Ethische Einwände gegen Enhancement


Seminar Paper, 2007

37 Pages, Grade: gut - sehr gut


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Idee und Bedeutung von Enhancement
1.2. Auf welcher Seite liegt die Beweislast?

2. Grundsatzargumente gegen Enhancement
2.1. Natur und Natürlichkeit
2.2. Identität und Authentizität
2.3. Autonomie und Verantwortung
2.4. Soziale Ungerechtigkeit
2.5. Werteverlust

3. Ethische Entwürfe im Hinblick auf Enhancement
3.1. Utilitarismus
3.2. Pflichtethik
3.3. Tugendethik

4. Schluss

5. Bibliographie

1. Einleitung

„Der einzigartige Wert der Menschheit – ihre Würde – liegt in ihrer Macht zur Selbsttranszendenz, die sie befähigt, anders zu sein als das natürlich Gegebene.”[1]

Die Idee, den Menschen als einzelnes Subjekt oder Gattung in seiner Beschaffenheit zu verbessern, ist so alt wie die Menschheit selbst. Moderne Wissenschaft und Technik eröffnen uns jedoch im 21. Jahrhundert Wege und Möglichkeiten, diesen so tief verwurzelten Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen, von denen vergangene Generationen nur träumen konnten.[2] Mittels gentechnischen Massnahmen und medizinischen Technologien, so versprechen uns Zukunftsforscher, könnte der Mensch ohne besondere Anstrengung nicht nur gesünder und langlebiger, sondern auch intelligenter, glücklicher, begabter, schöner und tugendhafter werden.

Während eine solche Vision in manchen Begeisterung und Hoffnung weckt, löst sie in anderen Angst und Skepsis aus. Ist eine Veränderung der menschlichen Substanz und der menschlichen Natur mittels technischer Mittel überhaupt zulässig und erstrebenswert? Widerspricht es nicht zutiefst unserer ethischen Intuition, ein Ziel zu erreichen, ohne den entsprechenden Weg dafür zurückgelegt zu haben? Werden nicht Authentizität und Autonomie verloren gehen, wenn uns die Technik zu dem macht, was wir sind? Sind die gesellschaftlichen Folgen solcher Änderungen tragbar, oder vergrössern wir damit die soziale und globale Ungerechtigkeit?

Über diesen und anderen Fragen hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte philosophische Debatte entfacht. Als Sammelbegriff für die verschiedenen physischen, kognitiven und emotionalen Verbesserungen der menschlichen Konstitution, die zur Diskussion stehen, hat sich das englische „Enhancement“ durchgesetzt. In der folgenden Arbeit möchte ich diejenige Seite der aktuellen Debatte beleuchten, die sich kritisch mit den Möglichkeiten von Enhancement auseinandersetzt. In einem ersten Teil sollen ethische Grundsatzargumente gegen alle oder einige Formen von Enhancement auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden, während im zweiten Teil die Frage im Zentrum steht, welche Argumentationsgrundlagen verschiedene ethische Entwürfe Gegnern von Enhancement zur Verfügung stellen. Zuvor soll indes geklärt werden, welches Bedeutungsspektrum der Begriff „Enhancement“ umfasst und auf welcher Seite die Beweislast liegt, wenn es um die Erforschung und Einführung, respektive Ablehnung und Kriminalisierung entsprechender Technologien geht.

1.1. Idee und Bedeutung von Enhancement

Die Enhancement-Debatte fusst in der Medizinethik und erhält ihre weit-reichende Bedeutung nicht zuletzt dadurch, dass sie ein historisch neuartiges Verständnis der Medizin und des ärztlichen Auftrags sichtbar macht. Aus dem Auftrag der „Restitutio ad integrum“, stellt der Medizinethiker Gordijn fest, wird zunehmend eine „Tranformatio ad optimum“.[3] Während die Medizin in der Antike den Auftrag hatte, die Ordnung des Menschen und das „Wohlverhältnis der Säfte“ wiederherzustellen, galt es im Mittelalter, geist-liche Ursachen für die „Abweichung von der Vollkommenheit des Natür-lichen“ zu entdecken und zu beheben.[4] Die Konstante durch die Zeit hin-durch blieb die Unverfügbarkeit der menschlichen Verfassung: „Sieh an die Werke Gottes; denn wer kann das gerade machen, was er krümmt?“[5] Trotz-dem wurde der menschliche Körper als grundsätzlich gut erachtet, als ein „wohl geordneter Mikrokosmos“ in der Antike oder die „Krone der Schöpfung Gottes“ im christlichen Zeitalter.[6] Diese Einstellung hat sich in der Moderne grundlegend verändert. Zunehmend gilt der Leib als das „fehlerhafte Resultat zufälliger evolutionsbiologischer Prozesse“.[7] Mit den wachsenden Möglich-keiten der Technik, eben diese Fehlerhaftigkeit zu beheben, wandelt sich der Blick des Menschen auf sich selbst; denn je „stärker er unter dem Gesichts-punkt der Optimierbarkeit betrachtet wird“, desto „defizitärer“ erscheint er.[8] Die herkömmliche Grenze zwischen therapeutischen und verbessernden Eingriffen verschwimmt, die Medizin wandelt sich von der „traditionell-paternalistischen“ Heilkunde zum modernen Dienstleistungsunternehmen.[9] Nicht nur für die Medizin bedeutet dies Neuland, sondern auch für die Anthropologie, Psychologie und Politik.[10] Während die von Platon, Aristoteles und anderen Philosophen propagierten Mittel zur Selbstverbesserung wie etwa Bildung, Kontemplation oder moralische Selbstprüfung natürliche Grenzen kannten[11], müssen Einschränkungen für machbare technische Neuerungen von uns selbst festgelegt werden. Mit den wachsenden Möglichkeiten des Menschen wird die Enhancement-Debatte daher nicht abklingen, sondern stetig an Bedeutung zunehmen.

Von der historischen Bedeutung möchte ich jedoch zur konkreten Bedeutung des Begriffs „Enhancement“ übergehen. Was umfasst der Begriff und welche Ideen werden darunter verstanden? Der englische Ausdruck lässt sich nicht schlicht mit „Verbesserung“ wiedergeben, da er ein breiteres Bedeutungs-spektrum und positivere Konnotationen umfasst. Für das entsprechende Verb „to enhance“ schlagen gängige Übersetzungswerke Begriffe wie „aufwerten“, „erhöhen“, „fördern“, „steigern“, „verbessern“, „weiterent-wickeln“ oder „positiv beeinflussen“ vor. Mit Enhancement ist also nicht nur Verbesserung oder Optimierung gemeint, sondern auch Befähigung – die Erweiterung alter und die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Als solche Möglichkeiten werden in der gegenwärtigen Debatte unter anderem physisches Enhancement (ein stärkeres Immunsystem, Entfernung von Anlagen wie Alkoholsucht, körperliche Attribute wie Grösse, Kraft und Schönheit, Lebensverlängerung), kognitives Enhancement (höhere Intelligenz, besseres Erinnerungsvermögen, Musikalität, diverse Begabungen) und emotionales Enhancement (Entfernung von Aggressivität, Steigerung von Empathie, Glück) verstanden. Als Mittel diskutiert werden sowohl genetische als auch pharmakologische Therapien bis hin zu Eingriffen in die Keimbahnen zukünftiger Generationen („germline enhancement“[12] ).

Um der thematischen Eingrenzung meiner Arbeit gerecht zu werden, verwende ich im Folgenden jedoch einen engeren Begriff von Enhancement.[13] Ich werde darunter die durch technische Mittel erreichte Verbesserung des gesunden Menschen als Individuum oder Gattung zählen, unter Auslassung jeglicher therapeutischer, wiederherstellender und präventiver[14] Massnahmen. Unter Gesundheit verstehe ich mit Boorse eine statistisch normale Funktionsfähigkeit des biologischen Organismus unter Berücksichtigung der „Referenzklasse” (Alter, etc.) eines Individuums.[15] Nicht berücksichtigen werde ich des Weiteren das Thema möglicher Lebens-verlängerung. Die Verlangsamung oder Verhinderung des Alterungs-prozesses birgt Implikationen, die weit über diejenigen anderer Formen von Enhancement hinausgehen, und hat sich deshalb bereits als gesonderte Debatte etabliert.[16]

Da ich Grundsatzargumente gegen verschiedene Formen von Enhancement untersuchen werde, verzichte ich weitgehend auf konkrete Fallbeispiele. Stattdessen werde ich die einzelnen Argumente auf jeweils drei entscheidende Kriterien hin überprüfen und damit aufzeigen, auf welche Fälle sie sich beziehen. Das erste Kriterium ist das der (Ir-)Reversibilität, das zweite das der Selbst- resp. Fremdbestimmtheit und das dritte das der Individualität resp. Kollektivität. Ich werde folglich bei jedem Argument die Frage stellen, ob es auch gültig ist, wenn eine Form von Enhancement (1) (nicht) wieder rückgängig zu machen ist, (2) für sich selbst oder andere gewünscht wird und (3) an sich selbst oder an allen Menschen durchgeführt werden soll.

1.2. Auf welcher Seite liegt die Beweislast?

Angesichts der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dimensionen eines möglichen Enhancements und der Entscheidungen, die womöglich schon bald gefällt werden müssen, stellt sich die Frage, ob die Beweislast in der Debatte auf Seiten der Gegner oder Befürworter liegt.[17] Sollen wir grundsätzlich jeder Neuerung offen gegenüberstehen, solange nicht stichhaltige Gründe dagegen hervorgebracht werden, oder müssen wir im Gegenteil zuwarten, bis sich die Vorteile klar erwiesen und alle Gegen-argumente zerschlagen haben?

Unumstritten ist es, dass schon jetzt Richtlinien erstellt und Grundsatzent-scheide gefällt werden müssen. Es wäre unklug, sich „hinter Schutzwällen der technischen Machbarkeit“ zu verschanzen und in Folge unvorbereitet „vor vollendete Tatsachen“ gestellt zu werden.[18] Mit welcher Grundhaltung soll das Thema jedoch angegangen werden? Befürworter von Enhancement drücken bereits in ihrer Wortwahl aus, auf welcher Seite ihrer Ansicht nach die Beweislast liegt, indem sie die gegnerische Position als „apologistisch“[19] oder „biokonservativ“[20] bezeichnen. Nicht zu Unrecht verweisen sie auf die grundsätzliche Autonomie, die jedem Menschen das Recht verleihen sollte, über sich selbst und den eigenen Körper frei zu verfügen. Bei Enhancement, betonen sie, geht es nicht nur um das bessere Funktionieren eines Menschen in der Gesellschaft, sondern in erster Linie um ein besseres Leben für den Einzelnen selbst.[21] Nick Bostrom, Vorsitzender der World Transhumanist Association[22], schreibt:

„Every day that the introduction of effective human genetic enhancement is delayed is a day of lost individual and cultural potential, and a day of torment for many unfortunate sufferers of diseases that could have been prevented. Seen in this light, proponents of a ban or a moratorium on human genetic modification must take on a heavy burden of proof in order to have the balance of reason tilt in their favor.”[23]

Während Befürworter Enhancement folglich vorzugsweise als Freiheitsrecht des Einzelnen darstellen, betonen Gegner jedoch die Kosten und Folgen für die Gesamtgesellschaft.[24] Diese beginnen bei der Forschung und den entsprechenden Mitteln aus öffentlicher Hand, die dafür aufgewendet werden. Des Weiteren hat die Autonomie dort Grenzen, wo für andere, etwa für die eigenen Kinder und zukünftige Generationen, entschieden wird. Habermas betont, dass „das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht“[25].

Die Beweislast, so scheint es, lässt sich so einfach nicht auf die eine oder andere Seite abschieben. Während Befürworter zu Recht auf den Grundsatz der freien Entscheidung hinweisen, darf nicht ohne weiteres ein Konsens von (Mit-)Betroffenen vorausgesetzt werden. Dennoch scheint mir die Beweislast, wie Bostrom behauptet, stärker auf Seiten der Gegner zu liegen. Das optimistische Bild, das er malt, zeigt nicht zuletzt eine potentielle Pflicht auf, die uns durch unsere erweiterten Möglichkeiten auferlegt wird. Wenn Enhancement die Welt tatsächlich glücklicher und leidensfreier machen kann, so machen wir uns womöglich schuldig, wenn wir dem Fortschritt im Wege stehen. Umso wichtiger ist es, zu prüfen, ob die verheissungsvolle Vision einer verbesserten Welt Wirklichkeitspotential hat oder eine schöne, aber irreführende Utopie ist. Eine solche Prüfung möchte ich im Folgenden anhand der wesentlichen gegnerischen Argumente durchführen.

2. Grundsatzargumente gegen Enhancement

2.1. Natur und Natürlichkeit

“I not only think we will tamper with Mother Nature, I think Mother Nature wants us to.”[26]

Der im Zusammenhang mit Enhancement am häufigsten und meist an erster Stelle genannte Verdacht ist der, dass wir uns im Falle technischer Selbst-Verbesserung gegen die Natur „versündigen“. Egal ob reversibel, eigenver-antwortlich, individuell oder kollektiv angewendet stellt jede Form von Enhancement einen Eingriff in die natürliche Verfasstheit dar. Obwohl die Natur kein metaphysisches oder gar personales Wesen ist und hat, bringen wir ihr in ihrer Ursprünglichkeit einen gewissen Respekt entgegen. Auch im Zeitalter der modernen Industrie und überragender technischer Hilfsmittel in allen Bereichen des Lebens sind wir in unserer Körperlichkeit „natürlich“ geblieben. Ein Kind wird in der Regel noch immer als „Geschenk“, und nicht als „Produkt“ begriffen.

Wird nun auch das letzte „Bollwerk“ der Natürlichkeit, der menschliche Körper, preisgegeben und der Technik unterworfen, könnte sich diese Einstellung ändern. Der Politologe Francis Fukuyama verwendet in seinem Werk „Das Ende des Menschen“ den Begriff „Züchtung“, um „ein entmenschlichendes Potential“ von Enhancement zum Ausdruck zu bringen.[27] Die Menschen als Gattungswesen haben eine sie verbindende Natur, die durch „essentialistische Bestimmungen“ durchaus fassbar gemacht werden kann.[28] Verlieren sie diese, werden sie nicht nur zum form- und verfügbaren Produkt, sondern treten auch ihren Status als „Krone der Schöpfung“ ab. Ein solcher, meint etwa Matthias Kettner, werde dann nur noch von Robotern erreicht.[29] Während Menschen heute, etwa im Sport, auf ihre naturgegebenen Begabungen und hart erkämpften Leistungen stolz sind, lässt sich ein Wettbewerb der Zukunft womöglich nur noch mit dem besten Enhancement gewinnen.[30] Ein in dieser Weise unnatürlicher Mensch, folgern viele, ist kein Mensch mehr.

Was aber ist so wertvoll an der Natürlichkeit des Menschen, resp. an der Natur selbst? Birnbacher nennt die Unerschöpflichkeit, Unabhängigkeit von unserem Willen, Zweckfreiheit, Autonomie und Spontaneität der Natur als mögliche Gründe.[31] Als „Gegenwelt“ zur Zivilisation habe sie gerade in „ihrer Andersheit“, ihrer „Funktion als Kontrastwelt zur Welt des Menschen und der vom Menschen geschaffenen und gestalteten Welt“ ihren Wert.[32] Den Menschen hält sie in Schranken der Natürlichkeit, die gleichzeitig die gesellschaftlich wichtige Funktion der essentialistischen Bestimmungen und somit Vorgabe der „Normalität“ erfüllen, welche den Menschen zum Gleichen unter Gleichen macht. Um diese Funktion zu schützen, schlägt Ludwig Siep vor, den „menschliche[n] Körper und die zufällige Art der Vererbung von Anlagen als eine Art Natur- bzw. Kulturerbe“ zu betrachten.[33] Siep begründet dies damit, dass die menschliche Körperlichkeit in ihrer bisherigen Verfassung „Bedingung gesellschaftlicher Güter und Grundlage sozialer Normen“ ist . Als „gemeinsames“ Erbe darf sie folglich „nicht gänzlich zur privaten Disposition“ stehen.[34] Damit wird die körperliche Konstitution nicht „für sakrosankt“ erklärt, behauptet Siep, sondern lediglich als Grundlage wichtiger „individueller und sozialer Werte“ betrachtet.[35]

Ein entsprechender Umgang mit der eigenen Natur wäre folglich von einer Haltung der Annahme, Dankbarkeit und Bereitschaft geprägt, das Empfangene zu würdigen und weiterzutragen:

„‚Würde’ bedeutet in diesem Zusammenhang ein Akzeptieren des Gegebenen in philosophischer Gelassenheit, eine gelungene Aussöhnung mit dem Konting-enten, eine Hinnahme des Schicksalhaften – nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke.“[36]

So überzeugend diese Argumente klingen mögen, so schwierig ist es, mit der Natur zu argumentieren und ihr mit guten Gründen normative Funktionen zuzuschreiben. Ein Erbe kann man, so schreibt auch Birnbacher, jederzeit ausschlagen; „[n]iemand ist verpflichtet, sich ein Erbe aufdrängen zu lassen.“[37] Befürworter von Enhancement betonen denn auch, dass es keinen Grund gibt, die menschliche Natur wertzuschätzen oder um ihrer selbst willen zu bewahren. Robert Loftis unterstreicht, dass es keinen Grund gibt, anzunehmen, die menschliche Natur als Produkt blinder Evolution sei in sich wert- oder sinnvoll:

“Human nature was determined by what survived long enough to reproduce in Africa 150,000 years ago. There is no reason to think that this is the best, or even a particularly good, way to be.”[38]

Birnbacher sieht kein Problem darin, den menschlichen Körper als „unvollkommen, verbesserungsfähig, vielfach verbesserungsbedürftig“[39] zu betrachten, und gibt H. T. Engelhardt Recht, wenn dieser in einem „naturalistische[n] Verständnis des irrationalen Zustandekommens der menschlichen Natur“ keine Basis dafür sieht, dieser „einen intrinsischen Wert oder Würde zuzuschreiben“.[40] Das „biotische Substrat“, so auch Kettner, „ist immer nur mittelbar wertvoll“, nämlich durch den Wert der Möglichkeiten, die es eröffnet.[41] Menschen können zwar als Designer ihrer selbst und zukünftiger Generationen irren, ergänzt Bernward Gesang, „aber die Natur, die sich nicht einmal bemüht, Chancen zu wählen und Nachteile zu vermeiden, dürfte kaum besser sein“.[42] Was ist letztlich schlimm daran, wenn der Mensch kein Mensch mehr ist? Im Bezug auf den menschlichen Körper entspricht der Begriff der Natürlichkeit weitgehend dem Begriff von Normalität.[43] Und was „normal“ ist, wird und darf sich ändern. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob das Konzept der menschlichen Natur im Hinblick auf die Möglichkeit, unsere essentiellen Eigenschaften zu verändern, nicht ohnehin obsolet wird.[44]

Will der Befürworter von Enhancement indes nicht so weit gehen, die menschliche Natur für wertlos oder obsolet zu erklären, bleibt ihm nichtsdestotrotz ein entscheidendes Argument, wenn er sich selbst auf das Wesen des Menschen beruft. Der Drang nach Verbesserung und Selbst-steigerung, so kann er zu Recht geltend machen, ist eine Ureigenschaft der menschlichen Natur. Die Fähigkeit zur Kreativität und Transformation ist wesentlich für das menschliche Selbstverständnis[45]: „To be human is to seek to have a better life.“[46] Es kann folglich niemand behaupten, „dass Enhancement wider die menschliche Natur ist. Man kann höchstens meinen, hier wende sich ein Teil der menschlichen Natur gegen die anderen Teile.“[47] Die Gattung Mensch zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie den Verlauf der eigenen Evolution in eine bewusst gewählte Richtung lenken kann.[48] Die Menschheit könnte es gar als Pflicht begreifen, die ihr innewohnenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen und den eigenen Körper mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu perfektionieren.[49] Statt abgeschafft zu werden, könnte die Menschlichkeit womöglich gar ausgebaut werden.[50]

So scheint Natürlichkeit zum einen kaum als moralisches Prinzip geeignet[51], zum anderen als Argument nicht einseitig für die Gegner von Enhancement zu sprechen. Selbst wenn es möglich ist, der Natur einen inhärenten Wert zuzuschreiben, ohne den naturalistischen Fehlschluss zu begehen, schlägt sie sich womöglich auf die Seite derer, die sie zu überwinden suchen.

[...]


[1] Heyd 2005, S. 71

[2] Vgl. Gordijn 2004, S. 235

[3] Gordijn 2004, S. 233f

[4] Ebd., S. 233

[5] Prediger 7,13 (nach Luther 1984)

[6] Gordijn 2004, S. 234

[7] Ebd.

[8] Jakovljević 2005, S. 14

[9] Ebd., S. 20

[10] Vgl. Gordijn 2004, S. 234

[11] Vgl. Bostrom 2003, S. 496

[12] Dieser Methode hat das Kennedy Institute of Ethics Journal mit Beiträgen verschiedener Philosophen eine Ausgabe gewidmet (Vol. 15/2005, Nr. 1). Auch Habermas’ viel zitiertes und diskutiertes Buch „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ befasst sich fast ausschliesslich mit dieser Form von Enhancement (Siehe Bibliographie).

[13] Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Definition von Enhancement vgl. Savulescu 2006, S. 322ff

[14] Hierbei handelt es sich bereits um einen Grenzfall. Ich beziehe mich dabei auf präventive gesundheitliche Massnahmen wie Impfungen oder die Stärkung des Immunsystems. Die Selektion „gesünderer“ Embryonen aufgrund von Präimplantationsdiagnostik halte ich für ethisch keineswegs unproblematisch, möchte ich aber ebenfalls ausschliessen, da es sich im weitesten Sinne um eine therapeutische Massnahme handelt.

[15] Vgl. Boorse 1975, S. 58. Insbesondere im Hinblick auf das bereits in Aussicht gestellte neue Verständnis der Medizin scheint es mir wichtig, mit einem Gesundheitsbegriff auf objektiver Basis zu argumentieren. Zur Debatte darüber vgl. ebd.

[16] Zur Debatte der Lebensverlängerung vgl. Overall 2003

[17] Ich trenne in der folgenden Arbeit die Positionen von Gegnern und Befürwortern bewusst schärfer voneinander ab, als sie üblicherweise präsentiert werden. In der Debatte gibt es kaum Extrempositionen; beide Seiten bemühen sich um Einschränkungen und bringen oftmals Argumente für beide Positionen vor. Ich möchte aber das Augenmerk auf die Grundhaltung legen und überzeichne diese daher.

[18] Gesang 2006, S. 10

[19] Vgl. Overall 2003, S. 23

[20] Birnbacher 2006, S. 100, Gesang 2006, S. 12

[21] Vgl. Savulescu 2006, S. 324

[22] Die World Transhumanist Association (WTA) definiert sich selbst als “international nonprofit membership organization which advocates the ethical use of technology to expand human capacities”. Quelle: www.transhumanism.org, gesehen am 1. Mai 2007

[23] Bostrom 2003, S. 499

[24] Vgl. Kettner 2005, S. 91

[25] Habermas 2002, S. 27 (Hervorhebung im Original)

[26] Gaylin 1983, S. 53

[27] Fukuyama 2002, S. 129

[28] Kettner 2005, S. 75

[29] Vgl. Kettner 2005, S. 93

[30] Zur Thematik „Stolz und Sport“ vgl. u.a. Birnbacher 2006, S. 119, Jakovljević 2005, S. 26, Dworkin 2000, S. 445

[31] Vgl. Birnbacher 2006, S. 70

[32] Ebd., S. 69

[33] Siep 2005, S. 167

[34] Ebd., S. 172

[35] Ebd., S. 169. Dieser Argumentationslinie folgend, wurde im Europarat bereits das Recht auf ein „Genetisches Erbe, in das nicht künstliche eingegriffen worden ist“, gefordert; vgl. Habermas 2002, S. 51.

[36] Birnbacher 2006, S. 131

[37] Ebd., S. 122

[38] Loftis 2005, S. 71f

[39] Birnbacher 2006, S. 101

[40] Engelhardt 2006, S. 41, zitiert nach: Birnbacher 2006, S. 102

[41] Kettner 2005, S. 88f

[42] Gesang 2006, S. 22

[43] Vgl. Birnbacher 2006, S. 103

[44] Vgl. Buchanan 2000, S. 87

[45] Vgl. Parens 2005, S. 38. Parens führt die Begriffe “gratitude framework” und “creativity framework” ein, um die Positionen der Gegner und Befürworter auf den Punkt zu bringen, und plädiert für eine Versöhnung beider Denkmuster.

[46] Savulescu 2006, S. 331

[47] Heyd 2005, S. 71

[48] Vgl. Kettner 2005, S. 79

[49] Vgl. ebd., S. 80

[50] Vgl. Gesang 2006, S. 14

[51] Vgl. Birnbacher 2006, S. 129

Excerpt out of 37 pages

Details

Title
Ethische Einwände gegen Enhancement
College
University of Basel  (Philosophisches Seminar)
Grade
gut - sehr gut
Author
Year
2007
Pages
37
Catalog Number
V80887
ISBN (eBook)
9783638879927
ISBN (Book)
9783638888400
File size
511 KB
Language
German
Keywords
Ethische, Einwände, Enhancement
Quote paper
Sara Stöcklin (Author), 2007, Ethische Einwände gegen Enhancement, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80887

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