Das Motiv des „heiligen Narren” am Beispiel der Figur des Azarías in dem Roman "los santos inocentes" von Miguel Delibes


Seminararbeit, 2005

25 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Azarias- „heiliger Narr“ oder „Unschuldiger“ – eine etymologische und kulturhistorische Einordnung

3. Azarías „heiliger Narr“ und „unschuldiger“ Tyrannenmörder - eine narrative Analyse
3.1 Azarías – Erscheinungsbild, Lebensweise und Charakteristika
3.2 Azarías und sein Verhältnis zu Natur und Tierreich
3.3. Azarías und sein Verhältnis zu den Herrschenden

4. “Los santos inocentes“ als Metapher auf das politische System und später Ausläufer der Zensur- ein Deutungsversuch

5. Schlussbemerkung

6.Literaturverzeichnis

„Was die Welt für nichtig hält hat Gott erwählt, um die Weisen zu beschämen.“

(Paulus im 1. Brief an die Korinther)

1. Einleitung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Analyse der Figur des Azarías in dem von Miguel Delibes 1981 zum ersten Mal veröffentlichten Roman „Los santos inocentes“. „dudo mucho que en mis libros haya un solo héroe; todos son antihéroes, pero, al mismo tiempo, todos están envueltos en una cálida mirada de comprensión.“[1]

Gerade das Spannungsverhältnis zwischen der Ablehnung, die ein vor sich hin sabbernder Antiheld, ein sich in die Hände pinkelnder alter Einfaltspinsel, der Vögel verehrt und mit Menschen nicht klar kommt, hervorruft, und dem tiefen menschlichen Verständnis, das er beim Leser evoziert, macht ihn in seiner Polarität zu einem lohnenden Untersuchungsgegenstand. Beide Eigenschaften - das Provozieren von Verachtung, Mitleid, Ablehnung und das Evozieren eines positiven und über Mitleid hinausgehenden Verständnisses - beide Eigenschaften sind Azarías mit dem Prototypen des „heiligen Narren“ gemeinsam und machen ihn zu einem solchen- zu einem „santo inocente“.[2] Dies jedenfalls ist die These, auf der der vorliegenden Arbeit zugrundeliegt.

Der Diskurs um die santos inocentes, die heiligen Narren oder auch holy fools, existiert nicht nur in der Literatur, sondern in der gesamten europäischen Kultur- und Geistesgeschichte bereits seit Beginn des Mittelalters.[3] Was schon dem Motiv des mittelalterlichen Hofnarren als Grundgedanke inhärent war, expliziert Erasmus von Rotterdam spätestens in der Renaissance in seinem „Lob der Torheit“:

„Ich kenne keine Schminke, und mein Gesicht verbirgt nicht, wie es in meinem Inneren aussieht. Ich bleibe mir, auch bei meinen Verächtern, so treu, dass selbst diejenigen meiner Anhänger mich nicht verleugnen können, die sich Aussehen und Ansehen eines ´Weisen´ verschafft haben, dennoch aber eher Affen gleichen, die in Purpur gewickelt sind, oder Eseln, die sich im Löwenfell verstecken. Mögen sie sich noch so beflissen verstellen, ein Paar Eselsohren wird doch stets sichtbar bleiben und den Midas verraten.“[4]

Dieses Paradoxon ist der Gedanke, der - wie hier nachgewiesen werden soll - auch in Delibes´ Werk steckt: „Wenn alle Menschen Toren sind, ist der richtige Narr der einzige vernünftige Mensch.“[5]

Delibes zeigt in „Los santos inocentes“ die himmelschreienden Ungerechtigkeiten zwischen sozialen Klassen auf: Die fehlende Sorge der Herren für die Dienerschaft, die fortgesetzte Demütigung der Unterworfenen und die Resignation der Mitglieder unterer Klassen, die ihre unmenschlichen Lebensbedingungen widerstandslos akzeptieren. In dieser Hinsicht haben wir es mit einem Sozialdrama zu tun. Zu Beginn soll untersucht werden, wie das Motiv der „santos inocentes“ entstanden ist und welche Hintergründe es hat. Die intertextuellen Bezüge, welche aus der Motivgeschichte heraus hergestellt werden könnten, sind zu zahlreich, als dass mit ihrer Darstellung auch nur annähernd ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden könnte. Es kann sich daher bei der etymologischen und kulturhistorischen Einordnung zu Beginn nur um eine exemplarische Darstellung ausgewählter Elemente handeln.

Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt der Text näher darauf untersucht werden, anhand welcher Techniken Delibes den „santo inocente“ Azarías im zugrunde liegenden Text narrativ inszeniert. Abschließend wird der Versuch einer Deutung unternommen.

2. Azarias- „heiliger Narr“ oder „Unschuldiger“ – eine etymologische und kulturhistorische Einordnung

Der Fokus dieses Abschnitts liegt auf einer Frage, die bereits durch den Titel des Romans aufgeworfen wird. Ist Azarías ein „heiliger Narr“ oder Einfaltspinsel oder ein heiliger Unschuldiger? „Los santos inocentes“ wurde auf unterschiedliche Weise übersetzt und interpretiert. Die einen sehen im Titel eine Anspielung auf den Kindermord des Herodes. Naheliegend wäre dieser Bezug allein deswegen, weil er der im Sprachgebrauch präsenteste ist. Grund dafür ist, dass in Spanien bis heute der 28. Dezember als „Día de los Santos Inocentes“ begangen wird. An diesem Tag wird alljährlich der (unschuldigen) Kleinkinder von Bethlehem gedacht, die laut Matthäusevangelium auf Befehl König Herodes des Großen nach Jesu Geburt ermordet wurden. Der Gedenktag wurde seit dem Mittelalter in ganz Europa mit Narrenspielen begangen. In Spanien ist der „Día de los Santos Inocentes“ noch heute Anlass, seine Mitmenschen durch erfundene oder verfälschte Geschichten hereinzulegen, wie man es etwa in Deutschland am ersten April zu tun pflegt.[6]

Mag es auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass ein so tragischer Tag mit einem so fröhlichen Fest begangen wird, so wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass die in diesem Erklärungsversuch enthaltenen Elemente über sich selbst hinaus auf zwei Facetten weisen, die die Phrase „Los santos inocentes“ als Romantitel impliziert. Im Großwörterbuch von Pons[7] ist unter „inocente“ als erste Wortbedeutung „unschuldig“ verzeichnet. Unschuldig im Sinne von „sin culpa“, so wie es die Kinder sind, die der machtbesessene Herodes auf der Suche nach dem König töten lässt, den er als Bedrohung der eigenen Stellung fürchtet. Eine weitere Wortbedeutung geht in Richtung „naiv, einfältig“ (ingenuo). Naiv oder einfältig im Sinne des auf den Narrenspielen am Tag der unschuldigen Kinder auftretenden Gauklers oder des Opfers der an diesem Tag üblichen Scherze. Auch wortgeschichtlich besteht bereits seit dem Mittelalter eine Verbindung zwischen beiden Konnotationen:

„Während die mittelalterliche Kirche den vorgetäuschten Irrsinn als Mittel der Verhöhnung, wie z.B. beim Narrenfest, verdammte, verehrte sie umgekehrt den Wahnsinn in seiner wirklichen Gestalt. Besonders wenn er die Züge des Unschuldigen oder des ´Armen im Geiste´ annahm, der vom Bösen (und daher auch vom Gute)n nichts weiß, da ihm die Natur den Vernunftgebrauch versagt hat. Falls erforderlich liefert uns die Etymologie den Beweis: crétin (dt. Kretin, Schwachsinniger) bedeutet nichts anderes als crétien (dt. Christ); das alte crestian heißt cagot (dt. Frömmler), und benêt (dt. Einfaltspinsel) kommt direkt von benedictus.“[8]

„Der ´santo inocente´ ist der naive, gutmütige Tollpatsch, der vom Cleveren hereingelegt wird,“[9] schreibt Neuschäfer. Und fügt hinzu: „Der geistig behinderte Azarías ist darüber hinaus wirklich ´unschuldig, dazu noch fast Santo, ein Heiliger, wie der Heilige Franziskus.“[10] Beide Wortbedeutungen stehen nicht losgelöst voneinander; wieder ist der Bezug ein biblischer. In der Bergpredigt steht geschrieben:

«Bienaventurados quienes tienen alma de pobres, porque de ellos es el Reino de los cielos. Bienaventurados los mansos, porque ellos heredarán la tierra. Bienaventurados los afligidos, porque ellos serán consolados. Bienaventurados los que tienen hambre y sed de justicicia, porque ellos serán saciados […] »[11]

Gerühmt werden also die Einfältigen, die sanftmütig ihr Leid tragen, unter Ungerechtigkeiten leiden und die trotz ihrer geistigen und geistlichen Armut eine reine Seele bewahrt haben. Sie sind beides: „inocente“ im Sinne von „ingenuo“, aber auch „inocente“ im Sinne von „sin culpa“.

Um diese Ambiguität soll es in der vorliegenden Arbeit gehen. Das Motiv der „santos inocentes“, der „heiligen Narren“[12] eröffnet einen weiten Diskurs um Themen wie den Umgang mit Obrigkeit und Macht, Rebellion und Schuld. Dem bekannten Clown Johannes Galli verdanken wir den Hinweis, dass das Wort "Clown" aus dem Lateinischen stamme; `colonus´ bedeutet ‚der Landbewohner'. Gemeint sei also der Tölpel vom Lande, der die neuen Regeln, die eine städtische Gesellschaft entwickelt, nie begreifen kann. Der Clown ist in der Stadt so hilflos, wie das Herz hilflos den Konstruktionen des Verstandes gegenübersteht.[13] Er verfängt sich tragisch und scheinbar rettungslos in den Wirrungen des denkenden Geistes, das Leiden und der Schmerz daran werden spürbar, bis sie überraschend in dem befreienden Lachen gipfeln.

Um die dem Titel inhärente Vielschichtigkeit auch historisch überblicken zu können, ist ein kurzer Exkurs in die Geschichte des Narren und des Narrenmotivs unerlässlich. So alt wie die Geschichte der Menschheit, so alt ist wahrscheinlich auch der Archetyp des Narren.

Der Narr erscheint zwiespältig: Zum einen als Gestalt aus dem Reich der Schatten als Krüppel, Dummkopf, Tor, kurz als Ausbund der Verfehltheit. Der seit etwa 1200 gebräuchliche Begriff Narr bedeutete ursprünglich wohl verwachsene Frucht bzw. verwachsene menschliche Kreatur, der die Ebenbildlichkeit Gottes fehlte, der keinen Anteil an der Gotteserkenntnis hatte und Gott verneinte. Er wurde aus der Gesellschaft ausgegrenzt und in den Narrenturm in der Stadtmauer gesperrt, um seinen schädlichen Einfluss zu verhindern. Der Narr war der Irre, der dem Irr-tum unheilbar Verfallene. Der Narr war der Outcast, der Nicht-dazu-Gehörige, der Gefährliche, der zu Isolierende, der unschädlich zu Machende.[14]

[...]


[1] De los Ríos, César. 1996. «Miguel Delibes: novelista de antihéroes». En Revista Universitaria No 54, S. 54.

[2] Der berühmte Clown Stefan Schlenker schreibt in seinem Vortrag: Der Clown, Geschichte, Entstehung, Entwicklung: „Bereits in der Antike hatten die komischen Figuren im Theater eine sehr deutliche Doppelnatur. Zum einen waren sie Spötter, die sich mit ihrem Schabernack und beißenden Spott gegen Obrigkeiten auflehnten, zum anderen waren sie die Verspotteten, die wegen ihres entstellten und verkrüppelten Äußeren verlacht wurden und oft nicht bei Sinnen waren.“ (http://www.clowns.cd/geschichte-clownerie.pdf, 12.01.2005).

[3] Länger noch, wenn man an den biblischen Diskurs denkt; im neuen Testament taucht der Gedanke des heiligen oder weisen Narren bereits an den verschiedensten Stellen auf (s. auch unten).

[4] Rotterdam, Erasmus v.: Lob der Torheit, übers. u. Hrsg.: U. Schultz, Frankfurt a. M. 1979, S. 109.

[5] Lever, Maurice: Zepter und Schellenkappe, Zur Geschichte der Hofnarren. Frankfurt am Main

1992, S. 141.

[6] Aus diesem Grunde trat auch die spanische Verfassung erst am 29. Dezember 1978 in Kraft, einen Tag später als ursprünglich vorgesehen.

[7] Pons Großwörterbuch für Experten und Universität, Spanisch- Deutsch/Deutsch- Spanisch.

[8] Lever, Maurice: Zepter und Schellenkappe. Frankfurt am Main 1983, S. 19.

[9] Neuschäfer, Hans-Jörg: Macht und Ohnmacht der Zensur: Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976). Stuttgart 1991, S. 75.

[10] Ebd.

[11] Sagrada Biblia,Herder Alianza Editorial, 1998, Mateo 5, 3-16. (Übersetzung: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden [...]“. Aus: Antiqua- Taschenbibel. Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1972.)

[12] So auch der Titel der hier verwendeten deutschen Ausgabe. Sie wurde von Curt Meyer- Clason übersetzt. Delibes, Miguel: Die heiligen Narren, Berlin 1989.

[13] Vgl. Schlenker, Stefan: Der Clown, Geschichte, Entstehung, Entwicklung, http://www.clowns.cd/geschichte-clownerie.pdf, 12.01.2005.

[14] Vgl. Porep, Rüdiger: Editorial in: advaitaJournal Vol. 6 „Der heilige Narr“, Frühjahr/Sommer 2002, S. 2.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das Motiv des „heiligen Narren” am Beispiel der Figur des Azarías in dem Roman "los santos inocentes" von Miguel Delibes
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Romanistik)
Veranstaltung
Miguel Delibes y la novela en la España franquista y democrática
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V80422
ISBN (eBook)
9783638870887
ISBN (Buch)
9783638886628
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Motiv, Narren”, Beispiel, Figur, Azarías, Roman, Miguel, Delibes, Miguel, Delibes, España
Arbeit zitieren
Nadine Stern (Autor:in), 2005, Das Motiv des „heiligen Narren” am Beispiel der Figur des Azarías in dem Roman "los santos inocentes" von Miguel Delibes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80422

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