„Das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit“, beklagte Michel Foucault in seinem Essay ‚Was ist ein Autor’ die Bemühungen des „schreibenden Subjekts“, von der eigenen Individualität abzulenken.
Foucault spricht hier von der Autor-Funktion, die er irgendwo zwischen der tatsächlichen Dichter-Person und der Erzähler-Figur, einem alter ego, ansiedelt. Die direkte Ansprache des Lesers durch den Autor, Passagen, in denen dieser sich - in seiner Autor-Funktion - zu erkennen gibt und die Handlung subjektiviert, sind in der Literatur nach 1950 nahezu verpönt. Das ‚Verschwinden’ des Autors impliziert, dass Autoren früher einmal in ihren Werken deutlicher zutage traten: Werke, in denen ein auktorialer Erzähler Bewertungen und Kommentare abgibt, sind gerade vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit Proust, Gide, Beckett, Thomas Mann und natürlich schon früher (z.B. bei Dostojewski) bekannt.
Wie war es aber, als die abendländische geschriebene Literatur noch in den Kinderschuhen steckte, als von Autorschaft im heutigen Sinne noch nicht die Rede war und sich der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Erzähltradition gerade erst vollzog? Welche Haltung nahmen Erzähler damals ein und wie nutzten sie diesen strukturellen Wandel? (...)
Ziel dieser Arbeit ist es also zu zeigen, ob und inwiefern die mittelalterlichen Schriftsteller sich als schreibende Individuen zu erkennen geben und was sie damit bezwecken. Nach einer chronologischen Verortung der zu betrachtenden Werke und einem Blick auf die Stoffgeschichte folgt die Betrachtung der Texte. In einem zentralen Kapitel wird sodann das zeitgenössische Umfeld unserer drei Dichter beleuchtet, um schließlich das jeweilige Selbstbild der Autoren zu umreißen.
Den Abschluss bildet ein Streif-Blick auf die Antike. Die translatio klassischer Kultur erreichte um die Mitte des 12. Jahrhunderts mit der Adaption antiker Texte in das Französische einen Höhepunkt. Die Herausbildung eines Selbstverständnisses des Künstlers als solchem war aber bei den Griechen mit ihrer langen Schrifttradition schon früh vollzogen, was den mittelalterlichen Rezipienten sicher nicht verborgen blieb. Daher sollen die mittelalterlichen Werke und ihre Urheber nicht isoliert betrachtet, sondern in Bezug zur klassizistischen Dichtung(stheorie) gesetzt werden, um auf Kontinuitäten und Trennendes hinzuweisen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Stoff und Rezeption
- Zur Herkunft des Tristanstoffes
- Zur Rezeption des Tristanstoffes
- Betrachtung der Texte
- Marie de France Lai de Chevrefoil
- Thomas d'angleterre's Roman de Tristan
- Béroul's Roman de Tristan
- Aspekte Dichterischen Selbstverständnisses
- Umfeld der Dichter: Kontinuität der Antike und Zeitgeist
- Struktureller sprachlicher Wandel
- Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, ob und inwiefern mittelalterliche Schriftsteller ihre eigene Persönlichkeit in ihren Werken zum Ausdruck brachten und was sie damit bezweckt haben. Sie untersucht drei Tristanversionen aus dem 12. Jahrhundert – die Versepen von Béroul und Thomas d'Angleterre sowie die Kurzgeschichte „Chevrefoil“ von Marie de France – um Einblicke in die Selbstwahrnehmung von Autoren im Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Erzähltradition zu gewinnen.
- Die Darstellung des Tristanstoffes in verschiedenen literarischen Formen
- Die Entwicklung des dichterischen Selbstverständnisses im Mittelalter
- Die Bedeutung von Tradition und Innovation in der mittelalterlichen Literatur
- Die Beziehung zwischen Autor, Text und Leser im 12. Jahrhundert
- Die Rolle der Antike in der Entwicklung der europäischen Literatur
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Arbeit ein und erläutert die Relevanz der Frage nach dem Selbstverständnis von Autoren im Mittelalter. Sie stellt die drei Tristanversionen vor, die im Fokus der Analyse stehen, und skizziert den Verlauf der Arbeit.
Das erste Kapitel beleuchtet die Herkunft und Rezeption des Tristanstoffes. Es wird auf die keltischen Wurzeln der Sage eingegangen und die Entwicklung des Stoffes in der mittelalterlichen Literatur nachgezeichnet.
Das zweite Kapitel widmet sich der Analyse der drei Tristanversionen von Marie de France, Thomas d'Angleterre und Béroul. Die Kapitel betrachten die jeweiligen Erzählweisen, die Figurenzeichnung und die Themen der einzelnen Texte. Sie analysieren insbesondere die Elemente, die auf eine individuelle Haltung der Autoren hinweisen könnten.
Das dritte Kapitel beleuchtet das zeitgenössische Umfeld der drei Dichter. Es untersucht die Einflüsse der Antike auf die mittelalterliche Kultur und die spezifischen Bedingungen, unter denen die drei Autoren ihre Werke schufen. Es wird auf die Entwicklung der Schriftkultur und die Bedeutung der Dichter im gesellschaftlichen Kontext eingegangen.
Schlüsselwörter
Tristanstoff, mittelalterliche Literatur, dichterisches Selbstverständnis, Autorfunktion, Verhältnis von Tradition und Innovation, Antike, Marie de France, Thomas d'Angleterre, Béroul.
- Quote paper
- Christine Prütz (Author), 2004, Tristan und Isolde - Zum Selbstverständnis der Dichter Marie de France, Thomas d'Angleterre und Béroul, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81287