Die sprechkundliche Interpretation kann als Ziel - abgesehen vom tieferen Verstehen und Erleben ihrer Objekte allgemein - dreierlei besonders anstreben:
1. Sie kann die Entstehungsbedingungen des Sprachgebildes aus der psycho-physischen Konstitution und Sprechsituation des Verfassers erklären.
2. Sie kann darauf aufbauend hauptsächlich den gültigen Vortrag vorbereiten. Dabei geht sie davon aus, dass der Sprecher diesen einer idealen, objektiven Schallform annähern kann, die der vom Dichter gehörten entspricht.
3. Schließlich kann sie, wie wir an vier repräsentativen Chansons erproben wollen, alle möglichen Einflüsse von der «Partitur» auf die Darbietung überhaupt untersuchen.
Unser Hauptaugenmerk richten wir also auf die Beziehungen zwischen dem schriftlich fixierten Text und der lebendigen Schallform im Vortrag. (Wenn, wie beim literarischen Chanson häufig, Texter und Interpret beziehungsweise Vortragender dieselbe Person sind, das heißt der Chansonnier seinen Vortrag zuerst innerlich hört, dann vorträgt und dabei ausprobiert und erst zuletzt aufschreibt, ist diese Beziehung nur um so inniger.)
Wir versuchen an vier meisterhaften Chansons, deren Wirksamkeit im Vortrag genügend erprobt worden ist und die zugleich Beispiele für vier historisch ausgeprägte Stilgruppen darstellen, beide Ausgangsmöglichkeiten: die vom Text und die vom Vortrag.
Inhaltsverzeichnis
- Die Anregung aus Frankreich
- Aristide Bruant: A La Roquette (Übertr. Albert Langen)
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text analysiert das literarische Chanson und seine Sprechsituation, indem er vier repräsentative Chansons auf ihre Entstehungsbedingungen, Vortragseignung und Einfluss der „Partitur“ auf die Darbietung untersucht.
- Bedeutung der Sprechsituation für das Verständnis des Chansons
- Der Einfluss der Textgestaltung auf die Schallform
- Die Verbindung zwischen Text und Vortrag im Chanson
- Mimische Gestaltungsmöglichkeiten des Vortragenden im Verhältnis zum Text
- Die Bedeutung des Refrains für die Struktur und Wirkung des Chansons
Zusammenfassung der Kapitel
Die Anregung aus Frankreich
Die Analyse von Aristide Bruants „A La Roquette“ untersucht die Sprechsituation eines zum Tode verurteilten Mörders, der einen letzten Brief an sein „Toinette“ schreibt. Der Text beleuchtet die Verschiebung der Sprechrichtung in jeder Strophe und zeigt, wie der Chansonnier diese Ambivalenz in der mimischen Gestaltung nutzen kann. Die Untersuchung des inneren Raums des Sprechers zeigt, wie sich dieser von der Enge der Gefängniszelle bis zur furchtbaren Öffentlichkeit der Gerichtsstätte weitet.
Schlüsselwörter
Literaturwissenschaft, Sprechkunde, Chanson, Sprechsituation, Vortragseignung, Schallform, Textgestaltung, mimische Gestaltung, Refrain, „A La Roquette“, Aristide Bruant, Hinrichtungslied.
- Arbeit zitieren
- Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 1975, Vier Chansons - Versuch einer sprechkundlichen Deutung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82654