwas, das Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert. Es soll gezeigt werden, daß die Typographie in diesem Sinn ein Medium ist.

Bei Neil Postman ist das Medium dagegen „die Metapher“[20], weil es ein „Sinnbild für den Charakter und die Sehnsüchte“[21] einer Kultur, im Fall der zitierten Stelle, der US-amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts ist. Ein Anliegen dieser Arbeit ist es, zu zeigen, inwiefern der Buchdruck für die frühe Neuzeit sowohl Botschaft als auch Metapher ist.

Beide Autoren entwickeln einen Medienbegriff, dessen Referenzobjekte zum Teil nur im weiteren Wortsinn als Medien angesprochen werden können. So stellt McLuhan etwa dar, inwiefern neben den Medien, die man üblicherweise unter diesen Begriff faßt, wie etwa das gesprochene oder das geschriebene Wort, aber vor allem die elektronischen Medien[22], auch die Kleidung[23], ja selbst die Uhr als Übermittler de„Dufts der Zeit“[24] als Medien verstanden werden können. Autoren wie beispielsweise Michael Giesecke, der ausführlich das Ausmaß und die Konsequenzen der Einführung des Buchdrucks für die frühe Neuzeit untersucht hat, betrachtet in seiner „Fallstudie“[25] die Erzeugnisse der Buchdruckpresse als Medium und sieht diese als Produkt eines komplex gestalteten „Informationssystems“.[26] Ein Medienbegriff, wie ihn Giesecke verwendet, orientiert sich daran, daß ein Medium entweder Information speichert oder transportiert oder beide Aufgaben übernimmt. Dies ist der wesentliche Unterschied zum vorhin dargestellten Medienbegriff, wie ihn etwa McLuhan und Postman verwenden.

Man spricht bei Ansätzen, die nur die heute gängigen Massenmedien als Medien bezeichnen, auch vom „engeren Medienbegriff“.[27] Davon zu unterscheiden ist der „weitere Medienbegriff“.[28] Diese Differenzierung zwischen den beiden Medienbegriffen faßt Horst Wenzel in seinem Aufsatz über die Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft wie folgt:

„Der engere Medienbegriff bezieht sich auf die elektronischen Technologien der Datenverarbeitung, der weitere Medienbegriff wird im Hinblick auf die wechselseitige Modifikation und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Verbreitungstechniken der Kommunikation, [durch die sich Rede, Schrift, Druck und die elektronischen Medien jeweils auszeichnen], verwendet. Medien in diesem weiteren Sinne wären dann [...] auch das Buch, die Handschrift und der Körper als Träger der Kommunikation im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung im Rahmen der Kopräsenz gemeinsamen sprachlichen Handelns.“[29]

Eine Arbeit, die es sich zum Gegenstand gemacht hat, den frühneuzeitlichen Buchdruck unter dem Aspekt des Text-Bild-Zusammenhangs zu untersuchen, muß auf diese Differenzierung natürlich in besonderem Maße eingehen, damit klar wird, was es beinhaltet, wenn man beim Buchdruck und dessen Erzeugnissen von einem Medium spricht. Die Arbeit soll ersichtlich werden lassen, daß ein Medium mehr ist als ein Informationsträger und –überträger. Es liegt deshalb nahe, daß als Methode für die Untersuchung der Schwerpunkt auf dem weiteren Medienbegriff liegt. Der engere wäre wohl kaum in der Lage, das gedruckte Buch als Botschaft und die Einführung und „Prämierung“[30] des Buchdrucks als eine Metapher zu fassen. Das heißt, die Bedeutung des Aufkommens des Buchdrucks und der Buchdruck als Medium würden gar micht verständlich.

1.3 Medientheorie zwischen Aktualität und Forschungstradition

Führt man sich den Kontrast vor Augen, der sich aus dem weiter zurückliegenden Zeitpunkt einer Publikation zur Medienforschung[31] und der aktuellen Häufung von Veröffentlichungen zu diesem Thema ergibt, so liegt die Frage nahe, ob das Thema Medientheorie, wie einige Autoren andeuten, eine vorübergehende Erscheinung darstellt oder aber, ob die Medienforschung eine längere Tradition vorzuweisen hat, was ihr ein festes Fundament im kulturwissenschaftlichen Diskurs zusprechen würde. So vertritt beispielsweise Jan-Dirk Müller[32] die Ansicht, daß erst das Aufkommen unserer heutigen elektronischen Speichermedien in ihrer Eigenschaft als „Supergedächtnis“[33] die bisherigen durch den Buchdruck eröffneten Speichermöglichkeiten erweitert hätten. Eine mediengeschichtliche Betrachtung des Buchdrucks und eine Untersuchung dessen Auswirkung auf die Medienkultur seien so erst möglich geworden.[34]

Zwar hat die Mediendebatte durch die Durchsetzung der neuen Medien wieder an Aktualität gewonnen, doch hat die Medienforschung gerade was den Buchdruck anbelangt, eine Tradition, die mindestens bis in das Jahr 1962 zurück reicht. Aus diesem Jahr datiert die Arbeit von McLuhan mit dem Titel „The Gutenberg Galaxy”.[35] Hier befaßt sich McLuhan ausführlich mit dem Buchdruck als Speichermedium und zeigt eine medienhistorische Entwicklung von der Oralität bis zum Ende des Zeitalters der Typographie auf, das durch den „Einbruch der elektronischen Medien in die Hochkultur des Buches“[36] markiert ist. McLuhan stellt dar, wie sich im Laufe der Mediengeschichte durch die Einführung der einzelnen Medien die Welt nach und nach gleichsam verkleinert, bis sie in unserem „elektronischen Zeitalter“[37] zum „global village“geschrumpft ist. Damit zeigt er eine Parallele zwischen dem medialen Umbruch, der im Mittelalter bei der Durchsetzung der Schrift stattgefunden hat und dem Medienumbruch, den wir heute erleben[38]. In dieser Publikation spricht McLuhan einen wichtigen Punkt an, auf den im Zusammenhang mit dem Text-Bild-Bezug im „Narrenschiff“ ausführlich einzugehen ist: Er stellt die These auf, daß erst durch die Einführung des Buchdrucks die Zentralperspektive („a fixed point of view“)[39] möglich wird. Diese Arbeit wird die Idee von der Einführung des Buchdrucks als einem mediengeschichtlichen Umbruch übernehmen. Ein wichtiges Argument für diese Sichtweise ist mit dem gerade zitierten Ausdruck „fixed point of view” bereits gefallen. Auf diesen Begriff wird deshalb im Verlauf der Arbeit näher eingegangen.

Dadurch, daß die Medienforschung so weit zurück reicht und ihre Anfänge bis heute nachwirken,[40] wird deutlich, daß man dem Mediendiskurs eher ein festes Fundament als den Status einer flüchtigen Erscheinung zusprechen muß.

1.4 Bebilderte Bücher als Medien

Diese Arbeit geht von der Annahme aus, daß ein gedrucktes bebildertes Buch ein anderes Medium ist als eine bebilderte Sammelhandschrift, wie z.B. der Codex Manesse. Weiter zugespitzt ließe sich diese These auch wie folgt formulieren: Die Einführung und Prämierung des Buchdrucks ermöglicht erst ein Buch wie Sebastian Brants „Narrenschiff“ und umgekehrt wäre ein solches Buch als Sammelhandschrift nicht realisierbar. Es geht also darum, daß Sammelhandschrift und gedrucktes Buch zwei völlig verschiedene und klar von einander abgrenzbare Medien sind. Es ist ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit, zu zeigen, daß und warum es wichtig ist, diese Unterscheidung zu treffen.

In welchem Sinne ist ein gedrucktes bebildertes Buch aber ein anderes Medium als eine bebilderte Sammelhandschrift? Medien sind Informationsspeicher und –überträger. Hierin liegt ihre Grundfunktion[41]. Wichtig ist dabei, daß die Information über Kommunikationskanäle übermittelt wird. Im Fall des Buchs ist der Kommunikationskanal heute das visuelle Sensorium. Doch war dies nicht immer so: Im europäischen Mittelalter wurde Literatur über den auditiven Kanal vermittelt, weil sie mündlich tradiert wurde[42].

„Das mündliche Epos war kein im Wortlaut festgelegter Text, sondern ein unfestes [...] Gebilde, das immer wieder anders und neu erzählt wurde [...].“[43]

Die Fixierung der höfischen Literatur setzt im deutschen Sprachraum erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts ein. Aus dieser Zeit stammt auch der bebilderte Codex Manesse. Bedenkt man, daß diese Handschriften Unikate und Auftragswerke waren und in ihrer Herstellung sehr aufwendig, was insbesondere für illustrierte Handschriften gilt, so läßt sich daraus eine gewisse Wertschätzung[44] der jeweils eingetragenen Autoren und damit der dort abgespeicherten Information ableiten. Gutenbergs Erfindung macht fixierte Literatur reproduzierbar. Diese Arbeit soll zeigen, warum dieser Unterschied ein Grund zur Annahme ist, daß eine illustrierte Sammelhandschrift eine andere Art von Medium darstellt als ein bebildertes gedrucktes Buch.

2 Medienwandel: Oralität – Skriptographie – Typographie

2.1 Oralität

2.1.1. Mündlich tradierte Information und ihre Kodierung

Der Buchdruck steht am Ende eines Medienwandels, der sich über das ganze Mittelalter hingezogen hat und der in mehreren klar von einander abgrenzbaren Stufen[45] verlaufen ist. Der unmittelbare Vorläufer des Buchdrucks, der Typographie, ist die Skriptographie, also das handschriftliche Fixieren von Information. Doch noch bevor sich die Handschrift als Medium etabliert hatte, gab es eine Möglichkeit, Information zu speichern und zu tradieren. Dies geschah mündlich und der Speicher war das „natürliche Gedächtnis“[46]. Diese Art von Informationsverarbeitung und –verwaltung wird als Mündlichkeit oder auch Oralität bezeichnet. In diesem Abschnitt wird gezeigt, wie Information mündlich verwaltet wurde und welche Art von Information dies war. So soll ersichtlich werden, was das Spezifische an der Oralität ist und damit der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Oralität als eigenständiges Medium gegenüber der Skriptographie und der Typographie gelten kann.

Geht man davon aus, daß jede Art von Informationsspeicherung an einen von den Speichermedien fest vorgegebenen Rahmen[47] gebunden ist, so läßt sich folgern, daß Information in dem einen Medium auf eine andere Weise festgehalten werden muß, als in einem anderen Medium. Dabei bezeichnet der Rahmen zum einen das Material des Mediums[48] und definiert zum anderen die Möglichkeiten, die für die Informationsspeicherung jeweils in Frage kommen. Auch die Art und Weise, auf die die Information abgespeichert wird, ist von diesem Rahmen abhängig. Die von dem materiellen Rahmen definierten Speichermöglichkeiten stellen ein Zeichensystem dar. Die Gesamtheit aller verfügbaren Zeichen werden als Code[49] bezeichnet. Der Code läßt sich auch als „Regelsystem“[50] umschreiben, das den verwendeten Zeichen ihre Bedeutung zuordnet. Diese Arbeit verwendet im weiteren Verlauf das Wort Code in diesem Sinne. Die hier getroffene Definition von Code ermöglicht die folgende Festlegung des Informations- und des Kommunikationsbegriffs:

„Information ist eine Eigenschaft von Materie; Kommunikation die Spur, die Energie hinterläßt. Deshalb sind Information und Kommunikation in dem gleichen Sinne unzerstörbare und unerschaffbare Grundgegebenheiten unserer Welt wie Materie und Energie.“[51]

Das bedeutet für die gesprochene Sprache, sie kann als Spur z.B. direkt im Gedächtnis abgespeichert werden, nicht aber direkt auf Papier, weil Papier als Speichermedium nicht den materiellen Rahmen für gesprochene Sprache bietet. Um Sprache auf Papier zu speichern, bedarf es zusätzlicher Werkzeuge wie z.B. Feder und Tinte. Auch das Zeichensystem der geschriebenen Sprache unterscheidet sich von dem der gesprochenen Sprache. Der Code ist für die gesprochene Sprache also ein anderer als für die geschriebene. Es handelt sich für das eine Medium um den phonetischen und für das andere Medium um den skriptographischen Code.[52]

Folglich hat man auf Papier oder Pergament bestenfalls immer nur eine Simulation von gesprochener Sprache, selbst wenn man z.B. einen gerade vorgetragenen Liedtext oder ein Gespräch unmittelbar mitschreibt.[53] Man sieht hier also, daß die Information nicht als „reine Information“[54] gespeichert werden kann, sondern den Anforderungen des jeweiligen Speichers genügen muß. Hierzu wird die Information diesen Anforderungen angepaßt. Diesen oft sehr komplexen Prozeß bezeichnet man als Kodierung.[55] Den Code kann man als das Handwerkzeug verstehen, mit dem Information mediengerecht bearbeitet wird. So stellt sich nun die Frage, worin die Anforderungen bestehen, die das natürliche Gedächtnis als Rahmen an die ihm übertragene mündliche Information vorgibt. Damit verbunden ist die Frage, wie der Code beschaffen sein muß, der diesem Medium gerecht wird.

In ihrer erst neulich vorgelegten Dissertation[56] macht Meike Remscheid darauf aufmerksam, daß das natürliche Gedächtnis in nicht schriftlichen Kulturen den Zusammenhalt einer Gemeinschaft zu garantieren vermochte und somit eine einende Kraft besaß. Sie trifft diese Feststellung im Zusammenhang mit der Abgrenzung „künstlicher Gedächtnisse“ vom natürlichen Gedächtnis und gelangt zu der Auffassung, das traditionelle Bild vom natürlichen Gedächtnis als 'rettende Kraft', die gerade in vorschriftlicher Zeit das Wissen für die Menschen aufbewahrt habe, sei eine Idealisierung des natürlichen Gedächtnisses[57].

In der Tat gibt es in nicht schriftlichen Kulturen neben dem natürlichen Gedächtnis als Aufbewahrungsort mündlich tradierter Information parallel auch andere Medien wie etwa Tonvasen oder Steintafeln, auf denen bildliche Darstellungen abgespeichert sind.[58] Geht man davon aus, daß diese piktographischen Darstellungen Sachverhalte dokumentieren, die auf irgendeine Weise in die betreffende Kultur eingebettet sind, so kann man vermuten, daß es sich auch bei diesen Quellen außerhalb des natürlichen Gedächtnisses um Information handelt. Ferner wird hier deutlich, daß das natürliche Gedächtnis allein nicht als Speicherraum für Information auszureichen scheint und deshalb zusätzlich andere Medien in Anspruch genommen werden müssen.

2.1.2. Die Schaffensbedingungen oral tradierter Literatur

Die Kenntnis um die Schaffensbedingungen und Baugesetze oral tradierter Literatur sind ein wichtiges Hilfsmittel, um Rückschlüsse darauf zu gewinnen, wie Information, die ausschließlich mündlich fixiert ist, codiert sein muß, damit sie adäquat, d.h. mit möglichst geringem Verlust tradiert werden kann. Deshalb sollen die Schaffensbedingungen und Baugesetze, denen oral tradierte Literatur unterliegt, nun kurz dargelegt werden.

1. Der Erzähler trat als Sänger auf. Er wollte kein Werk schaffen, sondern eine meist anonym überlieferte Erzähltradition fortsetzen. Seine Leistung bestand nicht in der genauen Wiedergabe der Texte und Melodien, sondern darin, wie durch den Vortrag die Tradition zum Ausdruck kam.
2. Das mündliche Epos war kein fest umrissener Text, sondern ein variables Gebilde, vergleichbar dem Witz.
3. Eine mündliche Erzählung bestand aus Versatzstücken, die der Sänger in seinem Umgang mit der Tradition erlernt hatte. Die Anzahl dieser Versatzstücke war für jeden erzählten Stoff begrenzt.
4. Die Entstehung mündlicher Epen fielen mit ihrer Aufführung zusammen und wurden nicht zuvor komponiert. Bedingt durch die äußeren Umstände eines Vortrags variierte die Präsentation des jeweiligen Stoffs in der Länge und der Akzentuierung einzelner Themen.[59]

Diese vier Kriterien lassen Rückschlüsse auf die Art und Weise zu, wie die Information, die etwa in einem Lied fixiert ist, codiert sein muß, damit sie auch jeden, der mit der jeweiligen Kultur vertraut ist, erreicht und über Generationen hinweg tradiert werden kann. Ein Beispiel hierfür ist das mittelalterliche Heldenlied, weil diese Gattung aus einer Zeit stammt, in der nicht-klerikale Literatur noch ausschließlich mündlich tradiert wurde. Außerdem wurden die vermittelten Inhalte als historisch und nicht als Fiktion gewertet[60].

Walter Haug stellt fest[61], daß die Überlieferung der Heldenliteratur „äußerst zählebig“[62] gewesen zu sein scheint. Was bedeutet diese Feststellung aber für die Codierung der Information, die in Heldenliedern enthalten ist? Diese Frage stellt sich insbesondere, weil diese Gattung von der Geistlichkeit, die ihre Literatur im Mittelalter schriftlich fixiert hat, als heidnische „Gegenliteratur“[63] angesehen wurde. Ein wichtiger Bestandteil der Codierung ist sicher die Tatsache, daß Faktizität und Fiktionalität[64] nicht von einander abgegrenzt waren. Denn es ging um die Tradierung hergebrachter Werte und nicht um die Frage, ob das gesagte der Wahrheit entspricht oder nicht. In diesem Sinne ist oral tradierte Information verlustfrei. Die „Versatzstücke“, aus denen eine mündliche Erzählung bestand, können somit als die Einheiten gelten, in denen die zu tradierende Information codiert war.

2.1.3. Mündlichkeit und Bildlichkeit: Bilder im Kopf

In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche Rolle Bilder bei der mündlichen Tradition gespielt haben könnten. Der Grund dafür, bis zurück an die Anfänge der Weitergabe von Information zu gehen, liegt zum einen darin, zu untersuchen, warum sich die Tradition der oral überlieferten Literatur so lange halten konnte, ohne daß der Stoff offenbar nennenswert verändert wurde. Zum anderen hat die vorliegende Arbeit das Anliegen, den Text-Bild-Zusammenhang eines typographisch erstellten Speichers darzustellen. Die Typographie ist somit das Produkt eines Medienwandels, der die Fixierung und Weitergabe von Information auf sprachlicher wie auch auf bildlicher Ebene gleichermaßen betrifft.

Die Vorläufer der Typographie, die Skriptographie und die Oralität, hatten seinerzeit dieselbe Bedeutung für die Menschen wie die Typographie ab dem Zeitpunkt ihrer Einführung: Sie waren die jeweils prämierten Medien[65] ihrer Zeit. Der Unterschied zwischen den einzelnen Technologien[66] liegt in den verwendeten Materialien und in der andersartigen Codierung der Information, die es zu transportieren und zu fixieren galt. Hierauf ist in dieser Arbeit bereits hingewiesen worden. Es sind eben die Codierung und die Materialien, die die Bedingungen dafür liefern, daß das „Narrenschiff“nur als gedrucktes Buch möglich ist. Die Abspeicherung der Information, die das „Narrenschiff“ beinhaltet, ist also nur im Rahmen der materiellen Eigenschaften des Typographeums vorstellbar.[67]

Wenn das Typographeum eine „Etappe der Prämierung von Schrift und Visualität“[68] darstellt und wenn erst das Typographeum einen Text-Bild-Zusammenhang erlaubt, wie ihn das „Narrenschiff“ bietet, dann müssen auch im Rahmen der Oralität Bilder vermittelt worden sein. Denn Information kann, wie bereits gesagt, in allen Medien vermittelt werden, wenn sie spezifisch codiert ist. Daher ergibt sich die Frage: Wie war in schriftloser Zeit die Information codiert, die Bilder entstehen lassen konnte? Waren die Bilder in den oben erwähnten „Versatzstücken“, aus denen die Erzählung bestand, enthalten?

Im Zusammenhang mit dem „Narrenschiff“ ergibt sich folgende Möglichkeit: Der Narr als Figurentypus hat eine weit vor die Einführung der Typographie zurück reichende Tradition. Die Eigenschaften, die dem Narren sowohl traditionell als auch im Narrenschiff zugesprochen werden, könnten als „Versatzstücke“ auf Bildebene angesehen werden.

Konkret heißt das: Brant entwirft in seinem Text mit dem dazugehörigen Bildprogramm eine Vielzahl von Narrentypen. Diese Typen definiert er selbst, oft mit der Einleitungsformel versehen: „Der ist eyn narr...“[69] Diese Vorgehensweise der eigenständigen Definitionen von Figurentypen wäre in einer oralen Kultur deshalb nicht denkbar, weil in solchen Kulturen nur allgemein anerkannte Werte vermittelt werden können, die dann im Gedächtnis abgespeichert werden. Das Gedächtnis bildet also den Speicher für die Bildinformation. Zugleich können diese Bilder aber auch abgerufen werden, etwa durch das Hören einer anderen Erzählung.

Eine solche Fülle von Einzelinformationen, wie sie „Das Narrenschiff“ liefert, kann hingegen nicht im Gedächtnis abgespeichert werden. Insbesondere dann nicht, wenn es sich um die speziellen Daten handelt, die ein Einzelner, in diesem Fall Sebastian Brant, erstellt hat. Wie an anderer Stelle dieser Arbeit jedoch noch ersichtlich werden soll, kommt Brant bei seiner Definition der einzelnen Narrentypen nicht ganz ohne die Tradition aus, denn die Narrenfigur ist zur Entstehungszeit des „Narrenschiffs“ nicht neu; neu ist nur, daß ein typographisch erzeugter Informationsspeicher die Narrenfigur auf derartig vielfältige Weise variiert.

Im Zusammenhang mit der Mündlichkeit ist die Umformung des Textes in Bilder in einem anderen Sinn wichtig: Gesprochene Sprache kann Bilder im Kopf entstehen lassen. Gedacht ist hier etwa an die bildliche Sprache der Artus-Epik, der Heldendichtung oder des Nibelungenliedes. Ein weiteres Beispiel für den hier angesprochenen Sachverhalt wäre der Minnesang. In all diesen Gattungen werden allgemein verbindliche Werte mit leicht eingängigen Worten abgerufen, deren Umsetzung man sich leicht bildlich vorstellen kann. Diese visuelle Dimension von Literatur drückt sich technisch gesehen in piktographischer und bildhauerischer Form und semantisch gesehen sinnbildlich aus.[70]

Abb. 1 Holzschnitt Kap. 2 „Narrenschiff“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit der Einführung der Typographie ist die Eigenschaft von Literatur, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, jedoch keineswegs verlorengegangen. Allerdings hat sich der Ursprung und die Art der Bilder geändert. Waren sie zur Zeit der mündlichen Überlieferung symbolischer Natur und das Produkt des „kollektiven Imaginären“,[71] so konnte das Massenmedium Buchdruck die Bilder jedem Einzelnen gleichsam vor Augen führen, so daß das Bildhafte der Literatur individuell und physiologisch durch das Auge wahrnehmbar wurde. Damit fiel die ausschließliche Kollektivität der imaginierten, also inneren Visualität weg. Sie wurde durch eine auch von außen nachvollziehbare Visualität ersetzt.

Die durch den Buchdruck einsetzende Individualisierung der Rezeption von Literatur und die Tatsache, daß das Typographeum Bildspeicher erzeugen konnte, die erheblich leichter zugänglich waren als die bisherigen, schränkte die Beanspruchung des Gedächtnisses als Bildspeicher stark ein. Auch das „kollektive Imaginäre“[72] war deshalb von nun an nicht mehr in dem Maße nötig wie bisher. Die mit der Prämierung des Typographeums einsetzende Visualisierung von Literatur kann somit als wesentlich ausschlaggebend dafür angesehen werden, daß „uns die Fähigkeit abhanden gekommen [ist], in Kategorien mündlicher Tradition zu denken“[73].

Brant liefert im „Narrenschiff“ natürlich zu allererst dadurch, daß er überhaupt die Narrenfigur in de Literatur einführt, ein Beispiel für die Einführung dieser äußeren Visualität: Jeder wußte auch schon vor Betrachten der Bilder im Buch, was ein Narr ist und hatte ein typisches Bild im Kopf. Mit der massenhaften Verbreitung des Textes und dem dazugehörigen Bildprogramm war es Brant jedoch möglich, diese Narrenfigur in allen nur erdenklichen Schattierungen gleichsam auszumalen. Es ging dabei darum, einer großen Zahl von Rezipienten gleichzeitig zu vermitteln, was man sich nach seiner Meinung unter einem Narren vorstellen soll.

Betrachtet man einzelne Kapitel, so fällt auf, daß Brant des öfteren Bezug auf Sprichwörter nimmt und diese illustriert. Als Beispiel sei hier das Kap. 2 „Von guten reten“[74] genannt. Das einleitende Bildmotiv illustriert die damals wohl gängige Redewendung „die Sau zum Kessel stoßen“.[75] Diese Redewendung war verutlich jedem bekannt, aber niemand, der das Bild sah, brauchte es nun mehr über die Imagination abzurufen, um es zu visualisieren, weil das Bild gleich vor Augen war.

Man kann also sagen, daß sich mit dem Massenmedium Typographeum das Bild einem Medienwandel unterzogen hat. Es hat zum einen den Speicher gewechselt und zum anderen den Kommunikationskanal. Wurde das Bild früher im Gedächtnis erzeugt und visuell rezipiert und narrativ reproduziert,[76] so ermöglicht die Typographie mit dem Papier einen greifbaren Speicher als eine Materialisierung des Gedächtnisses und ein direktes Anschauen eines vorab entstandenen Bildes, dessen Inhalt man rezipieren kann, ohne Worte dabei zu hören.

2.2 Skriptographie

2.2.1. Die sozialen Voraussetzungen für die Prämierung der Skriptographie

Im vorigen Abschnitt wurde die mündliche Weitergabe und Speicherung von Wissen untersucht. Das Medium, das für diese Art der Informationsverwaltung in Frage kommt, ist das natürliche Gedächtnis des Menschen. Bei dieser Untersuchung hat sich gezeigt, daß die gesprochene Sprache Bilder im Kopf erzeugen kann, gleichzeitig aber mit einem Minimum an sprachlicher Information, die transportiert und gespeichert werden kann, auskommen muß, um das Gehörte möglichst leicht eingängig zu machen. Denn die Speicherkapazität des natürlichen Gedächtnisses ist verglichen mit anderen Informationsspeichern gering.

Die Skriptographie soll nun als Schlüsseltechnologie[77] vorgestellt werden, die es ermöglicht, Bilder und Texte auch außerhalb des natürlichen Gedächtnisses abzuspeichern. Dabei werden die Konsequenzen, die die Einführung und Prämierung der Skriptographie für Text und Bild als Medien hatte, herausgearbeitet. Wichtig hierbei ist, daß schriftlich fixierte laikale Literatur und damit laikales Wissen nur für den Hof produziert wurde. Da dieses Wissen auch nur am Hof weitergegeben wurde, existierte ein Literaturbetrieb also nur dort. Wie in diesem Abschnitt ersichtlich werden soll, ist die Ausprägung eines Literaturbetriebs durchaus nicht selbstverständlich, sondern es bedarf hierfür besonderer Voraussetzungen, auf die nun im einzelnen einzugehen ist. Außerdem ist die Darstellung des höfischen Literaturbetriebs deshalb von Belang, weil dieser sich in wichtigen Punkten von dem Literaturbetrieb unterscheidet, der später unter den Prämissen der Typographie vorzufinden ist.

Der Begriff Schlüsseltechnologie impliziert immer einen Einschnitt. Denn die Medien, auf die sich dieser Begriff jeweils bezieht, haben stets eine Katalysatorfunktion.[78] Sie bewirken also eine beschleunigte Veränderung der Umwelt. Es geht darum, diesen Einschnitt zu charakterisieren und den Hof als Umwelt[79] für die laikale Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts darzustellen.

[...]


[1] S. Brant: Das Narrenschiff, Vorrede. „Das Vorwort zum Narrenschiff

[2] Ebd., V24-30. gebirst: fehlt

[3] M. Lemmer: Einleitung zum „Narrenschiff“, Ausg. Tübingen 1986, S. VII.

[4] M. McLuhan: Understanding Media. Die magischen Kanäle, S. 244.

[5] S. Brant: Das Narrenschiff, Vorrede, V.26-28. künd. könnte; sieht: sieht; molen: Abbildungen

[6] M. McLuhan: Understanding Media. Die magischen Kanäle, S. 15.

[7] M.Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S.134.

[8] Vgl.: P. Mesenburg: Portolankarten, S. 59-75. Siehe hierzu auch: M. Giese>

[9] F. Reichert: Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie, S. 118.

[10] M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy, S. 117-119.

[11] P. Mesenburg: Portolankarten, S. 59.

[12] Ebd., S. 59-75.

[13] M. McLuhan: Understanding Media.[dt.:] „Die magischen Kanäle, Düsseldorf, Wien 1968.

[14] N. Postman: Amusing Ourselves to Death. New York 1985; hier: dt.: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt/M. 1988.

[15] Ebd., S. 11 ff.

[16] M.McLuhan. Die Magischen Kanäle. S. 21 ff.

[17] Ebd., S. 21-43.

[18] Ebd., S. 22 f.

[19] Ebd., Die Magischen Kanäle. S. 23.

[20] N. Postman, S.11.

[21] Ebd., S.12.

[22] M. McLuhan. S.122-141.

[23] Ebd., S.167. ff. Die Idee, daß Kleidung eine mediale Wirkung hat, wird später u.a. wieder von Bumke aufgegriffen.

[24] M. McLuhan: S. 224 ff.

[25] M.Giese>

[26] Ebd., 23 u.ö.

[27] H. Wenzel: Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. in: Germanistik, 1995, S.123.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 123 f.

[30] M. Giese>

[31] M. McLuhan. Understanding Media.

[32] J.-D. Müller: Das Gedächtnis der Universalbibliothek. In: Böhme, Scherpe (Hg). Literatur- u. Kulturwissenschaften, S. 78-95.

[33] Ebd., S. 78.

[34] Ebd., S. 80.

[35] M. McLuhan. The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto 1962.

[36] H. Wenzel. Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. S. 121.

[37] M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy, ders.: Die Magischen Kanäle.

[38] Vgl.: H. Wenzel. Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. S. 122.

[39] M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy. S. 126-128.

[40] Vgl.: H. Wenzel: Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. S. 121.

[41] M. McLuhan. Die magischen Kanäle. S.244.

[42] J. Bumke: Höfische Kultur, S. 610 f.

[43] Ebd.

[44] F. Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit, S.77.

[45] Vgl. M. Giese>

[46] M. Remscheid: Zwischen Erinnern und Vergessen, S.6.

[47] M. Giesecke. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 58.

[48] M. Giesecke. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 58.

[49] Zur Definition des Code-Begriffs vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S.58. Giesecke differenziert den skriptographischen Code nochmals in div. Codieringssysteme, so bezeichnet er Systeme wie das chinesische Schriftsystem als piktographisches System und hebt es damit von Systemen wie dem lat. Alphabet ab. S.a.a. ebd, S. 30ff.

[50] M. Selig. 'Mündlichkeit' in mittelalterlichen Texten, in: Gleßgen, M. (Hg.). Alte und Neue Philologie, Beiheft zu Bd.8. Tübingen 1997, S.201-224. S.202.

[51] M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 37.

[52] Vgl.: Selig:, S. 202.

[53] Vgl.: Selig:, S. 207.

[54] M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S.22.

[55] Vgl. M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 58 u.ö. s.a.: die Ausführungen von M. Selig zum Code als Regelsystem (wie Fußnote 50).

[56] M. Remscheid: Zwischen Erinnern und Vergessen. Ein Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung. Bochum 1999, S.6.

[57] Ebd.

[58] M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 58.

[59] Vgl.: J. Bumke: Höfische Kultur, S. 610 f.

[60] Vgl.: W. Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität. in: Modernes Mittelalter, S. 376 f.

[61] Ebd.

[62] Ebd., S. 379.

[63] Ebd.

[64] Siehe hierzu: Ebd.

[65] Vgl.: M. Giesecke. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 32. Giesecke verbindet die Durchsetzung der einzelnen Medien mit dem allmählichen Wechsel der Kommunikationskanäle und zeigt, wie der visuelle Kanal gegenüber dem auditiven an Bedeutung gewinnt. Auch in dieser Arbeit wird auf diese Parallelentwicklung noch näher eingegangen.

[66] zum hier verwendeten Wortsinn des Technologie-Begriffs vgl.: Ebd, S. 58.

[67] Vgl.: Ebd, S. 58.

[68] Ebd., S. 32.

[69] Siehe: „Das Narrenschiff“ z.B.: Kap. 3.

[70] Vgl.: G. Bronzini: Schrift plus Bild gleich Mündlichkeit. In: C. Lipp. Medien populärer Kultur. Frankfurt/M. 1995, S. 318-319.

[71] Ebd.: S. 319

[72] Ebd.

[73] J. Bumke: Höfische Kultur, S. 610.

[74] S. Brant: Narrenschiff, Kap. 2. „Von guten reten“: Von guten Räten

[75] S. Brant: Narrenschiff. Reclam. Anm.1, S.15 f.

[76] G. Bronzini, S. 318

[77] M. Giesecke. Der Buchdruck der frühen Neuzeit, S. 56.

[78] Vgl.: Ebd.

[79] vgl.: Ebd., S. 42.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Die Frühzeit des Buchdrucks als Zeugnis eines Medienwandels am Beispiel des Text-Bild-Bezugs im „Narrenschiff“ des Sebastian Brant
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut f. Deutsche Sprache u. Literatur)
Note
2,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
79
Katalognummer
V79833
ISBN (eBook)
9783638804462
ISBN (Buch)
9783638807937
Dateigröße
994 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Brant, Spätmittelalter, Spätmittelhochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Tex-Bild-Bezug, Straßburg, Wiegendruck, Humanismus, Frühdruck frühe Neuzeit, Sebastian Brant
Arbeit zitieren
Gregor Legerlotz (Autor:in), 2000, Die Frühzeit des Buchdrucks als Zeugnis eines Medienwandels am Beispiel des Text-Bild-Bezugs im „Narrenschiff“ des Sebastian Brant, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79833

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