„Bruchstücke" von Binjamin Wilkomirski war bei seinem Erscheinen ein Aufsehen erregendes Buch. Nicht etwa weil man ihm von Beginn an die nachträglich festgestellte Täuschung angesehen hatte, sondern wegen der literarischen Qualität für die das Werk großes Ansehen genoss. Die Rezeption änderte sich jedoch mit dem Auftreten von Fälschungsvorwürfen – allen voran durch Ganzfried1 – die zu einer Skepsis gegenüber dem Autor Binjamin Wilkomirski führte. Die Vorwürfe wurden wissenschaftlich von dem Wiener Historiker Stefan Mächler untermauert, der den „Fall Wilkomirski“ eindrucksvoll aufklärte.2 In dieser Arbeit soll allerdings nicht der Fall um den Betrug oder die Selbsttäuschung durch Binjamin Wilkomirski nachgegangen werden, da Mächler hierzu ein umfangreiches und nicht durch eine Hauptseminararbeit zu bereicherndes Werk abgeliefert hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den weitaus vernachlässigteren Aspekt der Werkinterpretation anzugehen, da nach der Aufdeckung der 'Rezipiententäuschung' das Werk von vielen namhaften Personen diffamiert wurde, ohne auf inhaltliche Aspekte einzugehen.
Hier stellt sich nun die zentrale Frage, mit der sich diese Arbeit beschäftige will: Was machte „Bruchstücke" zu einem literarisch anerkannten Werk und kann diesem auch noch nach dem Skandal in einer vom Autoren getrennten Interpretation ein Wert innerhalb der (Shoa-)Literatur zugesprochen werden?
Inhaltsverzeichnis
I. EinleitungSeite
II. Gattungsspezifische Einordnung des Werkes
1. Was ist ein autobiographischer Text?Seite
2. Die „imaginierte Shoa-Kinderautobiographie“
III. Narrative Besonderheiten bei WilkomirskiSeite
1. Erinnerung über AssoziationSeite
2. Das Erinnern in „Bruchstücke“ und die Gedächtnistheorie
IV. Wodurch unterscheidet sich "Bruchstücke" von anderen Kinderautobiographien der
Shoa-Literatur?
1. Die Kinderperspektive bei Wilkomirski und ihre Funktionalisierung
2. Vergleich der Kinderperspektive bei verschiedenen AutorenSeite
V. Die Diskussion um Wilkomirski – Theorie oder Moral?
VI. Abschließende Auswertung
VII. Literaturverzeichnis
1. QuellenSeite
2. Forschungsliteratur
I. Einleitung
„Bruchstücke" von Binjamin Wilkomirski war bei seinem Erscheinen ein Aufsehen erregendes Buch. Nicht etwa weil man ihm von Beginn an die nachträglich festgestellte Täuschung angesehen hatte, sondern wegen der literarischen Qualität für die das Werk großes Ansehen genoss. Die Rezeption änderte sich jedoch mit dem Auftreten von Fälschungsvorwürfen – allen voran durch Ganzfried[1] – die zu einer Skepsis gegenüber dem Autor Binjamin Wilkomirski führte. Die Vorwürfe wurden wissenschaftlich von dem Wiener Historiker Stefan Mächler untermauert, der den „Fall Wilkomirski“ eindrucksvoll aufklärte.[2] In dieser Arbeit soll allerdings nicht der Fall um den Betrug oder die Selbsttäuschung durch Binjamin Wilkomirski nachgegangen werden, da Mächler hierzu ein umfangreiches und nicht durch eine Hauptseminararbeit zu bereicherndes Werk abgeliefert hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den weitaus vernachlässigteren Aspekt der Werkinterpretation anzugehen, da nach der Aufdeckung der 'Rezipiententäuschung' das Werk von vielen namhaften Personen diffamiert wurde, ohne auf inhaltliche Aspekte einzugehen. Man besann sich des öfteren „nur“ auf den moralischen Standpunkt und die Ungeheuerlichkeit, eine gefälschte Holocaustautobiographie auf den Markt gebracht zu haben.
Hier stellt sich nun die zentrale Frage, mit der sich diese Arbeit beschäftige will: Was machte „Bruchstücke" zu einem literarisch anerkannten Werk und kann diesem auch noch nach dem Skandal in einer vom Autoren getrennten Interpretation ein Wert innerhalb der (Shoa-)Literatur zugesprochen werden? Der Text verfügt – nach Ansicht des Verfassers dieser Seminararbeit – über eine nicht zu unterschätzende literarische Qualität. Diese soll anhand des Primärtextes nachvollzogen werden, indem die narrativen Besonderheiten Wilkomirskis schrittweise analysiert werden. Zuvor wird es jedoch notwendig sein, den Text gattungsspezifisch zuzuordnen, weshalb Definitionen zur „Gattung“ der Autobiographie bemüht werden sollen. „Bruchstücke“ war dem Anschein nach eine Kinderautobiographie, die sich als fiktionale[3] Geschichte herausstellte und dennoch kann sie nicht einfach als solche – wie z.B: Aichingers „Die größere Hoffnung“ - behandelt werden. Welche Einordnung hier als angemessen betrachtet wird und weshalb, soll im weiteren besprochen werden. Der sich anbietende Vergleich von „Bruchstücke“ und anderen Shoa-Kinderautobiographien wird im weiteren Verlauf ebenfalls eine größere Rolle einnehmen. So sollen die Unterschiede zu Kertész „Roman eines Schicksallosen“ und Klügers „weiter leben“ aufzeigen, dass sich bei Wilkomirski neue Facetten innerhalb dieses Themenbereiches auffinden lassen, die möglicherweise der Grund für den anfangs hohen Grad an Begeisterung für dessen Werk gewesen sein könnten.
Abschließend erfolgt vor der endgültigen Auswertung der errungenen Erkenntnisse ein Einblick in die Diskussion um „Bruchstücke“, wobei auch hier nicht im Detail auf den „Fall Wilkomirski“ eingegangen werden soll. Vielmehr besteht hierdurch die Möglichkeit Foucaults weitverbreitete und anerkannte „Autor-Theorie“ kurz vorzustellen, um diese an diesem Exempel anzuwenden bzw. die Möglichkeit der Übertragbarkeit an der Praxis zu prüfen. Ob sich diese Theorie in diesem Fall anwenden lässt, da man bei autobiographischen Werken den Wahrheitsgehalt annimmt, soll Lejeunes „Autobiographischer Pakt“ verdeutlichen...
II. Gattungsspezifische Einordung des Werkes
1. Was ist ein autobiographischer Text ?
Bevor der Versuch unternommen wird Binjamin Wilkomirskis „Bruchstücke“ einer bestimmten literarischen Gattung zuzuordnen, soll vorab die Autobiographie mittels der Definitionen Pascals und Starobinskis näher erläutert werden. Hierbei kann dann folgend die Funktionsweise dieser 'fiktionalen Autobiographie' – „Bruchstücke“ – im Sinne der Theorie aufgezeigt werden. Dies kann wiederum dazu beitragen zu verdeutlichen, weshalb man den Text vor der Enthüllung des Skandals für authentisch hielt.
Pascals Definition der Autobiographie wird hier als einleitender Ansatz dienen, obwohl sich mit diesem Probleme in Bezug der Übertragbarkeit auf die Shoa-Literatur verbinden. Die Unvereinbarkeit seiner Theorie mit den Zeugnissen der Überlebenden des Holocaust liegt in dem Ansatz begründet, dass eine Autobiographie nur dann als Kunstwerk verstanden werden kann, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt: Zum einen beschreibt er in seinem Text „Die Autobiographie als Kunstform“ die „eigentliche Autobiographie“ als
„[...] die Geschichte der Gestaltung einer Persönlichkeit; sie beginnt mit der Kindheit und führt zumindest zu dem Punkt, an dem die Persönlichkeit ihre ureigenste Prägung erhält. [...] Ereignisse werden berichtet, nicht nur weil sie geschehen sind, sondern weil sie zur Bildung des Selbst beigetragen haben: sie werden zu symbolischen Ausdrücken für das Sichtbarwerden des Selbst.“[4]
Zum anderen kann die „Autobiographie als Kunstform“ nur als solche gelten, wenn sie „von Männern anerkannter Größe und Würde“[5] stammt. Dieser künstlerische Ansatz steht im krassen Gegensatz zur Shoa-Literatur - deren Werke als (zum Teil kunstvolle) Autobiographien verstanden werden können. Beide Grundvoraussetzungen werden von dieser nicht abgedeckt. In ihr stellt sich (bei den meisten Werken) nicht der Anspruch auf die Schaffung eines Kunstwerkes und es handelt sich keinesfalls um (erbauliche) Lebensberichte so genannter „Großer Männer“. Vielmehr geht es bei den Berichten der Überlebenden um die Darstellung der versuchten Dekonstruktion des Menschen durch das unmenschliche System des deutschen Nationalsozialismus. Es wird dem archetypischen Muster der Shoa-Literatur folgend, die nicht als Unterhaltungsliteratur konzipiert ist[6], von einem einschneidenden Erlebnis erzählt, aber von keinem positiven – wie bei Pascal zum „Sichtbarwerden des Selbst“ -, sondern von der Verrohung bis zur Auslöschung des Menschlichen schlechthin. Die Erzähler fügen sich der selbst auferlegten Bürde, Sprachrohr für die Masse namenloser Opfer zu sein. Obwohl es also im eigentlichen Sinne um einen autobiographischen Text (Autobiographie = „Selberlebensbeschreibung“[7] ) geht, kann man den Eindruck gewinnen, es werde einem auch die 'jüdische Katastrophe' als ganze beschrieben. So verschwimmt der – bei Pascal ebenfalls grundlegende[8] - individuelle Aspekt der Gattung zum Teil mit dem historischen Bewusstsein Zeuge für die nicht mehr handlungsfähigen Ermordeten zu sein. Diese interessante, wenn auch stark einschränkende (und elitäre), Definition kann durch die aufgezeigte Unvereinbarkeit mit der Shoa-Literatur somit unmöglich herangezogen werden, um „Bruchstücke“ dieser Gattung zuzuordnen, da der Roman für die weitere Betrachtung als zum Kanon der Shoa-Literatur angehörig begriffen wird. Eine hierfür weitaus ergiebigere Definition enthält Jean Starobinskis „Der Stil der Autobiographie“. Bei ihm steht im Vergleich zu Pascal der Wahrheitsgehalt und nicht der künstlerische Anspruch an erster Stelle.[9] Schon hier kann man eine Parallele zu den Schriften der Holocaust-Überlebenden finden, da diese nicht ihr künstlerisches Können in den Vordergrund stellen, sondern die Notwendigkeit, als Überlebende der Nachwelt die Wahrheit über die Judenvernichtung zu berichten! Starobinski räumt selbst ein, dass man die Autobiographie nicht als „geregelte“ Gattung[10] verstehen könne.
„[Sie setze] jedenfalls bestimmte Bedingungen von Möglichkeit als realisiert voraus, die in erster Linie als ideologische (oder kulturelle) Bedingungen erscheinen: Bedeutung der persönlichen Erfahrung, Gelegenheit, den getreuen Bericht darüber jemand anderem anzubieten“.[11]
Diese Voraussetzung trifft, sowohl in kultureller wie auch in ideologischer Hinsicht, auf die Opfer des NS-Regimes zu. Ihren persönlichen Erfahrungen wird eine hohe Bedeutung zuerkannt, die es ihnen wiederum erst erlaubt Beachtung – bzw. Legitimität nach Starobinski[12] - für ihr Anliegen zu erlangen. Es geht nicht um die Geschichte einer berühmten Persönlichkeit, wie nach Pascal, sondern um ein historisches Ereignis aus dem individuellen Blickwinkel eines Zeitzeugen und zwar der Opferseite - was eine andere Perspektive als bei den Siegermächten auch in Hinblick auf die Geschichtsschreibung in die Rezeption eingebracht haben dürfte...In erster Linie betont Jean Starobinski hier „die Legitimität des Ich “[13], wonach man ableiten könnte, dass Wilkomirskis „Schein-Autobiographie“ demnach nicht legitimiert wäre, was bei der Einordnung dieses Textes nach dieser These zu einer Unvereinbarkeit führen muss. Ein Reibungspunkt in Bezug auf die Shoa-Literatur im Allgemeinen, nicht dem Sonderfall „Bruchstücke“, findet sich in dem Ansatz aus dem „Stil der Autobiographie“ der die religiöse Beglaubigung als möglichen Maßstab für die Wahrhaftigkeit ansieht (wenn auch durch sein Beispiel der „Confessiones“ Augustinus eine zeitlich kulturelle Einschränkung vorliegen mag). Religiöse Momente finden sich auch bei den Überlebenden des Holocaust, doch wird hier nicht unbedingt Gott als eine beglaubigende Instanz angeführt, sondern die im Judentum verankerten religiösen Motive bei manchen Autoren in Frage gestellt.[14] Das lässt in diesem Kontext weniger auf eine Instanz der Wahrhaftigkeit, sondern vielmehr auf eine ins Gegenteil verkehrte Korrelation schließen. Interessanterweise findet sich in „Der Stil der Autobiographie“ ein sehr passender Abschnitt, der in der bisher angestrebten Verknüpfung von Starobinskis Text zur Literatur der Shoa hineinpasst. Ähnlich wie bei Pascal wird von einem einschneidenden Erlebnis in der Entwicklung des „Ich“ als Auslöser für das Verfassen einer Autobiographie ausgegangen, jedoch wird dieser Einschnitt nicht notwendigerweise in einen positiv belegten Zusammenhang gestellt. Starobinski stellt fest, dass es „kein hinlängliches Motiv für eine Autobiographie“ gäbe, „wenn nicht in der vorausgehenden Lebensphase eine Veränderung: Bekehrung, Eintritt in ein neues Leben, [...] [zur Hervorhebung kursiv markiert]“ stattgefunden hätte.[15] In der Shoa-Literatur wird vom „Eintritt in ein neues Leben“ erzählt. Von dem Verlust des Alltagslebens durch den Eintritt in den Horror des Konzentrationslagers. Gerade dieser Einschnitt im Leben der Opfer führt zu dem Bedürfnis – und der Notwendigkeit – eine Autobiographie zu schreiben. An diesem Punkt korrespondiert die theoretische Beobachtung Starobinskis mit der Motivation der Überlebenden. Aus den bisherigen Analysen kann folgendes nun geschlussfolgert werden: Pascals Thesen würden den Shoa-Autobiographien zwar nicht ihren autobiographischen Charakter aberkennen, aber diese auch nicht als Kunstformen anerkennen und sie somit aus dem Bereich der so genannten „höheren Literatur“ ausgrenzen. Bedenkt man jedoch, dass aus diesem Kanon mehrere Werke auch wegen ihrer literarischen Qualität entsprechend hoch eingeschätzt werden, lässt sich Pascals Theorie nicht mit der entsprechenden Rezeption einiger Werke vereinbaren. Starobinskis Text bietet hier einen größeren Interpretationsspielraum und verfügt über konkret aufgezeigte Thesen, nach denen die Shoa-Literatur in seine Autobiographie-Definition eingeordnet werden könnte. Im elementaren Bestandteil des „Stils der Autobiographie“ wird die angesprochene Wahrhaftigkeit innerhalb solcher Werke als grundlegende Voraussetzung begriffen - ein Punkt, der sich mit der Intention der „Wahrheitsdokumentierung“ der Holocaust-Überlebenden deckt. Andererseits zeigen einem die beiden von unterschiedlichen Standpunkten ausgehenden Ansätze Pascals und Starobinskis, dass es keine eindeutige Definition für eine „Gattung“ - Autobiographie – gibt (oder geben kann). Es existiert lediglich ein Rahmen von Merkmalen dieser „Gattung“ oder nach den Worten Paul de Mans:
„Empirisch wie theoretisch erweist sich die Autobiographie als ungeeignetes Objekt für eine gattungstheoretische Definition; jeder Einzelfall scheint eine Ausnahme von der Regel zu sein; jeder in Frage kommende Text scheint sich dem Zugriff zu entziehen und in benachbarte oder sogar in ganz fremde Gattungen abzugleiten; […]“[16]
Das eine solche Einsicht „Bruchstücke“ nicht gleich zu einer Autobiographie im Sinne der Shoa-Literatur erhebt, ist wohl offensichtlich...Wie der Text jedoch definiert werden könnte und was ihn von anderen Typen autobiographischer Texte unterscheidet, soll gleich im Anschluss erläutert werden.
2. Die „imaginierte Shoa-Kinderautobiographie“
Für Binjamin Wilkomirskis „Bruchstücke“ kann die auf die Autobiographien der Shoa angewandte „Definition“ Starobinskis – Pascal wird hier aus zuvor genannten Gründen von vornherein nicht in Betracht gezogen – nicht übernommen werden. Auch wenn, wie später noch verdeutlicht werden soll, „Bruchstücke“ dem äußeren Anschein nach der Form der Shoa-Kinderautobiographien entspricht, handelt es sich um keine. Dies gilt vor allem nach der Definition Jean Starobinskis, der der Wahrhaftigkeit eine so große Bedeutung zu spricht. Die Recherchen Stefan Mächlers haben eindeutig bewiesen, dass der Text zwar biographische Elemente aus dem Leben Bruno Grosjeans (der Geburtsname Binjamin Wilkomirskis) enthält, diese aber in eine „Pseudo-Holocaust Autobiographie“ eingespeist wurden.[17] Somit liegt ein Bruch mit dem „Wahrhaftigkeitsprinzip“ Starobinskis vor, womit „Bruchstücke“ für eine solche Zuordnung disqualifiziert wird. Man kann natürlich einwenden, dass dies der gemeinhin anerkannten „Autor“-Theorie Foucaults widerspräche.[18] Aber dies scheint an dieser Stelle unangemessen zu sein, weshalb erst zu einem späteren Zeitpunkt auf diesen Punkt eingegangen werden soll. An dieser Stelle wird das Werk Wilkomirskis dem aktuellen Forschungsstand gemäß in Bezugnahme auf den tatsächlichen Autor hin kategorisch eingeteilt. Andrea Reiter bringt in ihrer abschließenden Auswertung zu Wiikomirskis „imaginierten Text“ die Problematik der Einordnung dessen auf den Punkt:
"Indem Bruchstücke also eine quasi-autobiographische Erzählsituation entwirft und diese durch den geschickten Einsatz narrativer Mittel zu erhärten versucht, besetzt es eine Position, die zwar Gemeinsamkeiten sowohl mit den authentischen Berichten als auch mit den fiktionalen Texten aufweist, keiner der beiden Gruppen aber ganz entspricht. Was alle drei vereint, ist die poetische Strategie des beschränkten Blickwinkels, die allerdings gerade durch die Rezeption der Bruchstücke erhöhte Brisanz erhält."[19]
„Bruchstücke“ wird in dieser Arbeit als „imaginierte Shoa-Kinderautobiographie“ behandelt. „Imaginiert“ nimmt hierbei einen völlig wertungsfreien Platz ein, da dem Autor weder der Vorwurf einer bewussten Täuschung der Öffentlichkeit gemacht wird, noch eine eindeutige geistige Störung feststeht. Diese Zuordnung basiert auf der von Andrea Reiter vorgenommenen Einteilung, in der der Text als „Imaginierte Lagererinnerung“ geführt wird[20] und ergibt sich aus folgenden Feststellungen: Um eine Autobiographie kann es sich schon dem Wortsinn nach nicht handeln, da die angeblichen Erlebnisse nicht mit dem Lebenslauf des Autoren übereinstimmen und es sich somit nicht um eine „Selbsterlebensbeschreibung“ (nach der Übersetzung Jean Pauls) handelt.[21] Von einer „fiktionalen Autobiographie“ kann allerdings in diesem Zusammenhang auch nicht gesprochen werden. Dies setzte voraus, dass der Autor das Werk als solche kenntlich gemacht hätte und z.B. die eigenen Erlebnisse bewusst mit eingeflossen wären. Bei Wilkomirski (alias Grosjean / Dössekker) verschwimmen Fiktion und Realität jedoch in einem solchen Maße, dass dies wiederum ein verzerrtes Vergangenheitsbild von dem Autoren abliefert, der die Wahrhaftigkeit für das Nichterlebte für sich in Anspruch nimmt.[22] Es handelt sich also um keine bewusste, sondern um eine unbewusste Fiktionalität des Textes, was eine Einordnung in diesen Bereich unzulässig erscheinen lässt.[23] Da keine dieser Kriterien bei diesem Text erfüllt werden und ein Bruch mit dem „autobiografischen Pakt“ zwischen Autor und Leser und dem individuellen Erinnern der eigene Geschichte vorliegt – allerdings viele weitere der Anforderungen der „Gattung“ entsprechen[24] – scheint Reiters Zuordnung diesem Werk angemessen zu sein.
„Soweit nun bekannt, fehlt dem Text zwar die biographische Authentizität, eine in der literarischen Darstellung begründete Authentizität der Sache kann ihm aber wohl nicht abgesprochen werden. Wilkomirski hat zwar, aus welchen Gründen immer, den „autobiographischen Pakt" 39) gebrochen, sein Werk hat aber gerade kraft seiner Literarizität Bestand.“[25]
Von dieser „Literarizität“ wird auch in dieser Arbeit ausgegangen. Nachdem nun eine mögliche Kategorisierung für das Werk gefunden wurde - die „imaginierte Shoa-Kinderautobiographie“, soll diese angebliche Qualität des Buches, von der gesprochen wurde, genauer untersucht werden. Daher scheint es sinnvoll auf verschiedene literarische Aspekte der „Bruchstücke“ genauer einzugehen, um anhand dieser rein textuellen - und nicht paratextuellen - Interpretation Wilkomirskis Arbeit zu messen.
[...]
[1] Vgl. Ganzfried, Daniel (2002 b): Wilkomirski, ein Lehrstück aus dem Holocaust-Zirkus.
[2] Vgl. Mächler, Stefan (2000): Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie.
[3] Vgl. Reiter, Andrea: Die Funktion der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocausts. S. 15 – 16.
[4] Vgl. Pascal, Roy (1959): Autobiography as an Art Form. S. 114 - 115.
[5] Ebd., S. 115.
[6] http://www.matthiaskuentzel.de/contents/bruchstuecke-deutscher-normalitaet
[7] http://www.uni-essen.de/einladung/Vorlesungen/washeisst/autobiogr.htm
[8] Vgl. Pascal, Roy (1959): Autobiography as an Art Form, S. 114 – 119.
[9] Vgl. Starobinski, Jean (1970): Le style de l'autobiographie. S. 83 – 98.
[10] Ebd., S. 88.
[11] Ebd., S. 88.
[12] Ebd., S. 88 – 89.
[13] Ebd., S. 88.
[14] Primo Levi z.B. fasst in seinem Buch „Ist das ein Mensch?“ den Gedanken, dass nach Auschwitz eine neue Bibel für das jüdische Volk geschrieben werden müsse (eine quasi-religiöse Aufladung, eine Bibel ohne Gott). Vgl. Levi, Primo (1992): Ist das ein Mensch? Ein autobiografischer Bericht.
[15] Vgl. Starobinski, Jean (1970): Le style de l'autobiographie. S. 90.
[16] Vgl. De Man, Paul (1993): Autobiographie als Maskenspiel. S. 132.
[17] Vgl. Mächler, Stefan (2000): Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. S. 287f.
[18] Vgl. Michel Foucault (1988): Was ist ein Autor ?
[19] Vgl. Reiter, Andrea: Die Funktion der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocausts. S. 16.
[20] Der hier entwickelte Begriff lehnt sich an Reiters Zuordnung des Werkes an, dernach „Bruchstücke“ eine „imaginierte Lagererinnerung“ sei.
Vgl. Reiter, Andrea: Die Funktion der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocausts. S. 14.
[21] http://www.uni-essen.de/einladung/Vorlesungen/washeisst/autobiogr.htm
[22] Vgl. Wilkomirski, Binjamin (1995): Bruchstücke. Aus einer Kindheit. 1939-1948. S. 7 – 8 und S. 142 – 143.
[23] www.fbi.fh-koeln.de/institut/personen/schikorsky/Material/sach-fachliteratur-2006.ppt
[24] Ebd.
[25] Vgl. Reiter, Andrea: Die Funktion der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocausts. S. 15.
- Arbeit zitieren
- Alexander Hoffmann (Autor:in), 2006, Wilkomirsiks „Bruchstücke“ - Über das Werk und seine Rezeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80218
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