Erika Fischer-Lichte definiert die Aufführung als ein Ereignis, das in der und durch die leibliche Ko-Präsenz von „Handelnden“ und „Zuschauenden“ zustande kommt. Akteure und Zuschauer konfrontieren sich miteinander und interagieren, wobei die Zugehörigkeit der einzelnen Personen zu den beiden Gruppen während der Aufführung wechseln kann.
Der theatrale Charakter von Demonstrationen und politischen Protestaktionen im Sinne einer nach außen gewandten Vorführung wurde bereits eingehend untersucht. Daher erscheint es vielversprechend, Protestbewegungen und -aktionen auf ihren Aufführungscharakter hin zu betrachten, besonders als Wechselspiel zwischen köperlich anwesenden Personengruppen. Denn Aktivisten sind nicht die einzigen Hadelnden in einer Protestsituation.
Dazu muss zunächst einmal die Frage geklärt werden, welche Gruppen von Personen in einer Protestsituation aktiv teilnehmen und wie die Rollen von Akteuren und Zschauern verteilt sind.
Fischer-Lichte unterscheidet genau zwischen dem Begriff der Aufführung und dem der Inszenierung. Für die Aufführungen von Protest und der Reaktion auf Protest spielen Inszenierungsstrategien – also eine gewisse Planung der Vorgehensweisen – eine wichtige Rolle. Interessanterweise versucht diese Planung auch Einfluss darauf zu nehmen, wann verschiedene Personengruppen die Rollen von Akteuren oder Zuschauern annehmen. Es soll also untersucht werden, welche Inszenierungsstrategien die verschiedenen Personengruppen erschaffen und was die Qualität ihrer Theatralität ausmacht.
Ebenso eng verbunden mit dem Begriff der Aufführung sieht Fischer-Lichte die Rolle von Körperlichkeit und Wahrnehmung. Die Bedeutung beider wird auch bei nur oberflächlicher Betrachtung von Protestaktionen sofort ersichtlich. Körperliche Anwesenheit und der Einsatz der eigenen Körperlichkeit ist auch nach dem Bedeutungsverlust von Massendemonstrationen mit dem Konzept der „Direkten Aktion“ ein zentrales Element zeitgenössischen Protests.
Als besonders geeignet für die Untersuchung des Aufführungscharakters von Protestaktionen bietet sich die globalisierungskritische Protestbewegung an. In ihr finden sich eine in der Vergangenheit unerreichte breite Vielfalt von Motivationen und Aktionsformen, ein offensiver Gebrauch von Körperlichkeit, ein extrem hochentwickelter Umgang mit Wahrnehmungsformen und aufsehenerregende Protest-Spektakel wie die WTO-Proteste 1999 in Seattle.
Inhalt
1. Der globalisierungskritische Protest als Aufführung
2. Die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung
2.1. Entstehung
2.2. Anliegen
2.2.1. Die soziale Exklusivität
2.2.2. Das Fehlen ökologischer Nachhaltigkeit
2.2.3. Die Missachtung der kulturellen Diversität
2.2.4. Die Missachtung der Menschenrechte
2.2.5. Der Mangel an demokratischer Partizipation
3. Akteure und Zuschauer in Protest-Aufführungen
3.1. Die Protestbewegung
3.2. Die Sicherheitskräfte
3.3. Die Beobachter
4. Inszenierung und Körperlichkeit
4.1. Inszenierungsstrategien der Bewegung
4.1.1. Reclaim the Streets
4.1.2. Pink & Silver
4.1.3. CIRCA – Die „Clandestine Insurgent Rebel Clown Army“
4.1.4. Tute Bianche
4.1.5. Der Schwarze Block
4.2. Inszenierungsstrategien der Sicherheitskräfte
5. Wahrnehmung der Medien
6. Wahrnehmung und Körperlichkeit in der Aufführung
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
1. Der globalisierungskritische Protest als Aufführung
Erika Fischer-Lichte definiert die Aufführung als ein Ereignis, das in der und durch die leibliche Ko-Präsenz von „Handelnden“ und „Zuschauenden“ zustande kommt. Akteure und Zuschauer konfrontieren sich miteinander und interagieren, wobei die Zugehörigkeit der einzelnen Personen zu den beiden Gruppen während der Aufführung wechseln kann.[1]
Der theatrale Charakter von Demonstrationen und politischen Protestaktionen im Sinne einer nach außen gewandten Vorführung wurde bereits eingehend untersucht.[2] Daher erscheint es vielversprechend, Protestbewegungen und -aktionen auf ihren Aufführungscharakter hin zu betrachten, besonders als Wechselspiel zwischen körperlich anwesenden Personengruppen. Denn Aktivisten sind nicht die einzigen Handelnden in einer Protestsituation.[3]
Dazu muss zunächst einmal die Frage geklärt werden, welche Gruppen von Personen in einer Protestsituation aktiv teilnehmen und wie die Rollen von Akteuren und Zuschauern verteilt sind.
Fischer-Lichte unterscheidet genau zwischen dem Begriff der Aufführung und dem der Inszenierung.[4] Für die Aufführungen von Protest und der Reaktion auf Protest spielen Inszenierungsstrategien – also eine gewisse Planung der Vorgehensweisen – eine wichtige Rolle. Interessanterweise versucht diese Planung auch Einfluss darauf zu nehmen, wann verschiedene Personengruppen die Rollen von Akteuren oder Zuschauern annehmen. Es soll also untersucht werden, welche Inszenierungsstrategien die verschiedenen Personengruppen erschaffen und was die Qualität ihrer Theatralität ausmacht.
Ebenso eng verbunden mit dem Begriff der Aufführung sieht Fischer-Lichte die Rolle von Körperlichkeit und Wahrnehmung.[5] Die Bedeutung beider wird auch bei nur oberflächlicher Betrachtung von Protestaktionen sofort ersichtlich. Körperliche Anwesenheit und der Einsatz der eigenen Körperlichkeit ist auch nach dem Bedeutungsverlust von Massendemonstrationen mit dem Konzept der „Direkten Aktion“ ein zentrales Element zeitgenössischen Protests.
Wahrnehmung von Fehlentwicklungen in der Gesellschaft ist Grundvoraussetzung, Wahrnehmbarkeit in Öffentlichkeit und Politik, sowie innerhalb der eigenen Bewegung, eines der Ziele des Protests.
Als besonders geeignet für die Untersuchung des Aufführungscharakters von Protestaktionen bietet sich die globalisierungskritische Protestbewegung an. In ihr finden sich eine in der Vergangenheit unerreichte breite Vielfalt von Motivationen und Aktionsformen, ein offensiver Gebrauch von Körperlichkeit, ein extrem hochentwickelter Umgang mit Wahrnehmungsformen und aufsehenerregende Protest-Spektakel wie die WTO-Proteste 1999 in Seattle oder der Anti-G8-Protest 2001 in Genua.
2. Die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung
2.1. Entstehung
Die Ereignisse, die die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) vom 30. November bis 3. Dezember 1999 in Seattle begleiteten, kamen für viele Beobachter völlig unerwartet. Gerade in den USA, wo die politische Linke seit den Protesten gegen den Vietnam-Krieg als verschwunden galt, schien ein derart vehement auf der Straße vorgetragener Protest in all seiner Vielfalt und Radikalität förmlich aus dem Nichts zu kommen.
Weithin wird angenommen, dass die als „Battle in Seattle“ oder „N30“ bekannt gewordenen Proteste das erste Auftauchen der globalisierungskritischen Bewegung darstellen. Sie waren jedoch weder spontan zustande gekommen noch ohne Vorläufer: Bereits 1994 protestierten Kritiker in Madrid anlässlich des 50. Geburtstages des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Unter dem Slogan „50 years are enough“ versuchten die Aktivisten, die Geburtstagsfeier durch Lärm zu stören. Zuvor hatten in Europa Mitte der achtziger Jahre bereits Gruppen aus Ökologie- und Friedensbewegung, sowie entwicklungspolitische Netzwerke während der Treffen von Weltbank oder IWF, sowie des Weltwirtschaftsgipfels demonstriert. Im Unterschied zu der Bewegung ab Mitte der neunziger Jahre, blieben diese Proteste in ihrer Ausrichtung jedoch provinziell und richteten sich meist gegen ein heimisches Establishment.[6]
Als ein weiterer Vorläufer der Proteste in Seattle gilt der am 18. Juni 1999 veranstaltete „Carnival Against Capitalism“ oder „J18“. Anlässlich des G8-Gipfels in Köln fanden in Städten in 40 Ländern, unter anderem in London, Port Harcourt (Nigeria), Prag, Rom, Tel Aviv und New York, verschiedene Protestveranstaltungen unter dem Motto „Our Resistance is as Transnational as Capital“ statt.
Keines dieser Ereignisse hat die gleiche Aufmerksamkeit erregt wie kurze Zeit später die WTO-Proteste in Seattle. Sie sind nur Vorläufer des ersten Höhepunkts eines 30jährigen Entwicklungs- und Neuerfindungsprozesses.[7] Die Entstehungsgeschichte von N30 als eines effektiven, dezentralen und vielstimmigen Radikalismus, basierend auf dem Konzept der Direkten Aktion, fand in vielen einzelnen Bewegungen statt, von denen so gut wie alle eigenständig und auf ein Thema beschränkt agierten. Das Spektrum dieser Gruppen umfasst alleine in den USA unter anderem Anti-Atom-, radikale Umweltbewegungen, Feministinnen, Lesben- und Schwulenbewegungen und Aids-Aktivisten.
In den Neunzigerjahren nahm die gegenseitige Beeinflussung und Kooperation untereinander zu und Netzwerke begannen sich zu bilden. Eine besondere Brückenfunktion nahmen dabei häufig Aktivistinnen der Lesbenbewegung ein.[8] Eine der ersten erfolgreichen Bemühungen dieses in der Entwicklung befindlichen Netzwerkes ist möglicherweise die komplette Blockade Manhattans am 25. April 1995 („A25“), die unter anderem von Obdachlosen, Studenten, Aktivisten gegen Polizeibrutalität, Aids-Aktivisten, vom Committee Against Anti-Asian Violence und dem National Congress of Puerto Rican Rights als Protest gegen die Nulltoleranzpolitik des damaligen New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani durchgeführt wurde.[9]
Entscheidend für das Funktionieren dieser neuen Protestbewegung ist die Entwicklung des Bezugsgruppenmodells. In den USA der frühen siebziger Jahre starteten einige Aktivisten aus Enttäuschung über Machismo, Dogmatik und Grabenkämpfe in der Linken der späten Sechziger Experimente mit kleineren, dezentralisierten Organisationsstrukturen, den Bezugsgruppen.[10] Bezugsgruppen bestehen in der Regel aus zwischen drei und zwanzig Personen, die sich entsprechend ihrer politischen Ziele oder ihrer bevorzugten Protestform zusammenfinden und autonom agieren. Dieses Konzept stammt ursprünglich aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo es zuerst von der Iberischen Anarchistischen Föderation angewandt wurde. Ein erster Erfolg der Wiederentdeckung dieses Modells war in den USA 1971 die gegen den Vietnam-Krieg gerichtete Mayday-Tribe-Blockade von Washington D.C., in dem sich, wie bei A25, die einzelnen Bezugsgruppen ihre Blockadeziele selbst aussuchten und selbständig besetzten.
Im Anti-Atom-Protest in den USA der späten Siebziger wurde das Bezugsgruppenmodell weiter erfolgreich angewandt. Eine starke Rolle in dieser Protestbewegung spielten Quäker, die ihr Modell des spokes council mit dem Bezugsgruppenmodell verbanden.[11] Einzelne Bezugsgruppen konnten sich nun durch die Wahl eines Sprechers effektiv miteinander koordinieren. In solch einem spokes council sitzen die gewählten Sprecher der verschiedenen Gruppen im Kreis und können diskutieren, während sich die komplette Bezugsgruppe hinter ihrem jeweiligen Sprecher versammelt, um schnelle Rücksprachen zu ermöglichen. Entscheidungen werden dabei innerhalb der Bezugsgruppe sowie im spokes council nach dem Konsensprinzip gefällt.
Dieses Prinzip, das spokes council, das anarchistische Bezugsgruppenmodell und das während des Anti-Atom-Protests hauptsächlich von Quäkern und pazifistischen Gruppen eingeführte Prinzip der Gewaltlosigkeit bei Aktionen[12], stellen die vier Grundpfeiler dieser neuen radikalen und progressiven Bewegung dar.[13]
Als 1987 die Aids-Aktivisten-Bewegung AIDS Coalition to Unleash Power (ACT UP) entstand, brachten die Beteiligten eine weitere wichtige Neuerung in den Protest ein. Mit ihrer Mischung aus Kreativität und Radikalität, genährt aus der Verzweiflung nur noch wenig Zeit und nichts zu verlieren zu haben, starteten sie Protestkampagnen, die in ihrer Außergewöhnlichkeit und Telegenität bisher unerreicht waren. Mit der Strategie „Make it more costly for those in power to resist than to give in“[14] und der ständigen Präsenz von Krankheit und Tod gab es keinen Raum und keine Zeit für langwierige Analysen, für lange Märsche mit Rednern, die die ewig bekannten Kritikpunkte verlesen. Daher setzte man auf direct action, auf gewagte Aktionen, die visuell gut zu erfassen, oftmals symbolisch behaftet und spektakulär sind. So geschehen mit die-ins, mit dem berühmt gewordenen Slogan „Silence = Death“, oder als während des zweiten Golfkriegs mehrere ACT UP – Aktivisten während einer CBS-Nachrichtensendung das Studio stürmten und „Fight AIDS not Arabs!“ riefen. ACT UP ist ebenso die erste Protestgruppe, die mit „DIVA TV“ für eigene Videoaufzeichnungen ihrer Aktionen sorgte.[15]
Inspiriert von diesem Prinzip der Direkten Aktion wurden in den USA ab den späten Achtzigern Gruppen wie Earth First!, die Lesbian Avengers oder WHAM! (Women’s Health Action and Mobilization).
In den neunziger Jahren erfolgte dann in den einzelnen Gruppen eine Verbreiterung der beanspruchten Themenfelder. Gruppen wie Earth First! oder ACT UP begannen, auch Themen wie Klassen- und Rassenkonflikte, Wirtschafts- und Genderfragen für sich zu beanspruchen. Dadurch entstand die zuvor beschriebene neue Kultur der inhaltlichen und organisatorischen Vernetzung einzelner Aktivistengruppen untereinander, die in ihrer Konsequenz natürlich auch zu transnationaler Vernetzung führte. So wurde im Verlauf der neunziger Jahre der Slogan „Think global, act local!“ durch „If you’re attacked globally, you’d better act globally!“ ergänzt[16]. Daher ist es auch völlig unzutreffend, die neu entstandene Bewegung mit der Bezeichnung „Globalisierungsgegner“ zu titulieren. Denn ganz abgesehen von ihren politischen Zielen, die alles andere als eine grundsätzliche Gegnerschaft zu Globalisierung beinhalten, profitiert die Bewegung in großem Maße von transnationalen Kommunikations- und Organisationsstrukturen und weiß die Vorteile einer zunehmend entgrenzten Welt für sich zu nutzen.[17]
Es ist jedoch entscheidend zu betonen, dass trotz wachsender Kooperation und Vernetzung die einzelnen Akteure der globalisierungskritischen Protestbewegung nicht in einer übergeordneten Theorie, Doktrin oder Organisation aufgehen, sondern die dezentrale Struktur, die Fixierung auf Koordination statt Vereinheitlichung und die wichtige Rolle der Selbstbestimmung erhalten bleiben.
2.2. Anliegen
Wie bereits angedeutet, lehnt die hier behandelte Protestbewegung Globalisierungs- bzw. Entgrenzungsvorgänge nicht fundamental ab. (Wobei es rechte, für Nationalautarkie eintretende Gruppen gibt, die das tun.)[18] Dies verdeutlicht sich, wenn man bedenkt, dass in Europa der Begriff „Kapitalismuskritik“ innerhalb der Bewegung oftmals synonym für „Globalisierungskritik“ verwendet wird. Diese Kritik richtet sich hauptsächlich gegen transnationale Konzerne (TNK), sowie transnationale Regimes (Weltbank, IWF, WTO etc.; TNR), die nach Ansicht der Globalisierungskritiker Interessenvertreter der TNK sind. Dabei gibt es fünf grundsätzliche Kritikpunkte:[19]
2.2.1. Die soziale Exklusivität
Der zunehmend entgrenzten und deregulierten Privatwirtschaft, die seit den achtziger Jahren besonders im Bereich des Finanzwesens und der unternehmensorientierten Dienstleistungen exponentiell gewachsen ist, ist es bis heute nicht gelungen, den ärmeren Teil der Weltbevölkerung in dieses Wachstum mit einzubinden. Nicht nur der Abstand der wirtschaftlichen Leistungskraft zwischen reichen und armen Ländern, sondern sogar die soziale Schere zwischen armen und reichen Bevölkerungsteilen innerhalb der Industrieländer klafft immer weiter auseinander.
2.2.2. Das Fehlen ökologischer Nachhaltigkeit
Im derzeitigen Weltwirtschaftssystem wird kurzfristig gewinnorientiertes Handeln gefördert. Dies geschieht durch die hohe Fluktuation von Kapital an Aktienmärkten und die von wirtschaftlichen Entscheidungsträgern. Investoren wie Manager sind meist nur kurzfristig an Firmen gebunden und daher daran interessiert, in möglichst kurzer Zeit möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften. Dies ist von ökonomischem Standpunkt eine Fehlentwicklung[20], aber insbesondere auch aus ökologischer Sicht. Durch die kurzfristige Planung wird oftmals Raubbau an der Natur betrieben. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte um den CO2-Ausstoß der Industrie, den diese aus Sorge um kurzfristige Wachstumseinbußen nicht oder nur ungern senken möchte. Dabei zeigt der 2006 veröffentlichte Report des ehemaligen Weltbank-Chefökonomen Nicholas Stern, dass die wirtschaftlichen Schäden der CO2-verursachten Erderwärmung ein Vielfaches der CO2-Reduktionskosten betragen würden.
Innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung gehen derzeit die Meinungen auseinander, auf welche Weise gerade in diesem Punkt gegenüber der Wirtschaft, der Politik und der Öffentlichkeit argumentiert werden soll: Aus der Erfahrung, dass sich TNKs und einige neokonservative bzw. –liberale Politikrichtungen rein humanistischen Argumenten nicht zugänglich gezeigt haben („Gutmenschentum“), schließt eine Gruppe innerhalb der Bewegung, im Interesse der Wirtschaft stehende Argumentationen wie den Stern-Report nutzen oder marktwirtschaftliche Lösungsansätze wie den Emissionshandel propagieren zu müssen. Andere sich als antikapitalistisch begreifende Teile der Bewegung stellen die Fähigkeit der Marktwirtschaft zur Lösung solcher Probleme grundsätzlich in Frage.
2.2.3. Die Missachtung der kulturellen Diversität
Dieses Themenfeld wird in vielfältiger Weise bespielt. Es kann sich dabei sowohl gegen TNKs und TNRs als auch gegen Regierungen richten. Letzteres beispielsweise im Falle des aktuellen Irakkrieges und ähnlichen staatlichen Unternehmungen, die das Ziel haben, einem fremden Kulturkreis das eigene kulturell bedingte Regierungssystem aufzuzwingen. Die Kritik an den Konzernen ist dabei gegen die schleichende Assimilation fremder Lebens- und Konsumkulturen an das Modell der westlichen Industrienationen gerichtet. In ihrem Streben, ihre Produktabsatzmärkte zu vergrößern, scheinen TNKs das Ziel einer global einheitlichen Konsumkultur zu verfolgen.
2.2.4. Die Missachtung der Menschenrechte
Es wird kritisiert, dass viele TNKs sich den Prozess der Entgrenzung der Welt in einer Weise zunutze zu machen, die Vorteile aus der schlechten Menschenrechtssituation in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern zieht. Einer der ersten Angriffspunkte seitens der Globalisierungskritik war die Betreibung von Sweatshops durch transnationale Modekonzerne, in denen Kleidung und Schuhe von extrem schlecht bezahlten Arbeitern unter prekären Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Gerade bei den Protesten in Seattle entlud sich der Zorn vieler Demonstranten an Filialen von Nike oder The Gap.[21] Aber auch schwerwiegenderer Menschenrechtsverletzungen werden TNKs bezichtigt, bis hin zu wirtschaftlich motiviertem Mord bzw. Massenmord. So wird Pharmakonzernen vorgeworfen, durch das Festhalten an hohen Preisen für ihre Aids-Medikamente eine wirksame Bekämpfung der Aids-Epidemie im Subsahara-Afrika zu verhindern.
2.2.5. Der Mangel an demokratischer Partizipation
Die Entgrenzung der Welt, der Boom der deregulierten Finanzmärkte und die hochentwickelte Kommunikationsinfrastruktur haben zu einer für TNKs extrem fruchtbaren Situation geführt, die darin gipfelt, dass einzelne TNKs mittlerweile Einfluss in Form von Entscheidungsmacht und Kapital haben, die dem mittlerer Nationalstaaten entspricht. Im Vergleich zu diesen tragen sie jedoch praktisch keine Verantwortung und besitzen eine extrem geringe Rechtfertigungspflicht. Darüber hinaus genießen sie noch den Vorteil grenzenloser Mobilität. Daraus ergibt sich eine Machtkonzentration in den TNKs, die die von Nationalstaaten mittlerweile übertrifft.[22] Sie gewinnen zunehmenden Einfluss auf nationale Regierungen und deren internationale Handlungsstrategien, auf die mediale Meinungshoheit und die nationalen Bildungsbetriebe. Dabei sind sie jedoch zu keinem Zeitpunkt einer demokratischen Kontrolle unterworfen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den TNRs, insbesondere bei der Gruppe der Acht (G8): Hier, so die Argumentation der Globalisierungskritiker, werden weitreichende Entscheidungen getroffen, die jeden Menschen betreffen. Mitspracherecht haben aber nur die Regierungschefs der acht größten Industrienationen, die nur zwischen 13% und 14% der Weltbevölkerung stellen.
3. Akteure und Zuschauer in Protest-Aufführungen
Fischer-Lichtes Aufführungsdefinition macht es erforderlich, die an einer Aufführung teilnehmenden Gruppen zu identifizieren und ihre Rolle zu bestimmen. Die Schwierigkeit, die Rollen von Zuschauern und Performern zu trennen wird jedoch schon bei Performances wie Dionysos in 69 von Richard Schechners Performance Group oder ganz besonders bei Marina Abramovićs Rhythm 0 von 1974 deutlich. In Rhythm 0 befand sich Abramović in einem Zustand der körperlichen Passivität, während die Besucher die Möglichkeit hatten, auf einem Tisch platzierte Objekte an ihr zu benutzen, wie immer sie auch mochten. Bei diesen Beispielen besteht noch die Möglichkeit der Unterscheidung, indem man die Kriterien von Reaktion und Aktion sowie das Vorhandensein von Inszenierungsstrategien anwendet, was nicht zuletzt durch den institutionellen Rahmen solch einer Veranstaltung ermöglicht wird. So könnte man die Besucher von Rhythm 0 eben nicht als Agierende, sondern als Reagierende beschreiben, da sie nur auf die schriftliche Anweisung Abramovićs reagierten. Ebenso hatten die Besucher der Performance vorab keine Planung ihrer Vorgehensweise vorgenommen, die Performerin hingegen schon.
Wie verhält es sich jedoch in einer nichtinstitutionalisierten Situation, in der alle teilnehmenden Gruppen eigene Inszenierungsstrategien verfolgen, die aufeinandertreffen und dadurch eine Gleichzeitigkeit von Reaktion und Aktion produzieren? Ist es im Falle einer Protestaktion im finalen Sinne wie N30 – also keines Protest-Theaters weniger Aktivisten vor einem zufälligen Straßenpublikum – überhaupt möglich, einzelnen Gruppen pauschal oder temporär die Rollen von Agierenden und Reagierenden bzw. Performern und Zuschauern zuzuordnen? Um diese Frage zu beantworten, muss man jede Teilnehmergruppe einzeln betrachten.
3.1. Die Protestbewegung
Im Falle der Protestbewegung scheint die Zuordnung zunächst klar: Sie scheint diejenige Gruppe zu sein, die die Protestaktion überhaupt ermöglicht, nämlich indem sie sie plant und durchführt. Genaugenommen ist jedoch auch diese Methode natürlich eine Reaktion auf Handlungen anderer Gruppen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die bedeutsamsten Protestaktionen anlässlich großer Veranstaltungen wie eines WTO-Ministertreffens, oder eines G8-Gipfels stattfinden, mithin also als Reaktion auf diese. Man könnte die Selbstauffassung vieler Aktivisten vielleicht sogar als die eines kritischen Publikums solcher Veranstaltungen beschreiben.
[...]
[1] Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 11.
[2] Vgl. u.a. Fahlenbrach 2002, Foster 2003, Kershaw 1997.
[3] Vgl. Schlossman 2002, S. 89.
[4] Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 14.
[5] Ebd., S. 10.
[6] Vgl. Leggewie 2003, S. 112.
[7] Vgl. Kauffman 2002.
[8] Vgl. ebd., S. 36.
[9] Vgl. Kaplan 2002.
[10] Vgl. Kauffman 2002.
[11] Vgl. ebd., S. 37.
[12] Die Definition dessen, was als Gewalt angesehen wird, ist bis heute einer der großen Streitpunkte der Bewegung. Die Standpunkte gehen von staatlichen Definitionen, die das Tragen von Körperschutz oder das Anketten an Bahngleise schon als Gewalt werten bis hin zu der Auffassung, dass Gewalt gegen Gegenstände (je nach Standpunkt nur staatlicher und firmeneigener oder auch privater Besitz) legitim sei, nicht jedoch gegen Personen.
[13] Vgl. ebd., S. 37.
[14] Ebd., S. 38.
[15] Vgl. Juhasz 2002.
[16] Vgl. Kaufman 2002, S. 40.
[17] Vgl. Leggewie 2003.
[18] Vgl. ebd., S. 54ff.
[19] Vgl. ebd., S.59.
[20] Offensichtlich sind Unternehmen, die nicht an kurzfristige Zwänge gebunden sind, lukrativer: Interessant ist hierbei der Vergleich zwischen DAX-notierten Unternehmen und Familienunternehmen in Deutschland. Letztere wachsen stärker und verdienen mehr (Fröndhoff 2006). Auch der nach Nachhaltigkeitskriterien zusammengestellte Natur-Aktien-Index hat seit seiner Einführung ein deutlich besseres Wachstum verzeichnet als konventionelle Indizes.
[21] Vgl. Cockburn et al. 2000, S.47.
[22] Vgl. z.B. Hardt/Negri 2002, Leggewie 2003, Sassen 1997.
- Arbeit zitieren
- Jan Buck (Autor:in), 2007, Die Theatralität von Proteststrategien und die Protestaktion als Aufführung am Beispiel der globalisierungskritischen Bewegung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81567
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