De Gaulles langer Schatten – Frankreichs gespaltenes Verhältnis zur NATO


Seminar Paper, 2001

24 Pages, Grade: sehr gut


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. De Gaulle, Souveränität und Unabhängigkeit

3. Frankreich und die USA: Gegenspieler?

4. Der Austritt aus dem militärischen Arm der NATO
4.1 Differenzen in der Allianz in den 60er-Jahren
4.2 Frankreichs schleichende Distanzierung
4.3 „Der Coup gegen die NATO“

5. Frankreich und die Allianz zwischen 1966 und 1997
5.1 Erste Annäherungsversuche
5.2 Intensive Zusammenarbeit nach de Gaulle

6. NATO-Reform: Die Chance zur Rückkehr Frankreichs

7. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als 1994 Jacques Chirac Präsident der Französischen Republik wurde, war eine seiner ersten Amtshandlungen eine große Atombomben-Testserie auf dem zu Frankreich gehörenden Mururoa-Atoll. Die europäischen Partner, zumindest die Mehrheit der eher pazifistisch geprägten Bevölkerung war empört, glaubte man doch, nach der erst vier Jahre alten Überwindung des alten Blocksystems der Welt nun in eine immerwährende Periode des Friedens eingetreten zu sein.

Doch ging es Chirac wahrscheinlich weniger um eine wissenschaftliche Erprobung und Weiterentwicklung seiner „force de frappe“, als vielmehr um eine Demonstration von Stärke. Die Funktionsfähigkeit der von seinem sozialistischen Vorgänger François Mitterrand mit weniger Aufmerksamkeit bedachten Atomwaffen sollte von ihm, dem Parteigänger des von Charles de Gaulle gegründeten Rassemblement pour la République (RPR), demonstriert und so der Weltöffentlichkeit in Erinnerung gerufen werden, dass Frankreich unter den westlichen Staaten einer der mächtigsten, weil eine der drei westlichen Atommächte, ist.

Was im Grunde mehr eine „Muskelschau“ als ein Akt der Aggressivität in Zeiten der zumindest europaweiten Entspannung war, fügt sich nahtlos ein in das Gebaren vor allem der gaullistischen Präsidenten Frankreichs. Die Tradition des Generals wahrend, wollte Chirac die militärische Macht und Kraft Frankreichs unter Beweis stellen, um seine bedeutende Rolle nicht nur innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sondern vielmehr innerhalb des westlichen Bündnisses NATO zu unterstreichen. In ihm verfügten und verfügen noch heute nur die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich über atomare Waffen und zumindest Frankreich kann – ein Detail von ungemeiner Wichtigkeit – souverän darüber verfügen. Ob es den anderen passt oder nicht.

Woher der Stolz des westlichen Nachbarn Deutschlands rührt und wohin er im Laufe der Geschichte der NATO führte, möchte diese Arbeit ergründen. Dabei geht es nicht nur um einen chronologischen Abriss der Geschehnisse, sondern vor allem um den Versuch einer Analyse sowohl der Ideen und sicherheitspoltischen Maximen des übermächtigen Vaters der Fünften Republik, Charles de Gaulle, als auch der Tragweite ihrer Beeinflussung der französischen Präsidenten in allen Entscheidungen in Bezug auf die NATO und die nationale Verteidigung vom Austritt Frankreichs aus dem militärischen Arm der nordatlantischen Allianz bis zu ihrer Strukturdiskussion der Jahre 1994 bis 1997.

2. De Gaulle, Souveränität und Unabhängigkeit

Bedingt durch die Erfahrungen, die Frankreich mit seinem östlichen Nachbarn Deutschland gemacht hatte, hatte es nach dem zweiten Weltkrieg ein sehr hohes Sicherheitsbedürfnis. Deutschland sollte „klein gehalten“ und mit allen erdenklichen Mitteln integriert und damit kontrollierbar werden.

Mit de Gaulle trat ein Mann für die Sicherheit Frankreichs ein, dessen politisches Handeln stark durch seinen militärischen Erfahrungshorizonzt geprägt war. Sein Hauptaugenmerk galt den französischen Streitkräften, die nie mehr überrollt werden sollten.[1]

Für ihn stellte die „Verteidigung [...] (den) Kernbereich nationalstaatlicher Aufgaben“[2] dar. Der Gedanke, dass man seine Streitkräfte in irgendeiner Form unter ein nicht-nationales Kommando stellen könne, wie es die Struktur der NATO vorsah, missfiel ihm zutiefst. Der NATO-Beitritt Frankreichs war 1949 unter Präsident Auriol erfolgt. De Gaulle hingegen war der Ansicht, dass „die vornehmste Pflicht einer souveränen Nation darin besteht, sich selbst zu verteidigen und zu diesem Zweck eine ausschließlich nationalem Kommando unterstellte Armee zu unterhalten“[3]. Denn nur die absolute Souveränität ermögliche einem Land das Höchstmaß an Sicherheit.[4] Mit der NATO war diese absolute Souveränität nicht zu erreichen, da „Solidarität mit den Verbündeten [...] stets das Ergebnis einer freien Willensentscheidung“[5] sein sollte und nicht eine vertraglich fixierte Selbstverständlichkeit.

Als absoluten Garanten für die Unabhängigkeit pries de Gaulle die atomaren Waffen als „arme de l’indépendance“[6]. Frankreich sollte nach seinem Willen durch den Aufstieg zur Atommacht auch zu den Weltmächten aufschließen: „La grandeur, c’est le chemin qu’on prend pour se dépasser“[7]. Die Gefahr, dass diese Selbstaufwertung auch eine Selbstüberschätzung sein konnte, entzog sich de Gaulles Wahrnehmung, die einen anderen Blickwinkel hatte. Für ihn war Frankreich nicht das durch Deutschland besiegte Land, das durch die Engländer und Amerikaner wieder befreit wurde, sondern das trotz der Amerikaner und Engländer befreit wurde. Dies war seiner Meinung nach durch sein Insistieren, die Deutschen zuerst aus Frankreich zu vertreiben und den auf die Befreiung folgenden raschen Aufbau einer neuen französischen Staatsordnung durch ihn geschehen.[8] Die Aussage „La France a été traité comme un paillasson“[9], gibt de Gaulles Einschätzung der Behandlung Frankreichs durch die Amerikaner wider. Aus diesem Grund nahm er auch niemals an einem Gedenktag zum D-Day in der Normandie teil.[10]

Seit seiner Rückkehr aufs politische Parkett betrieb de Gaulle vor allem zwei Dinge mit Nachdruck: Die Entwicklung der französischen Atomwaffen und einen schleichenden Rückzug aus der NATO. „Nous pouvons, donc nous devons fabriquer des bombes A“[11] war seine Losung. Dabei betonte er immer wieder, dass es ihm nicht ausschließlich um eine Profilierung Frankreichs als Großmacht gehe, wie etwa Franco vermutete, der ihn als „kleinen Napoleon“[12] bezeichnete. Vielmehr stellte die atomare Bewaffnung Frankreichs für ihn „die Unverwundbarkeit und damit den Frieden“[13] dar.

Als erste Anzeichen für den Rückzug aus der militärischen Integration der Allianz kann der folgende Ausspruch des Präsidenten gewertet werden: „Après avoir donné l’indépendance à nos colonies, nous allons prendre la nôtre“[14], ganz außer Acht lassend, dass die Kolonien diese Unabhängigkeit hart gegen französischen Widerstand erkämpft hatten. Es liegt außerdem nahe zu vermuten, dass der Verlust der Kolonien, der sich im Maghreb-Krieg schmerzhaft und kostenintensiv manifestiert hatte, de Gaulle nach Erfolgen auf anderen Ebenen suchen ließ. In der Unabhängigkeit von der NATO und damit von den Angelsachsen glaubte er das Mittel für diese Erfolge gefunden zu haben.

3. Frankreich und die USA – Gegenspieler?

In Kissingers Buch „Was wird aus der westlichen Allianz?“[15] lautet eine Kapitelüberschrift „Gegenspieler: Frankreich und die Verenigten Staaten“. Diese Formulierung Kissingers – als Aussage, nicht als Frage – belegt, dass Frankreich und die USA für ihn zum Zeitpunkt 1965 ganz eindeutig die Gegenspieler in der NATO darstellten.

Was bestärkte Kissinger in dieser Annahme? Frankreich und die USA beschuldigten sich in den 60er-Jahren gegenseitig, die Allianz als Deckmantel zur Errichtung und Stärkung der eigenen Vormachtstellung zu missbrauchen.[16] Während die USA ihren Anspruch auf eine Führungsrolle in der NATO auf ihren Einsatz bei der Befreiung Europas vom Hitler-Regime begründeten, warfen sie Frankreich vor, sich bei ihrer Anspruchsbegründung auf vergangenem Ruhm zu stützen.[17] Dieser „Ruhm“ war in militärischer Hinsicht außerdem umstritten: der deutsch-französische Krieg 1870/71 endete mit einer Niederlage, der Erste Weltkrieg begann mit der Invasion Deutschlands und wurde dann auf französischem Territorium ausgefochten, im Zweiten Weltkrieg wurde Frankreich besiegt und konnte sich nicht selbst befreien und die aufreibenden Kolonialkriege in Indochina und später in Nordafrika wurden mit großen Verlusten verloren. Insofern sahen sich die USA im Recht, wenn sie eine Vormachtstellung für sich in Anspruch nahmen im Gegensatz zu Frankreich, das nach Louis XIV und Napoléon militärisch wenig erfolgreich gewesen war.

Während in den Nachkriegsjahren, zu Zeiten der Vierten Republik, die Zusammenarbeit noch geprägt war von der Gemeinsamkeir der Anti-Hitler-Koalition, markiert für Kissinger vor allem de Gaulles Rückkehr an die Macht den Beginn der französisch-amerikanischen Verstimmungen.[18] Und in der Tat war vor allem er es, der durch seine offen zur Schau gestellte Angelsachsen-Phobie das Verhältnis zwischen Frankreich, Großbritannien und vor allem den USA stark belastete. Der erste Schritt zur Entfremdung zwischen Frankreich und den USA war das „Non“ des Präsidenten zum EWG-Beitritt Großbritanniens 1963.[19] Es folgte eine Reihe von verbalen und politischen Provokationen, wie de Gaulles legendärer Québec-Besuch mit dem Ausspruch „Vive le Québec libre!“, der gemeinhin als Aufruf zum Schutz vor amerikanischen Einflüssen gewertet wird,[20] oder seine Annäherungsversuche an die UdSSR und sogar China. Da Pekings Verhältnis zu Moskau 1964 sehr gespannt war,[21] stellte sich de Gaulle vor, dass „der Stellenwert Frankreichs im Rahmen der westlichen Welt dem Chinas innerhalb der kommunistischen Welt vergleichbar würde“[22]. Auch die offene Kritik an amerikanischen Militäraktionen, ob in San Domingo 1965 oder während des gesamten Vietnamkrieges, gehören in diese Reihe von Affronts gegen die Vereinigten Staaten. Selbst eine Hegemonie Amerikas auf wirtschaftlichem und technologischem Gebiet war für ihn, selbst wenn sie Frankreich zum Vorteil gereichen konnte, nicht akzeptabel.[23]

Die genauen Ursachen dieser von de Gaulle forcierten Rivalität sind in ihrer Komplexität nur schwer ergründbar. Wahrscheinlich jedoch ist, dass der General die amerikanische Vorherrschaft auf dem alten Kontinent nicht nur aus kulturellen Gesichtspunkten (Amerikanisierung Europas) fürchtete, sondern auch, weil dies den Briten als engsten Vertrauten der Amerikaner ein zu starkes Gewicht innerhalb Europas verliehen hätte. Denn deren starken Anlehnungswillen an die USA hatte ihm noch Churchill zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs offenbart: „Quand nous aurons à choisir entre les Français et les Américains, nous préférerons toujours les Américains.“[24] Das hätte im Zuge der Stärkung und des Zusammenwachsens Europas eine ständige amerikanische Präsenz bedeutet – eine für de Gaulle offensichtlich unannehmbare Vorstellung.

Und so ist es wenig verwunderlich, dass de Gaulle postulierte: „Entre nous et les Américains, [...] c’est la lutte.“[25] Frankreich sei das einzige Land, das sich den Europavorstellungen der USA nicht widerstandslos beuge, weshalb diese beschlossen hätten, es hart zu bekämpfen. Für Frankreich lasse dies nur den Schluss zu, dass die USA das Land verlassen müssten.[26] Ein Ziel, das de Gaulle fortan anstrebte.

4. Der Austritt aus dem militärischen Arm der NATO

Wenn der Austritt der Französischen Republik aus der militärischen Integration der NATO immer mit März 1966 angegeben wird, berücksichtigt die Reduzierung auf diesen konkreten Zeitpunkt nicht die im Vorfeld bereits existierenden Dissonanzen zwischen den Partnern und die Faktoren, die die Entscheidung de Gaulles zum Austritt forcierten. Im Folgenden wird diese bedeutende Entwicklung in Form einer Dreiteilung näher beleuchtet.

[...]


[1] Vgl. Peyrefitte, Alain: C’était de Gaulle, Bd. 3, Paris 2000, S. 38.

[2] Schmitt, Burkard: Frankreich und die Nukleardebatte der Atlantischen Allianz, in: Militärgeschichtliche Studien Bd. 36, München 1998, S. 227.

[3] Joas, Ralf: Zwischen Nation und Europa, Diss., in: Politikwissenschaftliche Paperbacks Bd. 27, Bochum 1994, S. 73.

[4] Vgl. Peyrefitte, de Gaulle 3, a.a.O., S. 186.

[5] Schmitt, Nukleardebatte, a.a.O., S. 227.

[6] Peyrefitte, Alain: C’était de Gaulle, Bd. 2, Paris 1997, S. 112.

[7] Ebd., S. 91; (etwa: Grandeur ist das Mittel, sich abzusetzen).

[8] Vgl. Peyrefitte, de Gaulle 2, a.a.O., S. 85. Der General weist darauf hin, dass er „mes commissaires de la République, mes préfets, mes sous-préfets, mes comités de libération“ (Hervorhebung durch den Autor) eingesetzt habe und somit verhindert habe, dass Amerikaner und Engländer wie ein erobertes Land behandelten. Er weist darauf hin, dass bereits eine allierte Militärregierung im besetzten Land für Frankreich vorgesehen und vorbereitet war.

[9] Ebd., S. 84; (etwa: Frankreich wurde behandelt wie ein Fußabtreter).

[10] Vgl. ebd., S. 86.

[11] Peyrefitte, de Gaulle 3, a.a.O., S. 167.

[12] Zit. nach ebd., S. 211.

[13] Vgl. ebd., S. 148.

[14] Peyrefitte, de Gaulle 2, a.a.O., S. 15; (etwa: Nachdem wir unseren Kolonien die Unabhängigkeit geschenkt haben, werden wir uns unsere eigene nehmen.).

[15] Kissinger, Henry A.: Was wird aus der westlichen Allianz?, Düsseldorf 1965.

[16] Vgl. Kissinger, Was wird?, a.a.O., S. 44 f.

[17] Vgl. ebd., S. 45.

[18] Vgl. ebd., S. 54.

[19] Vgl. ebd.

[20] Vgl. Grosser, Alfred: Frankreich und seine Außenpolitik 1944 bis heute, München 1986, S. 260 f.

[21] Der chinesisch-sowjetische Konflikt gipfelte 1969 in einer militärischen Konfrontation im Grenzgebiet.

[22] Ebd., S. 259; vgl. auch Peyrefitte, de Gaulle 2, a.a.O., S. 63: Nur China und Frankreich seien fähig, unabhängige Politik zu betreiben, weil sie über Atomwaffen verfügen und sich nicht ihrem jeweiligen „Bündnis-Führer“ unterstellten.

[23] Vgl. dazu Peyrefitte, de Gaulle 2, a.a.O., S. 74: Die Telefongesellschaft Québecs hatte der französischen „P et T“ angeboten, sie technologisch zu unterstützen. Da sie aber mehrheitlich der amerikanischen Telefongesellschaft „Bell“ gehörte, lehnte de Gaulle ab. Das französische Telefonsystem blieb so noch einige Jahre veraltet.

[24] Ebd., S. 84 (etwa: Wenn wir zwischen Franzosen und Amerikanern zu wählen haben, werden wir immer die Amerikaner bevorzugen.).

[25] Ebd., S. 67 (etwa: Zwischen uns und den Amerikanern herrscht ein Kampf.).

[26] Vgl. ebd.

Excerpt out of 24 pages

Details

Title
De Gaulles langer Schatten – Frankreichs gespaltenes Verhältnis zur NATO
College
University of Bonn  (Seminar für Politische Wissenschaft)
Course
Proseminar: Von der EPZ zur ESVP – Europa auf dem Weg zu einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik?
Grade
sehr gut
Author
Year
2001
Pages
24
Catalog Number
V802
ISBN (eBook)
9783638105163
ISBN (Book)
9783638636964
File size
487 KB
Language
German
Keywords
NATO, Frankreich, Sicherheitspolitik
Quote paper
Sebastian Kölsch (Author), 2001, De Gaulles langer Schatten – Frankreichs gespaltenes Verhältnis zur NATO, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/802

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