Sexualität im Wandel - vom 18. Jahrhundert über die Untersuchung der Entstehungsursachen der Anti-Onanie-Bewegung bis in unsere Zeit


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2005

27 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Dörfliche Heiratspolitik und voreheliche Sexualität im 18. Jahrhundert
1.1. Dörfliche Heiratspolitik
1.2. Das Kapital der Frau
1.3. Feste und die Initiation von Beziehungen
1.4. Die Spinnstube – ein Frauenraum

2. Die Anti-Onanie-Bewegung des 18. Jahrhunderts
2.1. Zusammenfassung der Auswirkungen und thesenhafte Ursachensuche
2.2. Zeitliche Eingrenzung der Ursachensuche
2.3. Entstehung der moralischen Ablehnung der Onanie
2.4. Erste theologische Meinungen zur Onanie
2.5. Spätere wissenschaftliche Argumentationen
2.6. Die Argumentation Tissots
2.7. Fazit

3. Sexualität im 20. Jahrhundert zwischen erstem Weltkrieg und 68er-Bewegung
3.1. Die Emanzipation der Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
3.2. Sexualität in der Nachkriegszeit
3.3. Gegenströmungen in den 50er und 60er Jahren

4. Die sexuelle Revolution der 1960er
4.1. Grundlagen und Gründe der sexuellen Revolution
4.2. Interpretation der sexuellen Revolution anhand von Theorien

5. Die 70er und 80er Jahre
5.1. Großrhythmen der Wechsel der Grundhaltungen
5.2. Grobianisierte und vergiftete Sexualität bei 3 Milliarden Perversen

6. Von den 90er Jahren bis heute
6.1. Fallende Hüllen und entstehende Gegenbewegungen
6.2. Moderne Sexualwelten und der Sexualkonsens
6.3. Die Sichtweise der neosexuellen Revolution

Quellenverzeichnis

1. Dörfliche Heiratspolitik und voreheliche Sexualität im 18. Jahrhundert

Einführend sollen Heiratspolitik und voreheliche Sexualität auf dem Lande im ausgehenden 18. Jahrhundert, die traditionell ein wichtiges Thema der Volkskunde und der späteren empirischen Kulturwissenschaft sind, behandelt werden. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass die Praxis vorehelicher Beziehungen, wie wir sie heute als selbstverständlich und ungebunden ansehen, in ein kompliziertes, für die Beteiligten unumgängliches Regelsystem eingebunden war. Konkrete Auswirkungen davon waren, dass die vorgegebenen Regeln und Verhaltensnormen die Möglichkeiten zweier potentieller Ehe- oder Geschlechtspartner, sich zu treffen, zu sprechen oder Unternehmungen zusammen zu machen, stark bestimmten. Das ist weniger weltfremd, als es uns heute erscheinen mag, wenn man weiß, dass dies primär zum Schutz des Rufes der Frau geschah. Die Offenheit des Mannes für Beziehungen aller Art und seine dabei geringere Beachtung seines Rufes war den Menschen damals nicht weniger bekannt als heute, doch sollten die Bestimmungen die für Zurückhaltung offenere Frau ansprechen und dazu motivieren, sich selbst und ihren Ruf gegebenenfalls mit Bezug auf die Regeln aktiv schützen zu können.

1.1. Dörfliche Heiratspolitik

Die Parallelen zur Moderne werden umso klarer, wenn man weiß, dass Männer und Frauen vor der eigentlichen Ehe durchaus mehrere Verhältnisse eingehen konnten und dies in der Praxis auch taten. Dies diente unter anderem der eigenen Vergewisserung, dass man für eine Ehe geeignet war. Besonders in dörflichen Gemeinschaften war eine sozial wie wirtschaftlich unabhängige Existenz außerhalb der Ehe speziell für die Frau undenkbar, jedoch auch für einen Mann kein Endziel. Ledig zu sein war zu dieser Zeit ein Synonym für wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit vom Elternhaus oder dem Haushalt des Dienstherrn, der jedoch das umgekehrte Interesse wie sein Schützling hatte und dessen Alleinsein als Basis für bessere, weniger abgelenkte Arbeitskraft ansah.

Ehen wurden grundsätzlich nur zwischen den Angehörigen der gleichen sozialen Schichten geschlossen. Verhältnisse zwischen zwei Personen mit großem Standesunterschied waren unerwünscht, ebenso der persönliche Umgang einer unverheirateten mit einer verheirateten Person des anderen Geschlechts. Die Dorfgemeinschaft zeigte großes Interesse an jeder einzelnen Hochzeit, was in ihrem Interesse an der Bewahrung der sozialen wie ökonomischen Stabilität des dörflichen Sozialsystems begründet war. Aus diesem Grunde war es für die Frau auch so wichtig, vor der Ehe ihren Ruf zu bewahren, um das dörfliche Interesse nicht unnötig zu schüren und eventuelle Einsprüche gegen die zünftige Ehe zu ermöglichen oder sich gar auf der sozialen Reichweite des endgültigen Ehepartners zu bringen. Dieses Prinzip des „Alle Türen Offenhaltens“ sowie der Vermeidung jeglicher öffentlicher Aufmerksamkeit ist wiederum die Parallele zum Verhalten moderner Lediger heute, und ist primär bei der Frau zu erkennen, jedoch zumeist in engem Zusammenhang mit Konservativität oder Religiosität und in den letzten Jahren immer geringer.

1.2. Das Kapital der Frau

Als wichtigstes Kapital der Frau im ausgehenden 18. Jahrhundert ist die Mitgift zu nennen. Während ihres Gesindedienstes, also ihrer Dienstbotenschaft für einen Grund- oder Gutsherrn, musste sich die Frau ihre Mitgift für die spätere Ehe selbst zusammensparen, sie erhielt selten ein wenig Mitgift von ihren Eltern. Neben den materiellen Gütern spielten die häuslichen Qualifikationen der Frau eine wichtige Rolle für einen Ehemann. Deshalb wurden die Arbeitsfähigkeiten und auch die Arbeitsbereitschaft der Frau bereits von den anderen Knechten und Mägden des Dienstherrn oder der Eltern sowie von aufmerksamen Nachbarn sehr genau beobachtet und bewertet, was sich in der Dorfgemeinschaft schnell verbreitete. Der allgemeine Umgang einer Frau mit Männern in ihrer Umgebung erhielt besondere Aufmerksamkeit bei den „Beobachtern“, ebenso ihre anderen Umgänge, ihre Gewohnheiten, speziell mit Geld oder Kindern umzugehen. Aus dem Bild, das die anderen Dorfbewohner von der Frau entwickelten, entstand ein neben der Mitgift entscheidendes Kapital: ihr Ruf. Verschlechterte sich ihr Ruf, oder verlor sie gar ihre Ehre gänzlich, bedeutete das für eine Frau eine einschneidende Veränderung und Einschränkung ihrer Handlungs- und Lebensmöglichkeiten. Eine Frau, die ihren guten Ruf oder gar (zumindest im Glauben des Dorfes) ihre Ehre verloren hatte, wurde zum „Freiwild“ für die Männer. Sie wurde mit Nachrufen traktiert und hatte ihr Ansehen bei den anderen Frauen verloren, die durch engeren Kontakt mit ihr ihren eigenen Ruf gefährdet hätten.

1.3. Feste und die Initiation von Beziehungen

Um ein Zusammentreffen eines Mannes mit einer Frau zu ermöglichen, waren damals wie heute Feste beliebte Gelegenheiten. Feiern und Tänze waren für die ledige Jugend ein Ausdruck ihrer Kultur und geeigneter Raum, sich einerseits nach potentiellen Partnern umzusehen oder sich in der Gemeinschaft der anderen über sie zu informieren, andererseits seinen eigenen Ruf zu verbessern. Der symbolische Akt des „Bier Bezahlens“ spielte beim Zusammentreffen eines Mannes mit einer Frau eine wichtige Rolle für den Mann. Mit Hilfe eines Getränks, nicht zwangsläufig eines Bieres, bestand die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen und sich einen ersten persönlichen Eindruck voneinander, abseits der allgemein dorfweit bekannten Gerüchte, zu verschaffen. Das anschließende Bezahlen des Bieres wurde dabei zur Bewahrung der eigenen Ehre vom Mann übernommen und war ein Symbol für die Freude, die ihm das Gespräch mit der Frau gemacht hatte. Hatte auch die Frau Gefallen am Gespräch gefunden, überreichte sie dem Mann einen Ring oder ein anderes Schmuckstück als Pfand. Dies war vorausschauend dazu gedacht, um im Falle einer späteren Schwangerschaft den Mann zu einer Heirat zu zwingen. Im Extremfall wurden solche Fälle sogar vor Gericht verhandelt, wenn sich ein Mann weigerte, die Frau zu heiraten oder seine Beteiligung an der Schwangerschaft zuzugeben. In der Regel ermöglichte das Schmuckstück es dem Mann aber erst, die folgenden Schritte zu unternehmen.

Die Aufgabe der Organisation von Tänzen sowie die Aufforderung zum Tanzen, die traditionell ein Initiationspunkt für eine Beziehung sein konnte, fiel der männlichen Jugend zu. Eine Frau, die mit einem Mann tanzen wollte, konnte sich durch entsprechende Positionierung nahe der Tanzfläche zum Tanz anbieten, jedoch selbst nicht zum Tanz auffordern. Nach einem Tanz oder einer Feier oblag es dem Mann, die Frau nach Hause zu begleiten. Mit dem Angebot des Geleitens nach Hause gab der Mann der Frau ein Chiffre, ein geheimes und doch allen bekanntes Zeichen, das sie annehmen oder ablehnen konnte. Nahm sie es an, verließ das Paar die Gesellschaft und war zum ersten Mal unter sich. Da der Heimweg für gewöhnlich im Dunkeln stattfand, entfiel zumindest die optische gesellschaftliche Kontrolle – alles konnte nun zwischen den beiden passieren, was ihnen in der Öffentlichkeit ihres beiderseitigen Rufes wegen nicht möglich war.

1.4. Die Spinnstube – ein Frauenraum

Der Begriff der Spinnstube bezeichnet keinen fest stehenden Raum, sondern einen Brauch, der vor allem auf dem Lande verbreitet war. Die Spinnstube wurde abwechselnd auf den Höfen oder in den Wohnhäusern der verschiedenen Teilnehmer abgehalten und war ein geselliges Beisammensein bei der Handarbeit des Spinnens, was aber hauptsächlich der Unterhaltung der Teilnehmer diente. Besonders an langen Winterabenden war neben dem Erzählen von Geschichten, wobei oft auch noch männliche Personen anwesend waren, die Rufproduktion zwischen den Frauen ein Hauptpunkt der Gespräche. Die Spinnstuben waren, sobald die Frauen unter sich sein konnten, ein Brennpunkt ihrer weiblichen Macht, den Ruf aller außerhalb des Raumes befindlichen Personen, ob männlich oder weiblich, nachhaltig zu verändern.

Die Spinnstuben waren also kurz gesagt ein Zentrum des dörflichen Klatsch und Tratsch, hatten jedoch neben der gemeinschaftlichen Perspektive auch ein produktives Ziel. Die Spinnstubengemeinschaft produzierte kollektiv einen Rock oder ein Kleid als Geschenk für eine Braut, die in aller Regel nicht Mitglied der Gemeinschaft war, sondern beispielsweise als Nächste im Dorf heiraten wollte. Das Kleidungsstück hatte neben seinem beachtlichen materiellen Wert auch einen symbolischen: je größer es war, desto größer war auch das Ansehen der Frau in der Gemeinschaft der anderen Frauen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen den Frauen der Spinnstube und den anderen des Dorfes nicht von Bedeutung, da die Produktion des Rufes von Personen sich verständlicherweise über z.B. andere Spinnstubengemeinschaften weiter verbreitete.

Obligatorisch war in den Spinnstuben auch der Besuch der Männer, sofern sie nicht von Anfang an, beispielsweise musizierend, anwesend waren. Die Möglichkeit der Männer, die Spinnstuben zu besuchen war nach bestimmten Regeln festgelegt, beispielsweise konnte der Zutritt zur Spinnstube für Männer vor 20 Uhr verboten sein. Weil es sich um eine weibliche Gesellschaft handelte, mussten sich die Besucher an die Spielregeln der Frauen halten, sie waren jedoch trotzdem überaus interessiert daran, zumindest zu den zugelassenen Zeiten an den in gewissem Sinne mystischen Ort der Rufproduktion zu gelangen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden teilweise sogar polizeiliche Spinnstubenordnungen erlassen, um sittliche Ausschreitungen, die bisweilen vorgekommen waren, zu verhindern. Dies zeigt, dass trotz aller theoretischen Konservativität der damaligen Gesellschaftssysteme die Praxis häufig anders aussah – was sich bis heute nicht geändert haben dürfte.

2. Die Anti-Onanie-Bewegung des 18. Jahrhunderts

2.1. Zusammenfassung der Auswirkungen und thesenhafte Ursachensuche

Im Jahr 1712 erschien in London anonym das Werk „Onania“, in dem diverse Krankheiten wie Pocken und Tuberkulose in der Masturbation begründet wurden. Im Zuge der europaweit entstehenden Anti-Onanie-Bewegung wurde „Onania“ in viele europäische Sprachen übersetzt. Zwischen 1770 und 1800 erschien eine regelrechte Flut an Literatur über Gynäkologie, die Anatomie des Menschen und Selbstbefleckung im religiösen und wissenschaftlichen Sinn. Interessant ist, dass zunächst die weibliche Onanie vollständig verleugnet wurde. Die offizielle wissenschaftliche Begründung dafür war die „eingepflanzte Schamhaftigkeit“ der Frau, die es ihr unmöglich machte, solcherart verbotene und sinnlose Dinge zu tun. Erst viel später erfolgte der Umschwung zur geschlechtsunspezifischen Betrachtung: die weibliche Onanie wurde als genau so gefährlich wie die männliche bezeichnet und gesellschaftlich ebenso angefeindet. Die Onanie wurde als eine Krankheit angesehen, die sich wie eine Epidemie ausbreitete und bekämpft werden musste. Den Personen, die Masturbation praktizierten, wurden drastische und oft lebensbedrohliche Folgekrankheiten prognostiziert, die sich mit der Zeit wandelten und ausgeschmückt wurden. So waren z.B. rote Pusteln für viele ein Erkennungszeichen für einen häufig masturbierenden und alle Warnungen ignorierenden Menschen. Nur wenige hatten Mitleid mit den betroffenen Personen oder spürten ein Bedürfnis, ihnen zu helfen, sie also von ihrer Krankheit oder Sucht zu befreien. Beständig wurde den Onanierenden Unfruchtbarkeit angedroht, darüber hinaus wechselnde Krankheiten mit oft tödlichem Verlauf, wie beispielsweise die oben genannte Tuberkulose.

Als Ursprung der Ablehnung der Onanie wird meist die männliche Angst vor der „weiblichen Unersättlichkeit“ angesehen, die biologisch darin begründet ist, dass die sexuelle Erregung der Frau länger anhalten kann und meist langsamer abklingt, so dass sie im Gegensatz zum Mann, dessen Sexualpotenz begrenzt ist, unersättlich erscheint. Um der Frau mit der Onanie nicht ein nebenwirkungsfreies Mittel zur Befriedigung ihrer Lust in die Hand zu geben und damit selbst an der Stelle überflüssig zu werden, die für ihn überaus bedeutsam ist, soll der Mann mit Hilfe der männlich dominierten Wissenschaft deshalb die Anti-Onanie-Bewegung ins Leben gerufen haben, die erst später durch die Kirchen eine gewisse Unterstützung erfuhr. Tatsache ist aber, dass bei genauerer Untersuchung der Einfluss der Kirche auch in die Wissenschaften zu dieser Zeit wesentlich bedeutender und letztendlich doch der Auslöser der Anti-Onanie-Bewegung war. Außerdem erscheint in dieser Argumentation unlogisch, dass die Anti-Onanie-Bewegung zwar gegen Frauen-Onanie abzielte, die meiste Zeit über aber die männliche Onanie bekämpfte. Die Entwicklung und Entstehung sollen im nächsten Teil genauer untersucht werden.

2.2. Zeitliche Eingrenzung der Ursachensuche

Man kann die Anti-Onanie-Bewegung grob in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einordnen. Ihren Höhepunkt erlebte sie von 1770-1800, als eine wahre Flut von Schriften die Selbstbefleckung anprangerte und Ärzte viele Krankheiten auf die Masturbation zurückführten. Die Bewegung nahm jedoch schon um 1700 in ersten, deutlich Stellung beziehenden Schriften ihren Anfang, was später gezeigt werden soll. An dieser Stelle soll zunächst das moralische Zustandekommen der Ablehnung von Onanie aufgezeigt werden, später werden erste Vertreter der theologischen und wissenschaftlichen Gegentheorien vorgestellt. Die Hauptphase der Anti-Onanie-Bewegung nach 1770 findet hier keine genaue Darstellung, da es sich lediglich um eine Untersuchung der Ursachen der Bewegung handelt.

2.3. Entstehung der moralischen Ablehnung der Onanie

Der Anfang lag in der von Martin Luther im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts ins Leben gerufenen Reformation, auf die hier nicht genauer eingegangen werden soll. Die Reformation rief einen in verschiedenen Quellen als „zweite Reformation“ oder „Reformation innerhalb der Reformation“[1] benannten Prozess der Trennung von Staat und Kirche hervor, dessen Hauptphase zwischen 1650 und 1800 eingeordnet wird, der aber genau genommen selbst heute noch nicht vollständig abgeschlossen ist[2]. Erste Ergebnisse waren, dass den Menschen ihre Verhaltensweisen nicht mehr staatlich vorgeschrieben wurden, sondern dass die Kirche, der man sich dank Luther zu- oder abwenden konnte, die Verhaltensweisen verordnete. Die staatliche Kontrolle entfiel, und die Gesellschaft, die vor der Reformation weder zur eigenen Gewissensprüfung noch zur inneren Beständigkeit geneigt hatte, begann sich ebenfalls zu wandeln. Statt sich wie vormals der Politik zuzuwenden, um seine religiösen Interessen, die mit dem Staat eng verknüpft waren, zu wahren, also primär um die Möglichkeit ins Himmelreich zu kommen nicht zu verlieren, „mussten“ die Menschen sich nun ihrer Familie zuwenden, die von der Kirche als ein Idealbild für ein gutes Leben angesehen wurde. Zuwendung zur Familie bedeutete ein Durchleuchten von sich selbst und anderen, um möglichst optimal dem biblischen Bild der Familie zu entsprechen. „Wo vorher der Kampf gegen die Feinde des Gottesstaates im Mittelpunkt stand, tritt jetzt vermehrt und fast ausschließlich die Kontrolle des eigenen Verhaltens.“[3] Da die Kirche jedoch nicht aktiv kontrollierte und den Menschen nicht genau klar war, wie nah sie sich an das biblische Bild fügen sollten, entstand, quasi zur Sicherheit, eine übermäßige Frömmigkeit, die über die kirchlichen Dogmen hinaus ging. Die neu entstandene Selbstkontrolle erzeugte eine rationale Bedachtheit jeden Handelns. Diese neue Form, seine Religion auszuüben, wird als rigider Protestantismus bezeichnet.

Der rigide Protestantismus inkludierte die ständige Selbstkontrolle und Reflexion des eigenen Handelns und eine Abgleichung mit der Bibel, die vorschreibt, zwar in der Welt der Sinne zu leben, aber ihre die Sinne betörenden Gefahren zu meiden und in keinem Fall Lust daran zu finden. Das Reich der Sinnlichkeit sieht die Bibel als das Reich des Teufels, und der Christ muss sich für sein Leben entscheiden, ob er Gott oder die Welt lieben möchte. Liebt er die Welt und empfindet die Lust am Fleisch und am Leben, liebt er etwas Vergängliches. Entscheidet er sich dagegen für Gott, liebt er für alle Ewigkeit und das Leben auf Erden ist nur ein Vorspiel und Test für ihn. Das Prinzip der Kirche, den Menschen ihre Vergänglichkeit bewusst und ihnen damit Angst zu machen, um sie an den Glauben zu binden, ist altbewährt und half besonders dem rigiden Protestantismus in seiner Verbreitung.

2.4. Erste theologische Meinungen zur Onanie

Die Vermeidung jedweder Fleischeslust bedeutete auch den Verzicht auf die Lust am eigenen Fleisch, was den meisten Predigern zwar instinktiv klar war, aber nur langsam im Lauf der Zeit schriftlich gefasst und mit Argumenten untermauert wurde. Die Theologen, die die entsprechenden Schriften verfassten, sahen den Körper des Menschen gemäß den Korintherbriefen als Eigentum Gottes und Wohnort des heiligen Geistes. Bei Selbstbefleckung sahen sie den Stand des heiligen Geistes gefährdet, er würde wahrscheinlich den Körper verlassen und Gott würde den betreffenden Menschen aufgeben. Zu den daraus möglicherweise resultierenden Krankheiten soll später noch einiges erwähnt werden. Die Geistlichen verfassten die erste Literatur zum Thema Selbstbefleckung in der Gewissheit, die meisten Menschen wüssten in diesem Bereich nicht genau, was sie als Sünde und was als Nicht-Sünde ansehen konnten, da das Thema in der Bibel nicht erwähnt wird. Im gesamten 17. Jahrhundert wurde, vor allem in Großbritannien, das Thema Onanie in der Literatur zunehmend häufiger angeschnitten.

Ein Beispiel sei die Predigt- und Traktatliteratur „Tentations, their nature, danger, cure“ von 1640, die der puritanische Theologe Richard Capel verfasste. Als erster deutscher Theologe schrieb Johann Friedrich Osterwald, geboren 1663, um 1700 in oben genanntem Glauben, die Menschen vor der sich stark verbreitenden Sünde, vor der so wenig gewarnt wurde, retten zu können, die „Warnung vor der Unreinigkeit“. Ein Problem der Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts war ihre Unklarheit darüber, inwieweit die Bereiche der Unreinheiten benennbar waren und welche Begriffe vermieden werden sollten. Osterwald, der alle Problembegriffe vermieden hatte, wurde in der schon beschriebenen, nur wenige Jahre später erstmals erscheinenden „Onania“ dafür stark kritisiert. „Onania“, ab etwa 1710 anonym erschienen, forderte erstmals die offenere Verwendung der Begriffe, die von Kirchenmännern meist gemieden wurden. Andere Autoren unterstützten diese Forderung später.

Ein Beispiel sei der lutherische Prediger und spätere Pfarrer und Arzt Christian Gerber, der versuchte, die allgemeine Ablehnung der Onanie mit kirchlichen Argumenten zu begründen. Er schrieb vor allem an onanierende Ehemänner, um sie vor den Folgen zu warnen. Ehe und Kinder sind nach seiner Ansicht ein Gnadengeschenk Gottes. Wer seine Kraft (also seinen Samen), sei es auch nur ein Mal, anders verschwende, sündige. Gott verstünde das als einen Misstrauensbeweis und ein Zeichen von Unglauben, weil man Gottes Geschenke, die Kinder, verschmähe. Das Argument, dass ein Mann bereits Vater von zahlreichen Kindern sei und durch weitere Kinder einen sozialen Abstieg befürchtete, sei ungültig, weil Gott dafür Sorge trage, dass es seinen Kindern gut gehe. Der Befehl Gottes, dass die Menschen fruchtbar sein und sich vermehren sollten, werde missachtet, man vergrößere Gottes Reich um seines eigenen Fleisches Willen nicht. Gerbers letztes Argument ist, dass der Ehemann mit seiner Onanie, sei sie auch im Beisein seiner Frau, den Ehestand und die von Gott genehmigte Lust ausnutze, jedoch dabei alle Frucht und alle Mühen vermeide. Gerber nennt dies onanistische Unzucht und unverantwortliche Keuschheit; Begriffe, die einer kirchlichen Verdammnis der Onanie gleichkommen. Zurückhaltender nennen andere Autoren die Onanie eine unreine Einbildung der Empfindung, die Gott dafür vorgesehen hat, die Fortpflanzung (und nur sie) angenehmer zu machen. Onanie wird an mehreren Stellen mit Selbstmord verglichen, der ja theologisch wie juristisch auch schlimmer sei als der Mord an einer anderen Person.

[...]


[1] Braun 1995: 105

[2] Ebd.

[3] Ebd.

Fin de l'extrait de 27 pages

Résumé des informations

Titre
Sexualität im Wandel - vom 18. Jahrhundert über die Untersuchung der Entstehungsursachen der Anti-Onanie-Bewegung bis in unsere Zeit
Université
University of Tubingen  (Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft)
Cours
Seminar Liebe – Semantiken, Symbole
Note
1,0
Auteur
Année
2005
Pages
27
N° de catalogue
V81683
ISBN (ebook)
9783638862813
ISBN (Livre)
9783638864640
Taille d'un fichier
471 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sexualität, Wandel, Jahrhundert, Untersuchung, Entstehungsursachen, Anti-Onanie-Bewegung, Zeit, Seminar, Liebe, Semantiken, Symbole
Citation du texte
Benjamin Pape (Auteur), 2005, Sexualität im Wandel - vom 18. Jahrhundert über die Untersuchung der Entstehungsursachen der Anti-Onanie-Bewegung bis in unsere Zeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81683

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