Das Cabinet des Dr. Caligari - Ein Vergleich zwischen dem Drehbuch und dem Stummfilm von Robert Wiene


Trabajo Escrito, 2004

20 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhalt

Einleitung

1 Zur Namensgebung

2 Rahmenhandlung

3 Binnenerzählung
3.1 Erzählperspektive und Sprache
3.2 Die Jane-Episode
3.3 Caligari: Die personifizierte Autorität

Schluss

Quellenverzeichnis

EINLEITUNG

Im Winter 1919/ 20 drehte der Regisseur Robert Wiene für die erfolgreiche Produktionsfirma Decla[1] den deutschen Stummfilmklassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI, der das wohl berühmteste Vermächtnis jener kurzen Epoche von 1918 bis 1924, die als „The German Era“[2] in die Filmgeschichte einging, werden sollte. Die Einteilung in sechs Akte zeigt die Nähe des noch jungen, experimentierfreudigen Mediums zum Theater. Besonders dank der revolutionären, expressionistischer Bildsprache entlehnten Ästhetik mit ihren perspektivisch verzerrten Bühnenbildern, verquollenen und schiefen Häusern und den scharfen Helldunkel-Kontrasten, wirkte der Film weit über die Grenzen Deutschlands hinaus stilprägend[3] und galt als der expressionistische Film schlechthin. Lange Zeit glaubte man das von den Autoren Carl Mayer und Hans Janowitz verfasste Drehbuch verschollen, bis die Stiftung Deutsche Kinemathek 1995 eine texttreue Fassung des letzten existierenden Exemplars veröffentlichte und damit erstmals einer breiten Leserschaft zugänglich machte.[4] Obwohl die Popularität des Films hauptsächlich auf dem außergewöhnlichen Dekor und den „new aesthetic ambitions for the cinema“[5] beruhte, soll die optische Aufbereitung in meiner Arbeit ausgeklammert werden. Ein Vergleich zwischen der im Drehbuch vorgesehenen Ausstattung und dem späteren Filmset würde sich hier förmlich aufdrängen.[6] Literaturwissenschaftlich interessanter sind aber ohne Zweifel die inhaltlichen und dramaturgischen Abweichungen, die nicht willkürlich vorgenommen wurden, sondern einem bestimmten Kompositionsschema folgen. In einem Drehbuch ist, im Gegensatz zum Theaterstück, eine Aufführung, die es den Sinnen zugänglich macht, zwingend angelegt. Zwischen dem Anspruch des Drehbuchs, als autonomes Kunstwerk anerkannt zu werden und seiner Funktion als zweckgerichtete, für eine Filmproduktion notwendige, Textpartitur, die mit dem Erscheinen des Films obsolet wird, besteht ein unübersehbares Spannungsverhältnis. Mein Anliegen ist, zu zeigen, dass gerade diese Auseinandersetzung, die auch zu einer partiellen Abwendung vom Drehbuch führen kann, den kreativen Prozess befruchtet.

1. Zur Namensgebung

Auf die Unterschiede in der Namensgebung soll äußerst knapp eingegangen werden, um das Verständnis der Arbeit zu erleichtern. Zur besseren Übersicht wurden die Namen tabellarisch gegenüber gestellt.

D R E H B U C H F I L M

Dr. Calligaris Dr. Caligari

Caesare Cesare

Dr. Francis, Privatlehrer Franzis

Allan, ein junger Student Alan

Medizinalrat Dr. Olfens Medizinalrat Olfens

Jane, dessen Tochter Jane

Jakob Straat, ein Gauner namenlos

Stadtsekretär Dr. Lüders namenlos

Die Namen wurden entweder orthographisch leicht verändert oder komplett gestrichen. Die Einzige Ausnahme stellt Jane dar, deren Name beibehalten wurde. Es wirkt etwas befremdlich, dass das deutsche Holstenwall nur von Menschen mit englischen oder italienischen Namen bevölkert zu sein scheint. Siegbert S. Prawer verweist auf die Funktion, die exotisch klingende Namen in der deutschen Gruselliteratur einnehmen:

„Daß die dämonischen Figuren, die in dieses norddeutsch-englische Kleinstadtidyll einbrechen italienische Namen tragen, dürfte weniger befremden - seit Hoffmanns 'Der Sandmann' [...] sind unheimliche Gesellen mit italienischen Namen in der Schauerliteratur keine Seltenheit.“[7]

Wenn in der Arbeit dezidiert auf das Drehbuch Bezug genommen wird, werde ich die Originalnamen der linken Spalte benutzen, in allen anderen Fällen halte ich mich an die Namensgebung des Regisseurs Robert Wiene.

2. Rahmenhandlung

Das Drehbuch beginnt auf der „große[n] vornehme[n] Terrasse eines Landhauses.“[8] Francis und seine Gattin Jane verbringen den lauen Abend im Kreise einiger Freunde, es herrscht heitere Stimmung und man „spricht angeregt“[9]. Im Hintergrund zieht fahrendes Volk mit zwei Zigeunerwagen vorbei. Als Francis den Tross erblickt ist er plötzlich wie versteinert und „starrt, in sich versunken, ins Weite hinaus“[10], während sich Jane liebevoll seiner annimmt. Den Gästen bleibt Francis abrupter Stimmungswandel nicht verborgen, beunruhigt und irritiert „wenden sie sich mit Fragen an die beiden“.[11]

Auf Bitten seiner Freunde beginnt er, „jene grauenvolle Geschichte vom Holstenwall“[12] zu erzählen, in die er und Jane vor mehr als zwanzig Jahren verwickelt waren. Das Unheil brach in der Gestalt eines geheimnisvollen Mannes, der sich einer Karawane aus Zigeunern und Schaustellern angeschlossen hatte, in das beschauliche Kleinstadtidyll ein.

Die Eröffnungssequenz des fertiggestellten Films weicht massiv vom Drehbuch ab. Die Lochblende öffnet sich zittrig und zeigt Franzis, der mit einem älteren Mann auf einer Parkbank sitzt, in melancholischer Versenkung. Im Hintergrund wird der Park von einem gitterartigen Flechtwerk aus Ästen und Zweigen begrenzt. Die Szene wirkt vage und unwirklich und atmet unter der ruhigen Oberfläche eine kaum auszuhaltende Spannung, die erst am Ende des Films aufgelöst wird: Franzis und der Mann sind Insaßen einer Irrenanstalt. Scheinbar völlig unmotiviert taucht Jane in einer wallenden weißen Robe auf und schreitet mit leerem Blick lemurenhaft an Franzis vorbei. Vollends in den Bann der sonderbaren Erscheinung gezogen erklärt er "Das ist meine Braut"[13] und beginnt seine Geschichte zu erzählen.

Die Rahmenhandlung ist „das vielleicht hervorstechendste Merkmal der Erzählform in Weimarer Filmen“[14]. Für Thomas Elsaesser besteht gerade in der besonderen Betonung des Erzählaktes die Andersartigkeit des Weimarer Kinos und sein historisches Verdienst, den „ ’unsichtbaren’ Erzählprozeß im Hollywoodkino“[15] zu kontrastieren. Was unterscheidet aber die Rahmenhandlung in DAS CABINET DES DR. CALIGARI von den narrativen Klammern in anderen Stummfilmen der Epoche, wie ORLACS HÄNDE, PHANTOM oder das WACHSFIGURENKABINETT ?

„Was in Das Cabinet des Dr. Caligari tatsächlich eingeführt wird, ist ein Modus, in dem die Erzählung von einer anderen Geschichte 'eingerahmt' wird, die als Motivation, als Kommentar und somit als eine Interpretation der Ereignisse dient. Da diese Narration am Ende jedoch selbst umgestürzt wird, verweigert diese Art der Verschachtelung des soeben Geschehenen auf radikalere Weise seinen Wahrheitsgehalt: betroffen ist nicht nur die Glaubwürdigkeit des Erzählers, sondern auch sein Geisteszustand. In derart extremer Form ist die unzuverlässige Narration selbst im deutschen Kino nur selten anzutreffen.“[16]

Der Film entzieht sich geschickt einem eindeutigen interpretatorischen Zugriff, da der Wahrheitsgehalt der Binnenhandlung, durch die Bewusstseinsinhalte Franzis gefiltert, jegliche objektive Referenzialisierbarkeit verliert. Wenn aber Franzis ganz offensichtlich verrückt ist, ist die Geschichte des sinistren Dr. Caligari, der den Somnambulen Cesare als willenloses Mordwerkzeug im Dienste der Wissenschaft missbraucht, dann nicht nur das Hirngespinst eines kranken Geistes? Um diese, für das Verständnis des Films zentrale Frage beantworten, zu können, lohnt ein Blick auf das Ende des Drehbuchs.

Im 20. Bild des 6. Aktes sitzt der Direktor, alias Calligaris, „hinter seinen Büchern am Schreibtisch“.[17] Die Türe ist offen und Francis, Medizinalrat Dr. Olfens, der Polizeikommissär und einige Ärzte tragen eine verhüllte Bahre in das Arbeitszimmer. Calligaris „sieht die Eintretenden mit Befremden an“[18] und tritt verwundert an die Bahre heran. Als Francis plötzlich das Tuch beiseite reißt, starrt Calligaris erst „fassungslos, dann suchend und ängstlich, auf den Leichnam Caesares.“[19] Unter Tränen bricht er neben Caesares leblosem Körper zusammen. Der alte Mann kauert wie ein Häuflein Elend auf dem Boden und löst in den Umherstehenden tiefes Mitleid aus. Gemeinsam helfen ihm die Ärzte hoch und „führen einen kindisch blöde vor sich hinlächelnden Greis aus dem Zimmer“.[20]

Calligaris hat den Verstand verloren und wird im nächsten Bild in eine Irrenzelle gebracht. Das Bild blendet langsam in den Jahrmarktsplatz in Holstenwall auf. Die Buden der Schausteller sind abgebaut und an der Stelle, wo Calligaris Schaubühne stand, erhebt sich eine Gedenktafel mit folgender Inschrift: „Hier stand das Cabinett des Dr. Calligaris. Ruhe seinen Opfern - Ruhe ihm! Die Stadt Holstenwall.“[21]

Mit der Regieanweisung „Bild blendet ab und geht allmählich über in 23. Bild“[22] bricht das 130 Seiten starke Originaldrehbuch ab. Die Binnenhandlung ist vollständig erhalten, offen bleibt aber, „ob und wie der Film zu seiner Ausgangssituation, die den Erzähler dieser Geschichte zwanzig Jahre nach ihrem Ende zeigt, nun zurückkehren sollte“.[23]

Die von mir aufgefundene Fachliteratur hat ausschließlich auf die frappierenden Unterschiede zwischen der Rahmenhandlung des Drehbuchs und dem Film hingewiesen. Jedoch soll im Interesse einer ganzheitlichen Darstellung auch eine Parallelkonstruktion des dramaturgischen Aufbaus nicht außer Acht gelassen werden. Die Schauergeschichte der zunächst rätselhaften Morde wird sowohl im Drehbuch, als auch im Film von Franzis (Dr. Francis) aus einer gewissen zeitlichen Distanz zum Geschehen erzählt. Im Drehbuch sind seit den schrecklichen Ereignissen bereits mehr als 20 Jahre vergangen und trotzdem genügt der Anblick der Zigeunerkarawane, um die Erinnerung wachzurütteln. Im Film bleibt offen, wie lange die Einlieferung Franzis in die Irrenanstalt zurück liegt. Jedoch gibt es Hinweise, die darauf schließen lassen, dass eine unmittelbare zeitliche Nähe gewahrt wurde. Franzis und Jane sind äußerlich nicht erkennbar gealtert und haben ihr jugendliches Aussehen, ungeachtet ihres psychischen Verfalls, bewahrt. Franzis versucht immer noch an die Vernunft der Wärter zu appellieren, endlich Caligaris wahre Identität zu erkennen: „Ihr glaubt alle ich sei wahnsinnig! Es ist nicht wahr, der Direktor ist Wahnsinnig! Er ist Caligari [...]“.[24] Der Doktor verspricht, den Kranken heilen zu können, da er nun die Ursachen seines Wahns diagnostiziert habe: „Er hält mich für jenen mystischen Caligari!“[25] Die verbalen Tiraden Franzis scheinen also für den Doktor einen gewissen Neuigkeitswert zu besitzen. Wäre Franzis schon länger als Insasse in der Irrenanstalt, dann hätte der Doktor Franzis Anamnese mit Sicherheit schon abgeschlossen und würde den Beschimpfungen weniger Aufmerksamkeit beimessen.

Die Rahmenhandlung in DAS CABINET DES DR. CALIGARI nimmt in der Filmgeschichte auch deshalb eine exponierte Stellung ein, da sie gegen den ausdrücklichen Willen der Autoren Carl Mayer und Hans Janowitz abgeändert wurde. Janowitz beklagte sich später, „daß eine revolutionäre Fabel zu einer konformistischen umgedeutet wurde“[26] und fühlte sich als Urheber übergangen. Dieser Vorwurf erweist sich aber als unberechtigt, da

[...]


[1] Bis 1918 hatte die 1915 gegründete Decla bereits 33 Filme produziert. Vgl.: Jung, Uli und Schatzberg, Walter: Ein Drehbuch gegen die Caligari-Legenden. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: edition text + kritik 1995. S. 123.

[2] Prawer, Siegbert. Vom „Filmroman“ zum Kinofilm. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 20.

[3] In Frankreich kursierte der Ausdruck „Caligarisme“, um den deutschen Film zu bezeichnen. Vgl.:

Schatzberg, W. und Jung, U. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 129.

[4] Vgl.: Robinson, David: Das Cabinet des Dr. Caligari. London: British Film Institute 1997. S. 14.

[5] Ebd.: S. 7.

[6] Vgl. Prawer, S. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 16: „Die Anweisungen zur Szeneriegestaltung bei Mayer und Janowitz sehen zwar hie und da 'alte winklig verbogene Gassen' vor [...] und bevölkern sie gelegentlich mit als 'gespenstisch' bezeichneten Lampenanzündern, nirgends aber findet man Hinweise auf radikale Stilisierung. Alles deutet vielmehr darauf hin, daß die Autoren normale Studiobauten mit gewöhnlichen Requisiten ('schwere Möbel und Fauteuils' usw.) im Auge hatten. Allerdings wünschten sie eine atmosphärische Verdichtung [...]."

[7] Prawer, S. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 14.

[8] Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 51.

[9] Ebd. S. 51.

[10] Ebd. S. 51.

[11] Ebd. S. 51.

[12] Ebd. S. 51.

[13] Transkription der Zwischentitel. S. 4.

[14] Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino - aufgeklärt und doppelbödig. Berlin: Verlag Vorw. 76.

[15]erk 8 1999. S Ebd. S. 76.

[16] Elsaesser, T.: Das Weimarer Kino. S.77.

[17] Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 110.

[18] Ebd. S. 110.

[19] Ebd. S. 110.

[20] Ebd. S. 110.

[21] Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 110.

[22] Ebd. S. 110.

[23] Prawer, S. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 12.

[24] Transkription. S. 8.

[25] Ebd. S. 8.

[26] Prawer, S. In: Das Cabinet des Dr. Caligari. S. 31.

Final del extracto de 20 páginas

Detalles

Título
Das Cabinet des Dr. Caligari - Ein Vergleich zwischen dem Drehbuch und dem Stummfilm von Robert Wiene
Universidad
University of Regensburg  (Institut für Germanistik)
Calificación
1,0
Autor
Año
2004
Páginas
20
No. de catálogo
V81609
ISBN (Ebook)
9783638862776
ISBN (Libro)
9783638869416
Tamaño de fichero
452 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Cabinet, Caligari, Vergleich, Drehbuch, Stummfilm, Robert, Wiene
Citar trabajo
M. A. Andreas Wutz (Autor), 2004, Das Cabinet des Dr. Caligari - Ein Vergleich zwischen dem Drehbuch und dem Stummfilm von Robert Wiene, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81609

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