Zur Ästhetik der Auslassungen bei Marguerite Duras

Am Beispiel von "Le ravissement de Lol V. Stein" und "India Song"


Trabajo Escrito, 2004

29 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhalt

1. Zu dieser Arbeit

2. Le ravissement de Lol V. Stein (1964)

3. Lola Valerie Stein
3.1. Lols Spaziergänge

4. Ein Buch der Leere.
4.1. Jaques Hold- ein unwissender Erzähler
4.2.Orte.

5. Die Ballszene
5.1. Die Triangle-Konstruktion
5.2. Die Bedeutung der Blicke

6. India Song (1974)

7. Der Film als Text über das Nichts
7.1. Die Langsamkeit und Statik des Films

8. Der Film als Text
8.1. Die Stimmen
8.2. Die Diskrepanz zwischen Bild und Ton

9. Abschließende Betrachtung

10. Bibliographie

1.Zu dieser Arbeit

Die Romane der Marguerite Duras werden zurecht als „Werke der Leere“ bezeichnet, da sie dem Leser das Gefühl vermitteln, niemals ganz in das Geschehen eindringen zu können, ihn aber dennoch mit ihrer Undurch-dringlichkeit fesseln. Mit dieser einzigartigen „écriture feminine“ wird Marguerite Duras oftmals als Wegbereiterin des nouveau roman bezeichnet, obwohl sie selbst über ihren Schreibstil sagt, sie habe niemals bewusst die Intention verfolgt, eine neue Romanform zu erschaffen. „Von einer bewusst durch-geführten Suche nach einer neuen Romanform kann bei ihr keine Rede sein.“[1] Dennoch ist es ihr gelungen, eine nie zuvor da gewesene, faszinierende Art des Schreibens zu entwickeln.

So wie ihre Romane als „Bücher über das Nichts“ bezeichnet werden, kann man ebenfalls über ihre Filme sagen, dass sie trotz der Reduktion von Ereignissen sowie generellen Informationen über das Geschehen den Zuschauer in ihren Bann zu ziehen vermögen, obwohl sie ebenfalls „das Nichts“ thematisieren. Mit dieser für Duras charakteristischen „Ästhetik der Auslassung“ habe ich mich in der folgenden Arbeit am Beispiel ihres Romans Le Ravissement de Lol V.Stein aus dem Jahre 1964 und dem 1974 publizierten Film India Song beschäftigt.

2. Le ravissement de Lol V. Stein (1964)

Der 1964 erschienene Roman Le ravissement de Lol V. Stein ist der Beginn einer aus sieben Romanen und Filmmanuskripten bestehenden Textreihe, aus der später der Cycle de Anne Marie Stretter bzw. der India-Song-Komplex hervorgeht. Gemeint ist hiermit die aus den drei Werken, Le ravissement de Lol V. Stein (1964), Le Vive-Consul (1965) und India Song (1974) bestehende Trilogie, in der Anne Marie Stretter und Lola Valerie Stein die beiden Haupt-Frauenfiguren verkörpern. Die Namensgebung der Schlüsselfigur, Anne Marie Stretter, geht auf ein Kindheitserlebnis der Autorin zurück: Damals begegnete diese in Vinh Long einer Dame namens Elisabeth Striedter, welche eine außergewöhnliche Faszination auf die Autorin ausübte. Duras betont, dass es vielleicht allein die Ausstrahlung dieser Madame Striedter gewesen sei, welche sie zum Schreiben animierte. “Sie hat mich vielleicht dazu gebracht zu schreiben. Vielleicht ist es diese Frau.“[2] Die in sich gekehrte, sehr interessante Gattin eines französischen Verwalters in Laos wurde so zum Prototyp der berühmten Romanfigur mit dem sehr ähnlich klingenden Namen, Anne Marie Stretter.

Zur Erschaffung der Figur der Lola Valerie Stein wurde Duras von einem geisteskranken Mädchen namens Manon inspiriert. Beeindruckt von Manons Schönheit, ihrem leeren ausdruckslosen Blick und ihrer ständigen innerlichen Distanz zur Welt erschuf Duras die Figur der Lola Valerie Stein. Ihre Namensgebung geht auf eine Freundin Duras’ namens Loleh Bellon zurück.[3]

Duras schloss den Roman am Ende einer ihrer zahlreichen Alkoholentzie-hungskuren ab, kurz nachdem sie sich von ihrem langjährigen Liebhaber, Gerard Jarlot, getrennt hatte. Ähnlich wie die Hauptfigur des Romans, Lola Valerie Stein, war Duras zu dieser Zeit ebenfalls auf sich allein gestellt und durchlebte einen mühsamen Prozess der Ich-Findung. „Wie Marguerite später zugibt, durchlebte auch sie eine Phase der Hoffnungslosigkeit.“[4] Duras sagt, sie habe sogar Angst davor gehabt, das Buch zu Ende zu schreiben „Es war zugleich das Buch, das fertigzustellen ich größte Lust hatte und dessen Beendigung am härtesten war[5], da nach dem Abschluss der Kur eine ungewisse Zukunft auf sie wartete. Des Weiteren hatte die Autorin bereits eine Art vertraute Bindung zur der von ihr selbst erschaffenen Romanfigur entwickelt und hatte Skrupel, die Person der Lol V. Stein loszulassen. Es entstand eine sonderbare Beziehung zwischen der Autorin und ihrer Romanfigur. Duras betonte mehrmals, dass es ihr erschien, als sei es Lola Valerie Stein gewesen, von der sie beherrscht wurde- und nicht umgekehrt. Für die Schriftstellerin erhielt die Romanfigur während des langjährigen Schaffensprozesses eine Art Autonomie, so dass sie selbige, wie sie sagt, nicht mehr beherrscht habe, aber dennoch so fasziniert und besessen von ihrer eigenen Figur gewesen sei, dass sie habe weiter schreiben müssen. „Un roman existe quand son auteur est possédé par son sujet. “[6] Nach Beenden des Romans und der Produktion des Films India Song betonte die Autorin, sie habe Lola Valerie Stein zu diesem Zeitpunkt endlich loslassen können, und da sie selbige mit dem Abschluss der Werke getötet habe, trauere sie nun sogar um ihre Lol.[7] Es zeigt sich, dass die Romanfigur, obwohl sie der Imagination der Autorin entstammt, ein wichtiger Teil Duras’ Leben, vielleicht sogar ihre Vertraute geworden war.

Am ursprünglichen Manuskript unternahm Duras nur wenige Korrekturen. Sie strich lediglich die letzte Seite, die den Krankenwagenwagentransport der völlig entkräfteten Lol V. Stein beinhaltet. Im tatsächlichen Roman finden wir einen völlig offenen Schluss vor, in dem die junge Frau in dem Roggenfeld vor dem Hotel du Bois einschläft, aus dem sie das Liebespaar, Jaques Hold und Tatiana, bei ihrem Liebesspiel beobachtet hat.

Wie in vielen ihrer Romane beschreibt Duras auch in diesem Werk die Leidenschaft und den Schmerz einer unerfüllten Liebe und die damit verbundene Verzweiflung, die seelischen Konflikte und die Einsamkeit der Menschen. Aber auch Tod, Wahnsinn und Gleichgültigkeit sind Themen des Romans. Duras stellt hierbei die Liebe als eine Art Naturkraft dar, der sich niemand entziehen kann, ohne Rücksicht auf ethische Grundsätze und Verpflichtungen, was ebenfalls typisch für ihre Werke ist.

3. Lola Valerie Stein

Lola Valerie Stein kann keinesfalls als Roman heldin im klassischen Sinne bezeichnet werden. Vielmehr ist sie eine entfremdete Frau, die weder sie selbst noch eine andere ist und völlig realitätsfern in ihrer eigenen Welt lebt. Laut Berichten ihrer Schulfreundin Tatiana Karl war sie schon immer anders als Gleichaltrige und schien auf eine gewisse Art der Welt entrückt zu sein.

Schon im Lyzeum … fehlte Lol etwas, um … da zu sein. … Ihre Sanftmut- aber auch ihre Gleichgültigkeit, wie man bald entdeckte- waren ungewöhnlich, niemals schien sie zu leiden oder bekümmert zu sein …[8]

Als ihr Verlobter, Michael Richardson, sie auf einem Ball in T. Beach vor den Augen aller Gäste verlässt, zeigt Lol keinerlei Gefühlregungen. Zwar wird sie für kurze Zeit in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, gilt aber bald als geheilt, woraufhin sie Jean Bedfort, den sie kaum kennt, heiratet. Sie zieht mit ihm nach U. Bridge, wo die beiden eine Familie gründen. In ihrem Alltag dort wird ihr Desinteresse gegenüber allen weltlichen Dingen immer deutlicher. Das einzige, was sie beschäftigt, ist eine bestimmte fesselnde Sehnsucht, der Wunsch nach dem Zustand der Verzückung, welchen sie damals in der Ballnacht erlebte, als i Michael Richardson sie verließ. Sie ist in gewisser Weise eine Verbannte, die diesem Begehren so sehr verfallen ist, dass sie sich selbst nicht mehr als realen Teil ihres Umfeldes betrachtet.Den Tod ihrer Mutter nimmt sie ohne jegliche Gefühlsregung zur Kenntnis. Es scheint, als habe sie diese Nachricht gar nicht in ihr Bewusstsein aufgenommen. „Der Tod ihrer Mutter- nach ihrer Heirat hatte sie sie so wenig wie möglich zu sehen gewünscht- entlockte ihr keine Träne.“[9] Lol lebt willenlos in einer Art Trance, sie führt ein Leben „als ob“,[10] in einer Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und der Welt, die sie umgibt. Zwar kümmert sie sich mit äußerster Sorgfalt um ihren Haushalt und um ihre Kinder, dennoch erscheint ihr die Familie wie alles andere auch, völlig gleichgültig.

Sie widmete die Vormittage vollkommen dem Haushalt, den Kindern, der feierlichen Ausübung jener so strengen Ordnung, ... .[11]

Die Wände sind kahl, weiß. Alles ist von einer peinlichen Sauberkeit und einer geradlinigen Ordnung, die Sessel stehen fast alle an den Wänden aufgereiht, …[12]

Auf Grund dessen ist der Leser nicht in der Lage, ihr Verhalten nachzuvollziehen. Da Lol keine spezifischen, positiven oder negativen Charaktereigenschaften besitzt, ist sie nicht greifbar. Die Autorin trennt also nicht zwischen Gut und Böse und stellt das oftmals sehr konfuse Verhalten Lols dar, als sei es das einzig Richtige und Denkbare. Die Personenbeschreibungen enthalten keinerlei Wertungen, wodurch der Leser den Eindruck erhält, als seien die Romanfiguren nicht bewusst durch die Autorin gelenkt, als durchschaue Duras selbst ihre Figuren nicht. Zwar wirkt Lol in einer Hinsicht eigenschaftslos, aber durch die Unmöglichkeit einer Charakterisierung dennoch autonom.

Durch die vielen Unbestimmtheitsstellen im Bezug auf Lols Charakter drängt sich dem Leser automatisch das Bedürfnis auf, das Wesen der undurchsichtigen Hauptperson erfassen zu müssen, was ihm jedoch nicht gelingt: Dieses Phänomen beschreibt auch der Erzähler, Jaques Hold.

Es war meine erste Entdeckung, die sie [Lol] betraf: nichts von Lol zu wissen, bedeutete schon, sie zu kennen. Man konnte, so schien es mir, noch weniger, weniger und weniger über Lol V. Stein wissen.[13]

Je mehr der Leser Lola Valerie Stein und ihr gleichgültiges Verhalten zu verstehen versucht, desto mehr erscheint sie ihm als eine Art Geist. Mit jedem Satz, der sie scheinbar näher beschreibt, zweifelt er stärker an einer wirklich greifbaren Substanz der abnormen Person Lols.[14] Sie wird „für die, die sie aus der Nähe betrachten wollen, zu gefährlichen Rätseln“.[15] Mehr und mehr entwickelt sie sich zu einem Nichts und existiert innerhalb ihres nutzlosen, vergeudeten Lebens, ohne wirklich da zu sein. „Sie sind da, ohne wirklich zu sein. Eher sieht man Körperposen zu statt Körpern.“[16] Diese Profillosigkeit von Protagonisten ist typisch für die Romane der Duras. „Die Figuren ... sind nicht identifizierbar. Sie haben keine besonderen Merkmale, Vorlieben, Laster.“[17] Lols einzig spezifische Eigenschaft ist ihre Anonymität, die bewirkt, dass eine die undurchdringlichen Personen sehr generalisierbar werden: Obwohl eine Identifikation mit Lol unmöglich erscheint, könnte sie, gerade weil sie so anonym ist, auch als Verkörperung aller Frauen im Allgemeinen stehen

[...]


[1] Wilhelm, Kurt : Der Nouveau Roman. Ein Experiment der französischen Gegenwartsliteratur. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1969. S.127

[2] Vircondelet, Alain : Marguerite Duras. Freiburg :Beck & Glückler Verlag 1992.S.402

[3] Vgl. Adler, Laure : Marguerite Duras. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag 2000. S.431

[4] Vgl. Adler, Laure: Marguerite Duras. a.a.O. S.436

[5] Vgl. Adler, Laure: Marguerite Duras. a.a.O. S. S.435

[6] Wilhelm, Kurt: Der Nouveau Roman. Ein Experiment der französischen Gegenwartsliteratur. a.a.O.

S.217

7 Vgl. Borgomano, Madeleine. Filmisches Schreiben. In: Marguerite Duras. Hrsg. Von Ilma Rakusa.1.

Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988.S.253

[8] Duras, Marguerite: Le ravissement de Lol V. Stein. Frankfurt am Main : Suhrkamp Taschenbuch

Verlag 1966. S.8

[9] ebd.S.25

[10] Vgl. Dahm, Michaela: Marguerite Duras und der Raum des Unmöglichen. Eine Werkgeschichte.

Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2000. S.79

[11] Duras, Marguerite : Le ravissement de Lol V. Stein. a.a.O. S. 35

[12] ebd. S.73

[13] Duras, a.a.O. Marguerite: Le ravissement de Lol V. Stein. a.a.O.S.67

[14] Vgl. von Wysocki, Gisela. Anonymität als Eigenschaft. In: Marguerite Duras. Hrsg. Von Ilma

Rakusa.1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S.60

[15] Vgl. Chapsal, Madeleine: Tiefer in die Verwirrung. In: Marguerite Duras. Hrsg. Von Ilma Rakusa.

1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S.123

[16] von Wysocki, Gisela: Anonymität als Eigenschaft. In: Marguerite Duras. Hrsg. Von Ilma Rakusa.

1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S.61

[17] Meise, Helga. Der ekstatische Blick. In: Marguerite Duras. Hrsg. Von Ilma Rakusa.1.Auflage.

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S.84

Final del extracto de 29 páginas

Detalles

Título
Zur Ästhetik der Auslassungen bei Marguerite Duras
Subtítulo
Am Beispiel von "Le ravissement de Lol V. Stein" und "India Song"
Universidad
University of Siegen
Calificación
1,3
Autor
Año
2004
Páginas
29
No. de catálogo
V82162
ISBN (Ebook)
9783638862165
ISBN (Libro)
9783638862202
Tamaño de fichero
474 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Auslassungen, Marguerite, Duras
Citar trabajo
Bettina Arzt (Autor), 2004, Zur Ästhetik der Auslassungen bei Marguerite Duras, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82162

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