Vier Chansons - Versuch einer sprechkundlichen Deutung


Essai, 1975

16 Pages


Extrait


Vier Chansons. Versuch einer sprechkundlichen Deutung

Die Möglichkeiten, Dichtung durch Interpretation zum Sprechen zu bringen, sind in der deutschen Literaturwissenschaft so ausgiebig erprobt und diskutiert worden, dass bereits eine deutliche Gegenbewegung an Stelle des übertriebenen «Interpretationsrummels" wieder mehr die biographisch-geistesgeschichtlichen Methoden betont sehen wollte.

Dennoch wagen wir es, mit einigen Beispielen auf einen Interpretationsansatz hinzuweisen, der bisher noch kaum erprobt wurde und deshalb dem allgemeinen Bewusstsein ziemlich fremd blieb: den sprechkundlichen.

Er kann - wie besonders H. M. Kaulhausen zeigte [1] – häufig Einzelzüge des Stils aus ihrer psychologischen Bedingtheit in der 'Sprechsituation des Dichters erklären. Unentbehrlich aber wird die sprechkundliche Interpretation zum Verständnis literarischer Erzeugnisse, die nicht zuerst durch die Kostbarkeit ihrer sprachlichen Fügung wirken - sondern in der Schallform. Wir meinen Volkslied, Bänkelsang und Volksballade - aber auch die sogenannte Varietéballade von Villon bis Brecht, das Couplet der Schenken (Béranger), der Music Hall (Reutter) und des Volkstheaters seit Raimund und Nestroy - schließlich das literarische Chanson in seinen mannigfaltigen Ausprägungen und den Song [2].

Die meisten dieser - für den Vortrag geschaffenen - Gattungen sind bisher von der Literaturwissenschaft weniger beachtet worden, als sie es nach ihrer kulturhistorischen Bedeutsamkeit und den vielfältigen Einflüssen, die sie auf die »seriöse Dichtung» ausgeübt haben, verdienten. Man hatte keine wissenschaftlichen Kategorien für sie und kannte sie nur »privat». Das beginnt sich erst neuerdings zu andern.

Die sprechkundliche Interpretation kann als Ziel - abgesehen vom tieferen Verstehen und Erleben ihrer Objekte allgemein - dreierlei besonders anstreben:

1. Sie kann die Entstehungsbedingungen des Sprachgebildes aus der psycho-physischen Konstitution und Sprechsituation des Verfassers erklären.
2. Sie kann - darauf aufbauend - hauptsächlich den gültigen Vortrag vorbereiten. Dabei geht sie davon aus, dass der Sprecher diesen einer idealen, objektiven Schallform annähern kann, die der vom Dichter gehörten entspricht.
3. Schließlich kann sie - wie wir an vier repräsentativen Chansons erproben wollen - alle möglichen Einflüsse von der «Partitur» auf die Darbietung überhaupt untersuchen.

Unser Hauptaugenmerk richten wir also auf die Beziehungen zwischen dem schriftlich fixierten Text und der lebendigen Schallform im Vortrag. (Wenn wie beim literarischen Chanson häufig -Texter und Interpret beziehungsweise Vortragender dieselbe Person sind, das heißt der Chansonnier seinen Vortrag zuerst innerlich hört, dann vorträgt und dabei ausprobiert und erst zuletzt aufschreibt, ist diese Beziehung nur um so inniger.)

Wir versuchen an unseren meisterhaften Chansons, deren Wirksamkeit im Vortrag genügend erprobt worden ist und die zugleich Beispiele für vier historisch ausgeprägte Stilgruppen darstellen, beide Ausgangsmöglichkeiten: die vom Text und die vom Vortrag.

Die Gesamtheit der mimischen Gestaltungsmöglichkeiten des Vortragenden kann zum Text des Chansons in dreierlei Verhältnis stehen:

1. Die Gebärde der Stimme oder des Körpers kann eindeutig im Text angelegt - das heißt von ihm verlangt - sein: zum Beispiel durch die Frage, den Ausruf, die wörtliche Rede -oder eindeutige Gehalte, die entsprechende Gebärden bedingen, wie die der Abwehr, des Zorns, des Verlangens etc. (Wir sprechen hier nicht von direkten Regieanweisungen!)
2. Der Text kann gewisse Ausdrucksnuancen anbieten, nahe legen - aber nicht verlangen: zum Beispiel in einem spitzbübisch-übermütigen Refrain oder bei der Charakterisierung von Personen.
3. Schließlich kann der Chansonnier selbst, je nach Auffassung und künstlerischer Phantasie, seinem Vortrag «Lichter aufsetzen", die im Text weder angelegt noch gefordert sind.

An bekannten literarischen Chansons (etwa von Tucholsky) lassen sich die mehr oder weniger zwingend im Text bedingten Eigenarten der Schallform durch Vergleich von Tonbandaufnahmen der gleichen Vorlage durch verschiedene Interpreten ermitteln. (In einigen Fällen haben wir Interpretationen desselben Chansons von Kate Kühl, Eva Busch, Ethel Reschke, Dora Dorette und Gisela May.)

Die Anregung aus Frankreich

Aristide Bruant: A La Roquette (Übertr. Albert Langen)

Bei diesem Brief bebt mir der Leib

Im kalten Fieber.

Wenn du es liest, was ich hier schreib',

Ist es vorüber –

Seit Mitternacht schlaf ich nicht mehr,

Mein klein' Toinette,

Ein dumpf Geräusch dringt zu mir her

Von La Roquette.

Mein Bittgesuch wies man zurück.

Für mein Verbrechen

Der Präsident will mein Genick

Nun einmal brechen.

Zu oft begnadigen geht nicht an –

Das ist's - ich wette;

Von Zeit zu Zeit muss einer 'ran

Auf La Roquette.

Die Nacht war lang; herein zu mir

Scheint bleich der Morgen.

Bald sind die Herrn vor meiner Tür,

Die mich besorgen.

Gendarmen stehn in Reih' und Glied

Rings um die Stätte,

Das Volk heult -ein Begräbnislied

Auf La Roquette.

Das rührt mich nicht - ich bin kein Tropf!

Nur dass der Kragen

Vom Hemde muss, eh' sie den Kopf

Vom Hals mir schlagen!

Die Schere hat nicht viel Gefühl

Bei der Toilette,

Und früh am Morgen ist es kühl

Auf La Roquette.

Mit festen Schritten will ich gehn

Zur Guillotine,

Und keiner soll mich wanken sehn!

Vor der Maschine!

Verdammt, wenn mir der Nacken zuckt,

Steckt er im Brette,

Bevor ich in den Sand gespuckt

Auf La Roquette!

[...]


[1] Das gesprochene Gedicht und seine Gestalt; Göttingen 1959

[2] Budzinski, Die Muse mit der scharfen Zunge; München 1961

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Vier Chansons - Versuch einer sprechkundlichen Deutung
Cours
Neue Deutsche Hefte 101 (1964) 73-91
Auteur
Année
1975
Pages
16
N° de catalogue
V82654
ISBN (ebook)
9783638894036
ISBN (Livre)
9783638904650
Taille d'un fichier
419 KB
Langue
allemand
Mots clés
Vier, Chansons, Versuch, Deutung, Neue, Deutsche, Hefte
Citation du texte
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Auteur), 1975, Vier Chansons - Versuch einer sprechkundlichen Deutung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82654

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