Gesellschaftlicher Aufstieg und Sinnkrise in Charles Dickens’ "Great Expectations"


Tesis (Bachelor), 2006

55 Páginas, Calificación: 1,0

Anónimo


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. Erste Etappe: Pips Suche nach dem Ich
2.1. Kindheit: Unschuldig schuldig
2.2. Die Ambitionen erwachen

3. Zweite Etappe: Aufstieg zum Gentleman und Sinnkrise
3.1. Entfernung vom Ich: Pip, der Snob?
3.2. Fremdbestimmung und Liebe

4. Dritte Etappe: Neuorientierung und Rückkehr

5. Die zwei Romanenden

6. Schlussbetrachtung: Great Expectations, ein moralisches Märchen

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als Great Expectations im Dezember 1860 in Charles Dickens’ Zeitschrift All the Year Round zu erscheinen begann, befand sich Dickens in seinem achtundvierzigsten Lebensjahr und hatte bereits zwölf Romane veröffentlicht. Für viele seiner Biographen ist der Umstand, dass in Great Expectations ein abgeklärter Mann in den mittleren Jahren als Ich-Erzähler die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugendjahre rekapituliert, ein Hinweis darauf, dass Dickens mit dem Roman versuchte, seine eigene Kindheit zu verarbeiten. Die ungefähre Übereinstimmung der Lebensdaten Pips und der von Dickens sowie der Umstand, dass der Roman zum Teil offenbar in den Städten Chatham und Rochester in Kent spielt, wo Dickens aufgewachsen war, lässt viele Kritiker davon ausgehen, dass Great Expectations zumindest bis zu einem gewissen Grad autobiographisch angelegt ist.[1]

Im Roman wird eine Zeitspanne von etwa siebzehn Jahren abgedeckt; die Haupthandlung lässt sich zwischen 1812 und 1829 einordnen. Zwischen den Jahren, die im Roman behandelt werden und den Veröffentlichungsjahren 1860/61 fanden in Großbritannien Zeiten der politischen Unruhen, Sozial- und Legislativreformen, finanzielle und landwirtschaftliche Krisen, eine sich verstärkende Industrialisierung, eine nie zuvor gekannte Bevölkerungsexplosion und eine rapide Urbanisierung statt. All diese Ereignisse verwandelten die stagecoach world des Jungen Pip in das technologisch fortgeschrittene, kapitalistische und imperialistische England der 1860er. Es bleibt festzuhalten, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Zeit relativen Wohlstands, politischer Ruhe und des Fortschrittsglaubens wurde. Die Mitglieder der Mittelschicht erkannten ihren wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft, ihre Moralkonzeptionen weiteten sich auf andere Klassen aus und sie waren sicher, dass die schlimmste Zeit hinter ihnen lag. Obwohl sich einige Kritiker uneins darüber sind, inwiefern sich die tatsächlichen sozialen Umstände des Regency und des viktorianischen Englands in Great Expectations widerspiegeln, ist es eindeutig, dass im Roman sozialer Aufstieg und eine Verbesserung des Lebensstandards thematisiert werden – Prozesse, die Dickens’ eigenes Leben geprägt haben. Obwohl Great Expectations in Krisenzeiten spielt, richtete sich der Roman mit seinen gesellschaftskritischen Aussagen an das Publikum der 1860er Jahre.[2]

Mit Blick auf den Plot wird deutlich, dass es sich bei Great Expectations um einen klassischen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts handelt. Im Mittelpunkt steht die geistige und gesellschaftliche Entwicklung eines begabten jungen Mannes, der vom Land in die Stadt zieht, in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigt und vom Zustand der Unschuld in den der Erfahrung übergeht.[3] Aufgrund der Tatsache, dass es dem Protagonisten zwar gelingt, von einem Mitglied der lower class in die obersten Ränge der Gesellschaft aufzusteigen, sich dieses Streben jedoch in Dickens’ Augen als nicht der Mühe wert herausstellt, bezeichnen einige Kritiker Great Expectations auch als ein umgekehrtes Märchen.[4]

Dickens hat die Geschichte Pips in drei Phasen eingeteilt, die deutlich eine dialektische Entwicklung aufweisen: Zunächst lernt der Leser den Jungen Pip in seiner natürlichen Umgebung auf dem Land kennen, wo sein Verhalten unschuldig und instinktiv ist. In der zweiten Phase wird seine kindliche Einfachheit negiert, als Pip seine „Erwartungen“ erwirbt, sich von seinen Ursprüngen lossagt und in die Stadt zieht. Je höher er gesellschaftlich aufsteigt, desto stärker verfallen seine moralischen Werte. Plötzlich aber kommt es zum Absturz, als Pip die Identität seines wahren Gönners erkennt. In der dritten Phase kehrt er, nach langer Krankheit moralisch geläutert, zu seinem Geburtsort zurück, wirft die „Erwartungen“ ab und akzeptiert seinen beschränkten Stand in der Gesellschaft.[5]

Diese Arbeit möchte die Entwicklung Pips kritisch nachvollziehen und folgt in ihrem Aufbau Dickens’ Dreiteilung des Romans – wobei die im Roman genannten stages von Pips „Erwartungen“ als die grundlegenden Etappen seines Reifeprozesses wahrgenommen werden. Besonderes Augenmerk soll im Verlauf der Arbeit auf die Frage nach der Schuld Pips und das von Dickens vertretene Gentleman-Ideal gelegt werden.

2. Erste Etappe: Pips Suche nach dem Ich

2.1. Kindheit: Unschuldig schuldig

My first most vivid and broad impression of the identity of things, seems to me to have been gained on a memorable raw afternoon towards evening. At such time I found out for certain, that this bleak place overgrown with nettles was the churchyard; and that Philipp Pirrip, late of this parish, and also Georgiana wife of the above, were dead and buried; and that Alexander, Bartholomew, Abraham, Tobias, and Roger, infant children of the aforesaid, were also dead and buried; and that the dark flat wilderness beyond the churchyard, intersected with dykes and mounds and gates, with scattered cattle feeding on it, was the marshes; and that the low laden line beyond, was the river; and that the distant savage lair from which the wind was rushing, was the sea; and that the small bundle of shivers growing afraid of it all and beginning to cry, was Pip.[6]

Pip erlangt auf dem Friedhof am Grab seiner Eltern das erste Mal ein Bewusstsein für die Beschaffenheit der Welt um ihn herum, als er die Landschaft betrachtet und die verschiedenen Dinge darin miteinander vergleicht.[7] Zuletzt wird er sich seiner selbst bewusst; schockiert von der neu erlangten Fähigkeit der Reflexion und der sich daraus ergebenden Erkenntnis seiner Einsamkeit in der Welt, beginnt er zu weinen.

Pip erfasst die Welt von Beginn an als den Ort seiner Isoliertheit und des Kummers; die Erzählung identifiziert seine Vater- und Mutterlosigkeit als einen Bestandteil seines Ichs. Es ist wichtig anzumerken, dass Pip an dieser Stelle verschweigt, dass er ein Zuhause bei Joe und Mrs. Gargery hat: Dies ist für die Konstruktion seines Selbstbildes nicht so wichtig, wie der Umstand, dass er eine Waise ist.[8] Die Tristesse des Schauplatzes potenziert das Gefühl der Einsamkeit, die den Jungen Pip in Tränen ausbrechen lässt. Genau in diesem Augenblick erscheint Magwitch, der Sträfling, „from among the graves“[9] und befiehlt Pip, still zu sein. Der Umstand, dass Magwitch wie ein Geist hinter den Grabsteinen von Pips Eltern hervorkommt, kann als eine Vorausdeutung der späteren Beziehung zwischen den beiden gelesen werden: Magwitch übernimmt im weiteren Verlauf des Romans die Rolle von Pips totem Vater.[10] Er packt den Jungen, untersucht ihn auf Nahrung, indem er ihn auf den Kopf stellt und droht, ihn umzubringen, wenn der Junge ihm keine Feile für seine Fußkette und Lebensmittel besorgt. Während er von Magwitch verkehrt herum gehalten wird, sieht Pip die Welt für einen Moment aus einem neuen Blickwinkel.

The man, after looking at me for a moment, turned me upside down, and emptied my pockets. There was nothing in them but a piece of bread. When the church came to itself – for he was so sudden and strong that he made it go head over heels before me, and I saw the steeple under my feet – when the church came to itself, I say, I was seated on a high tombstone, trembling, while he ate the bread ravenously. [...] He gave me a most tremendous dip and roll, so that the church jumped over its own weather-cock.[11]

Magwitch nimmt dem Jungen das Versprechen ab, ihn mit dem Gewünschten zu versorgen und ein zu Tode erschrockener Pip kehrt nach Hause zurück, wo seine Schwester Mrs. Gargery und ihr Mann Joe eingeführt werden. Mrs. Gargery fühlt sich durch ihre häusliche Rolle eingeengt und zieht beständig jedermanns Aufmerksamkeit auf ihr Schicksal: „she asked Joe why he hadn’t married a Negress Slave at once?“[12] Das Bild von ihrer Gefangenschaft in der Ehe wird durch den Umstand, dass sie keinen eigenen Namen zu besitzen scheint, noch verstärkt. Dickens bezeichnet sie stets als „Mrs. Joe“ oder „Mrs. Gargery“. Dennoch versucht Mrs. Gargery zwanghaft, die häusliche Eintönigkeit zu durchbrechen, indem sie, ihre Lage dramatisierend, als zänkischer und gewalttätiger „Hausdrache“ Pip und Joe drangsaliert.[13]

Magwitch verkompliziert Pips problematische Beziehung zu seiner Schwester, als er Pip dazu bringt, sie zu bestehlen. Ihre Gewohnheit, Pip als Bürde anzusehen, ist verantwortlich für seinen Schuldkomplex: Nach dem Diebstahl, den er aus Barmherzigkeit und Todesangst begangen hat, sieht er sich bereits selbst als Verbrecher.[14] Dabei wird für den Leser deutlich, dass die Begleitumstände des Diebstahls Pip von seiner eingebildeten Schuld entlasten: Magwitch droht dem Jungen schließlich, ihn bei lebendigem Leib aufzuessen, er erzählt die Lüge, er habe einen „omniscient, omnipresent young demon friend“[15], den er nur mit Mühe zurückhalten könne und der sicherstellen wird, dass Pip die Tat auch ausführt. Pips Furcht vor den Konsequenzen unterlassener Hilfeleistung wirkt natürlich auf den Leser wie ein mildernder Umstand.

Mrs. Gargerys häufigste Anschuldigung ist, dass Pip undankbar sei, obwohl sie ihn „by hand“ – mit der Flasche – aufgezogen habe.

“If it warn’t for me, you’d have been to the churchyard long ago, and stayed there. Who brought you up by hand?”

“You did,” said I.

“And why did I do it, I should like to know!” exclaimed my sister.

I whimpered, “I don’t know.”

I don’t!” said my sister. “I’d never do it again!”[16]

Hinzu kommt, dass Mrs. Gargery gewöhnlich eine Schürze mit einem Latz trägt, in dem Nadeln stecken. Es wäre ein sinnloses Bestreben, an ihrer Brust Trost zu suchen.[17] Anstatt Pip Zuneigung oder Geborgenheit zu geben, lässt sie ihm regelmäßig eine Behandlung mit dem „Tickler“, einem an der Spitze gewachsten Rohrstock, angedeihen.[18]

Während seiner ganzen Kindheit wurde Pip eingebläut, dass er eine unerträgliche Bürde für Mrs. Gargery darstellt – sie beschuldigt ihn sogar des „Verbrechens“, am Leben zu sein: „I was always treated as if I had insisted on being born, in opposition to the dictates of reason, religion, and morality, and against the dissuading arguments of my best friends.”[19] Dieser Topos zieht sich durch den gesamten ersten Teil des Romans.

“He was a world of trouble to you, ma’am,” said Mrs. Hubble, commiserating my sister.

“Trouble?” echoed my sister; “trouble?” and then entered on a fearful catalogue of all the illnesses I had been guilty of, and all the acts of sleeplessness I had committed, and all the high places I had tumbled from, and all the low places I had tumbled into, and all the injuries I had done myself, and all the times she had wished me in my grave, and I had contumaciously refused to go there.[20]

Die Misshandlungen durch seine Schwester haben ihm einen stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit gegeben. Er fühlt die Ungerechtigkeit, wird aber durch sein Naturell gezwungen, sich unterzuordnen, anstatt Mrs. Gargery den Kampf anzusagen.[21]

My sister’s bringing up had made me sensitive. In the little world in which children have their existence whosoever brings them up, there is nothing so finely perceived and so finely felt, as injustice. [...] Within myself, I had sustained, from my babyhood, a perpetual conflict with injustice. I had known, from the time when I could speak, that my sister, in her capricious and violent coercion, was unjust to me. I had cherished a profound conviction that her bringing me up by hand, gave her no right to bring me up by jerks. Through all my punishments, disgraces, fasts and vigils, and other penitential performances, I had nursed this assurance; and to my communing so much with it, in a solitary and unprotected way, I in great part refer the fact that I was morally timid and very sensitive.[22]

Auch Mrs. Gargerys Freunde, besonders Mr. Wopsle, ein Küster mit Schauspielambitionen, und Uncle Pumblechook, der selbstgefällige Getreidehändler, lassen kein gutes Haar an Pip. Er sei „naterally wicious“[23] – sie behandeln ihn, als sei er ein Gegenstand oder ein Tier, als neige er zu Verbrechertum und Sünde und als sei sein Schicksal bereits festgelegt. Sie sorgen dafür, dass er sich schuldig und wertlos fühlt, damit sie sich tugendhaft und bedeutend vorkommen können.[24] So zum Beispiel beim Weihnachtsessen, als Pumblechook und Wopsle vehement erklären, dass Pip zu Gefräßigkeit neige und implizieren, dass er die Nahung auf seinem Teller nicht verdient habe.

Mr. Pumblechook added, after a short interval of reflection, “Look at Pork alone. There’s a subject! If you want a subject, look at Pork!”

“True, sir. Many a moral for the young,” returned Mr. Wopsle; and I knew he was going to lug me in, before he said it; “might be deduced from that text.”

(“You listen to this,” said my sister to me, in a severe parenthesis.)

Joe gave me more gravy.

“Swine,” pursued Mr. Wopsle, in his deepest voice, and pointing his fork at my blushes, as if he were mentioning my Christian name; “Swine were the companions of the prodigal. The gluttony of Swine is put before us, as an example to the young.” (I thought this pretty well in him who had been praising up the pork for being so plump and juicy.) “What is detestable in a pig, is more detestable in a boy.”

“Or girl,” suggested Mr. Hubble.

“Of course, or girl, Mr. Hubble,” assented Mr. Wopsle, rather irritably, “but there is no girl present.”

“Besides,” said Mr. Pumblechook, turning sharp on me, “think what you've got to be grateful for. [...] I mean, enjoying himself with his elders and betters, and improving himself with their conversation, and rolling in the lap of luxury.”[25]

Indem Pumblechook Pip im weiteren Verlauf des Gesprächs mit einem Schwein gleichsetzt, das geschlachtet wird, evoziert er die Identifizierung Pips mit einem Kriminellen, der für seine Taten hingerichtet wird: „he would have shed your blood and had your life. No bringing up by hand then. Not a bit of it!“[26]

Pips ist aber kein Verbrecher; er besitzt vielmehr eine mitfühlende Menschlichkeit, die unter anderem an der Stelle zum Ausdruck kommt, als er Magwitch die versprochenen Vorräte bringt. Magwitch zittert am ganzen Leib vor Kälte und Pip sagt:

“I think you have got the ague,” said I.

“I'm much of your opinion, boy,” said he.

“It's bad about here,” I told him. “You've been lying out on the meshes, and they're dreadful aguish. Rheumatic too.”[27]

Van Ghent hebt hervor, dass Magwitchs Herumdrehen Pips im ersten Kapitel die invertierte Perspektive des Romans versinnbildlicht. Pip, der als schwacher, zu klein geratener Siebenjähriger ein Bild der Unschuld darstellt und unfähig ist, etwas Böses zu tun, wird vom Anbeginn seiner Selbsterkenntnis mit Schuld belastet.[28] Er betrachtet seine Umwelt und sieht, dass fast alle Erwachsenen ungerecht und korrupt sind, aber die Erwachsenenwelt beteuert, es sei alles in Ordnung. Pip erkennt, dass Mrs. Gargery grausam, selbstsüchtig und halb verrückt ist; ihre Freunde sehen eine hingebungsvolle Ehefrau und Wirtschafterin und einen fürsorglichen Vormund für Pip. Auch später im Geschehen wird sich dieses Schema wiederholen: Pip erkennt, dass Pumblechook, Wopsle, Miss Havisham und Jaggers moralisch verdorben sind, die Welt erkennt es nicht.[29] „The child sees truly; adults have learnt so see falsely.“[30]

Der einzige Erwachsene im ersten Teil, auf den dies nicht zuzutreffen scheint, ist Pips Schwager Joe. Pip bezeichnet ihn als „mild, good-natured, sweet-tempered, easy-going“ und „foolish“.[31] Er ist Pips einziger Verbündeter im täglichen Kampf mit Mrs. Gargery, ein „fellow-sufferer“[32], und wie Pip erkennt auch er die Menschlichkeit Magwitchs an. Als Magwitch Pips Diebstahl deckt und vorgibt, die Speisekammer der Gargerys selbst geplündert zu haben, erteilt ihm Joe eine Absolution:

“So,” said my convict, turning his eyes on Joe in a moody manner, and without the least glance at me; “so you’re the blacksmith, are you? Than I'm sorry to say, I’ve eat your pie.”

“God knows you’re welcome to it – so far as it was ever mine,” returned Joe, with a saving remembrance of Mrs. Joe. “We don’t know what you have done, but we wouldn’t have you starved to death for it, poor miserable fellow-creatur. – Would us, Pip?”[33]

Joe kann nicht lügen; er ist schockiert, als Pip ihm nach seinem ersten Besuch in Satis House erklärt, er habe die meisten Details seines Erfahrungsberichtes gegenüber Pumblechook und Mrs. Joe frei erfunden.

“It’s a terrible thing, Joe; it ain’t true.”

“What are you telling of, Pip?” cried Joe, falling back in the greatest amazement. “You don’t mean to say it’s–“

“Yes I do; it’s lies, Joe.” [...]

As I fixed my eyes hopelessly on Joe, Joe contemplated me in dismay. “Pip, old chap! This won’t do, old fellow! I say! Where do you expect to go to?”

“It’s terrible, Joe; an’t it?”

“Terrible?” cried Joe. “Awful! What possessed you?”[34]

Aber letztendlich lügt auch Joe, aber aus Güte. Er besteht gegenüber Pip darauf, dass sein Vater ein guter Mensch gewesen und dass auch Mrs. Gargery „a fine figure of a woman“[35] sei. Er sieht nichts Böses in den Menschen und ist deshalb auch nicht in der Lage, Pips Weltsicht zu bestätigen, er kann nicht aufbegehren: „he [...] reinforces the lesson of the Pumbleshookian perspective: a good person wouldn’t feel what Pip is feeling“.[36]

Pips Weltsicht ist „naturally true [and] just“, wohingegen Joe als „good“ beschrieben wird.[37] Rawlins sagt dazu:

For Dickens, the essential act of goodness is Joe’s dead wrong insistence that his father was a good man [...]. The goodness is all in Joe, who imposes it on the world by the simple act of assuming it. Pip is immune to this kind of goodness in the beginning, as he makes clear in his response to Joe’s judgement of his father – the man wasn’t good, and nothing can make Pip overlook that.[38]

Pip ist nicht „gut“ wie Joe. Als Mrs. Gargery stirbt, gedenkt er nicht ihrer Tugenden, mögen sie auch noch so gering gewesen sein, sondern er erinnert sich an das Leid, das ihm von ihr zugefügt wurde: „the times when I was a little helpless creature, and my sister did not spare me, vividly returned“.[39]

Es ist nur natürlich, dass die ständige Kritik an Pip ihn letztendlich sehr empfänglich für die Verlockung seiner „großen Erwartungen“ macht, denn sie versprechen ihm ein Entrinnen von den Menschen, die nur seine naturgegebene Bösartigkeit sehen.[40] Die Tatsache, dass Dickens Pip entweder mit nüchterner oder zugespitzt ironischer Distanz von seinem Kindheitsleiden berichten lässt, ruft beim Leser eine tiefe Sympathie für den Jungen hervor. Für den Leser uninteressantes Selbstmitleid ist bei seinem Erfahrungsbericht nicht zu erkennen, vielmehr würzt Dickens Pips Geschichte mit einer großen Prise Humor.

2.2. Die Ambitionen erwachen

Pips Wille, mehr aus sich zu machen, als er ist, zeigt sich bereits in Kapitel 7. Man erfährt, dass Pip die Abendschule von Mr. Wopsles Großtante besucht, er dort aber nicht die Bildung erhält, die seinem „Wunsch, klüger zu werden“[41] entspricht – eigentlich lernt er an dieser frustrierenden und unzureichenden Bildungseinrichtung so gut wie gar nichts. Dickens handhabt Pips Bestreben auf mitfühlende, humorvolle Weise.

Mr. Wopsle’s great-aunt kept an evening school in the village; that is to say, she was a ridiculous old woman of limited means and unlimited infirmity, who used to go to sleep from six to seven every evening, in the society of youth who paid twopence per week each, for the improving opportunity of seeing her do it.[42]

Ihre Enkelin Biddy hilft Pip schließlich dabei, sich das Alphabet anzueignen. Mit ihrer Unterstützung lernt er, im bescheidenen Maßstab zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Als Pip Joe eines Abends, ungefähr ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Magwitch, einen selbstverfassten Brief vorlegt, ist dieser über die Gelehrigkeit Pips erstaunt und bewundert hingebungsvoll Pips noch sehr rudimentäre Fähigkeit, zu schreiben. Pip möchte sich selbst kultivieren – zwar wird noch nicht gesagt, dass er danach strebt, ein Gentleman zu werden, aber seine Absicht, sich durch Selbststudium weiterzubilden, ist bereits erkennbar.[43]

“I say, Pip, old chap!” cried Joe, opening his blue eyes wide, “what a scholar you are! An’t you?”

“I should like to be,” said I, glancing at the slate as he held it: with a misgiving that the writing was rather hilly. [...] I leaned over Joe, and, with the aid of my forefinger, read him the whole letter.

“Astonishing!” said Joe, when I had finished. “You ARE a scholar.”

“How do you spell Gargery, Joe?” I asked him, with a modest patronage.

“I don't spell it at all,” said Joe. [...] I derived from this last, that Joe’s education, like Steam, was yet in its infancy.[44]

Bereits jetzt behandelt Pip Joe mit „milder Herablassung“, weil dieser nie gelernt hat, mehr als seinen eigenen Namen zu lesen. Pips weiterer Lebensweg entscheidet sich an dieser Stelle, als er erfährt, warum Joe nicht lesen kann.[45] Joe nennt seinen gewalttätigen Vater als Ursache und fährt fort, indem er erklärt, wie er Pips Schwester kennenlernte und dass ihre Bemühungen, Pip „by hand“ aufzuziehen, von allen Leuten sehr bewundert wurden und dies einen so großen Eindruck auf ihn machte, dass er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Doch müsse er sich heute sehr vorsehen, denn Mrs. Gargery sei „given to government“ und alle Unternehmungen, sich fortzubilden, müssten „on the sly“ durchgeführt werden.[46]

[...]


[1] Brooks-Davies, Douglas (1989), Charles Dickens, ‘Great Expectations’, Penguin Critical Studies, London: Penguin, S.1ff. So hat auch die Schuhcremefabrik, in der Dickens als Kind arbeiten musste, in Great Expectations einen kurzen Auftritt. Joe sagt im Kapitel 27: „‘me and Wopsle went off straight to look at the Blacking Ware’us. But we didn’t find that it come up to its likeness in the red bills at the shop doors.’“ Rosenberg, Edgar (Hrsg.) (1999), Charles Dickens, ‘ Great Expectations’: Authoritative Text, Backgrounds, Contexts, Criticism, Norton Critical Edition, New York: Norton, Kapitel 27 [Im Folgenden abgekürzt durch GE].

[2] Carlisle, Janice, “Introduction: Biographical and Historical Contexts”, in: Janice Carlisle (Hrsg.) (1996), ‘ Great Expectations’, Case Studies in Contemporary Criticism, Boston u.a.: Bedford Books.

[3] Pips sozialer Aufstieg in Great Expectations wird von den meisten Kritikern mit seinem moralischen Versagen gleichgesetzt und der Roman als moral fable angesehen. Stange, Robert, „Expectations Well Lost: Dickens’ Fable for His Time“, in: Michael Hollington (Hrsg.) (1995), Critical Assessments, Volume III, Mountfield, near Robertsbridge: Helm Information, S. 517. „ Great Expectations is conceived as a moral fable; it is the story of a young man’s development from the moment of his first self-awareness, to that of his mature acceptance of the human condition.“ Ebd. S. 518.

[4] Meckier, Jerome (1987), Hidden Rivalries in Victorian Fiction, Lexington: University Press of Kentucky, S. 123. „Dickens writes an inverted fairytale, in which the idea that money makes the man, is a difficult lesson for a prospering nation to digest.“

[5] Stange 1995: 517. Die Gründe für Pips freiwilliges Exil in Kairo sollen im Punkt 4. betrachtet werden.

[6] GE, Kap. 1, S. 9f.

[7] Connor, Steven, „The Imaginary and the Symbolic in Great Expectations “, in: Roger D. Sell (Hrsg.) (1994), Charles Dickens, ‘ Great Expectations’, Basingstoke: Macmillan, S. 167.

[8] Phelan, James, „Reading for the Character and Reading for the Progression: John Wemmick and Great Expectations “, in: Roger D. Sell (Hrsg.) (1994), Charles Dickens, ‘ Great Expectations’, Basingstoke: Macmillan. Vgl. Stange 1995: 519.

[9] GE, Kap. 1, S. 10.

[10] Schwarzbach, F. S. (1979), Dickens and the City, London: The Athlone Press, S. 184f. Vgl. Hagan, John H., Jr., „The Poor Labyrinth: The Theme of Social Injustice in Dickens’ Great Expectations “, in: Michael Cotsell (Hrsg.) (1990), Critical Essays on Charles Dickens’ ‘ Great Expectations’, Critical Essays on British Literature, Boston: Hall, S. 62. Hagan merkt an, dass man Magwitchs geisterhaftes Erscheinen mit seiner symbolischen Rückkehr in die Gesellschaft gleichsetzen könne: „Magwitch, in relation to the ‘respectable’ orders of society, is dead: immured in the Hulks or transported to the fringes of civilisation, he is temporarily removed from active life. But when in the opening scene of the book he rises from behind the tombstone, he is figuratively coming back to life again.“

[11] GE, Kap. 1, S. 10f. Eine Interpretation dieses Absatzes wird weiter unten gegeben.

[12] GE, Kap. 12, S. 79. Vgl. GE, Kap. 2, S. 13: „She made it a powerful merit in herself, and a strong reproach against Joe, that she wore this apron so much“, S. 23: „‘Perhaps if I warn’t a blacksmith’s wife, and (what’s the same thing) a slave with her apron never off, I should have been to hear the Carols.’“

[13] Frost, Lucy, „Taming to Improve: Dickens and the Women in Great Expectations “, in: Roger D. Sell (Hrsg.) (1994), Charles Dickens, ‘Great Expectations’, Basingstoke: Macmillan, S. 61f. Frost sieht Mrs. Gargerys Verhalten als neurotisch an und sie vermutet, dass Mrs. Gargerys manische Putzwut auf sexuelle Frustration zurückzuführen sei, da sie einen Mann geheiratet hat, der eher ein Kind zu sein scheint: „sexless and dependable“. Ebd. S. 61. Die Geschlechterrollen in der Gargery-Ehe sind vertauscht: Joe ist sanft und mitfühlend, seine Frau herrschsüchtig und dominant. Mrs. Gargery: „I wish I was his master.“ GE, Kap. 15, S. 92. Zu der offensichtlichen Männlichkeit Mrs. Gargerys siehe auch Pearlman, Elihu „Inversion in Great Expectations “, in: Michael Hollington (Hrsg.) (1995), Critical Assessments, Volume III, Dickens’ Later Work: Assessments Since 1870, Mountfield, near Robertsbridge: Helm Information, S. 552-554.

[14] Als Pip und Joe von der Weihnachtsmesse wiederkehren, glaubt Pip, dass zu Hause ein Polizist auf ihn wartet, der ihn für seinen Diebstahl verhaften wird. GE, Kap. 4, S. 22.

[15] Schwarzbach 1979: 185.

[16] GE, Kap. 2, S. 14.

[17] Ebd. S. 12. Vgl. Hobsbaum, Philip (1972), A Reader’s Guide to Charles Dickens, London: Thames and Hudson, S. 223.

[18] GE, Kap. 2, S. 13.

[19] GE, Kap. 4, S. 24. Vgl. Pearlman 1995: 551. „Pip [...] starts life with a full knowledge of depravity and a conviction of sin, and is obsessed with his own guilt. Because he is alive and his father and his mother and his brothers [...] are dead, he suffers from [...] the guilt of the survivor.“

[20] GE, Kap. 4, S. 27. (Hervorhebung von D.T.) Man bedenke, dass Mrs. Gargery ausgerechnet beim Weihnachtsessen den Wunsch ausdrückt, dass Pip tot wäre.

[21] French, A. L., „Beating and Cringing: Great Expectations “, in: Roger D. Sell (Hrsg.) (1994), Charles Dickens, ‘ Great Expectations’, Basingstoke: Macmillan, S. 43.

[22] GE, Kap. 8, S. 54.

[23] GE, Kap. 4, S. 26. Pips Schuldkomplex sorgt dafür, dass er sich regelmäßig als Verbrecher sieht. Als er George Barnwells Geschichte hört, identifiziert er sich mit ihm (GE, Kap. 15, S. 94) und als seine Schwester von Orlick niedergestreckt wird, nimmt Pip irrationalerweise für einen Moment an, dass er selbst die Tat vollbracht hätte (GE, Kap. 16, S. 96).

[24] Van Ghent, Dorothy, „The Dickens World: A View from Todger’s“, in: George H. Ford (Hrsg.) (1961), The Dickens Critics. Ithaca: Cornell University Press, S. 230. Vgl. Hara, Eiichi, „Stories Present and Absent in Great Expectations “, in: Michael Cotsell (Hrsg.) (1990), Critical Essays on Charles Dickens’ ‘ Great Expectations’, Critical Essays on British Literature, Boston: Hall, S. 200.

[25] GE, Kap. 4, S. 26f.

[26] GE, Kap. 4, S. 26f. Hara 1990: 201.

[27] GE, Kap. 3, S. 20. So sagt Pip, nachdem Magwitch aufgegessen hat: „‘I said I was glad you enjoyed it.’“ Magwitch antwortet: „‘Thankee, my boy. I do.’“ Ebd. S. 21.

[28] Van Ghent 1961: 229f. Stange 1995: 519. „Dickens’ satire asks us to try reversing the accepted senses of innocence and guilt, success and failure, to think of the world’s goods as the world’s evils.“

[29] Rawlins, Jack P., “Great Expectations: Dickens and the Betrayal of the Child”, in: Michael Cotsell (Hrsg.) (1990), Critical Essays on Charles Dickens’ ‘ Great Expectations’, Critical Essays on British Literature, Boston: Hall, S. 169.

[30] Ebd S. 170.

[31] GE, Kap. 2, S. 12.

[32] GE, Kap. 2, S. 15.

[33] GE, Kap. 5, S. 36.

[34] GE, Kap. 9, S. 59.

[35] GE, Kap. 7, S. 41. Rawlins 1990: 169f. „He insits against fact [...] that everyone is good and that in general the sun is shining brightly when Pip knows it’s raining.“

[36] Rawlins 1990: 170. Siehe Punkt 2.2., wo Joes entsprechender Einfluss auf Pip betrachtet werden soll.

[37] Ebd. S. 171.

[38] Ebd. S. 171. Kap. 7, S. 41: „I didn’t see; but I didn’t say so“, „I could not help looking at the fire, in an obvious state of doubt“.

[39] GE, Kap. 35, S. 212.

[40] Hagan 1990: 59.

[41] GE, Kap. 15, S.88.

[42] GE, Kap. 7, S. 38.

[43] Gilmour, Robin, „Pip and the Victorian Idea of the Gentleman“, in: Roger D. Sell (Hrsg.) (1994), Charles Dickens, ‘Great Expectations’, Basingstoke: Macmillan, S. 112.

[44] GE, Kap. 7, S. 39f.

[45] Schor, Hilary: „‘If He Should Turn to and Beat Her’: Violence, Desire, and the Woman’s Story in Great Expectations “, in: Janice Carlisle (Hrsg.) (1996 ), Great Expectations, Case Studies in Contemporary Criticism, Boston u.a.: Bedford Books, S. 543.

[46] GE, Kap. 7, S. 42.

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Detalles

Título
Gesellschaftlicher Aufstieg und Sinnkrise in Charles Dickens’ "Great Expectations"
Universidad
University of Rostock  (Institut für Anglistik)
Curso
Charles Dickens
Calificación
1,0
Año
2006
Páginas
55
No. de catálogo
V80752
ISBN (Ebook)
9783638833745
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Idioma
Alemán
Palabras clave
Gesellschaftlicher, Aufstieg, Sinnkrise, Charles, Dickens’, Great, Expectations, Dickens
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Anónimo, 2006, Gesellschaftlicher Aufstieg und Sinnkrise in Charles Dickens’ "Great Expectations", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80752

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Título: Gesellschaftlicher Aufstieg und Sinnkrise in Charles Dickens’ "Great Expectations"



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