Die japanische Politik steht vor ihrer vielleicht größten Veränderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Planungen, die seit exakt 60 Jahren bestehende und bisher in ihrem Text unveränderte Nachkriegsverfassung zu revidieren, intensivieren sich. Speziell der Artikel 9 steht im Fokus der Diskussion. Dieser Artikel lautet:
Artikel 9 der japanischen Verfassung:
(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten.
(2) Zur Erreichung dieser Zwecke des Absatzes 1 werden Land-, See-, und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten.
Ein Kriegführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.
Er wird wegen seiner Bestimmungen in Bezug auf den Verzicht auf Militär und Kriegsmittel sowie auf das Kriegsführungsrecht Japans auch als „Friedensartikel“ bezeichnet. Allerdings empfinden viele japanische Politiker die Politik ihres Landes aufgrund der Beschränkungen, die durch diesen Artikel festgelegt werden, gegenüber anderen Staaten als „unnormal“. Tatsächlich ist Japan, neben Costa Rica, theoretisch der einzige Staat, der freiwillig durch seine Verfassung auf Streitkräfte verzichtet. Damit sind den sicherheitspolitischen Optionen enge Grenzen gesetzt. Deshalb propagieren viele Politiker Japans eine Verfassungsrevision, um Japan zu einem „normalen Land“ werden zu lassen.
Dabei ist die Diskussion um den vakanten Artikel 9 keineswegs eine neue Erscheinung in der japanischen Politik. Bereits im Jahr 1950 begann mit dem Aufbau der National Police Reserve (NPR) der Aufbau einer Truppe, die für die Sicherheit Japans verantwortlich war. Im Jahr 1954 wurde sie ausgebaut und in Self-Defense Force (SDF) umbenannt. Da die SDF militärischen Verbänden zumindest ähneln, werfen ihnen Kritiker vor, gegen den Wortlaut des Artikels 9 zu verstoßen. Daher erfolgte eine Diskussion über die Notwendigkeit einer Verfassungsrevision, die bis heute anhält.
Es lassen sich insgesamt drei Phasen in der Diskussion feststellen. Die erste Diskussion fällt in die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurde diskutiert, ob Japan nach der Niederlage wieder Streitkräfte aufbauen sollte. Letztlich setzten sich die Gegner der Streitkräfte durch und etablierten den Artikel 9 in der japanischen Verfassung.
Die zweite Diskussion wurde durch den Ausbruch des Koreakrieges 1950 ausgelöst. Dieser hatte die bereits erwähnte Aufstellung der NPR und der SDF zur Folge. Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Verbände entbrannten bis zum Anfang der 1960er Jahre zum Teil heftige Konflikte.
Die dritte Phase setzte schließlich mit dem Ende des Kalten Krieges ein. Infolge dieser Umwälzungen sah sich Japan dem Druck der internationalen Gemeinschaft ausgesetzt, sich auch militärisch stärker zu engagieren. Der Auslöser dieser Entwicklung war der Golfkrieg im Jahr 1991.
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- DIE ENTSTEHUNG DER JAPANISCHEN NACHKRIEGSVERFASSUNG
- DIE ENTSTEHUNG DES ARTIKELS 9 UND DESSEN ENTWICKLUNG
- DIE URSPRÜNGE DES ARTIKELS
- DIE ERSTEN DEUTUNGEN DES ARTIKELS 9
- DER BEGINN DER WIEDERBEWAFFNUNG JAPANS
- DER EINFLUSS DES KOREKRIEGES AUF DIE DEBATTE UND DIE SCHAFFUNG DER NPR.
- DER FRIEDENSVERTRAG VON SAN FRANCISCO UND DAS US-AMERIKANISCH-JAPANISCHE SICHERHEITSBÜNDNIS
- DIE GRÜNDUNG DER SDF
- DIE HISTORISCHEN HINTERGRÜNDE
- AUFBAU UND STRUKTUR DER SDF UND DES VERTEIDIGUNGSAMTES/VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS
- Die zivilen Einrichtungen.
- Die uniformierten Einrichtungen.
- DIE VERSCHIEDENEN INTERPRETATIONEN ÜBER DIE LEGITIMATION DER SDF
- DIE POSITION DER BEFÜRWORTER DER SDF
- Auslegung I.
- Auslegung II.
- DIE INTERPRETATION DER GEGNER DER SDF
- Auslegung III.
- Auslegung IV.
- DIE POSITION DER REGIERUNG
- DIE POSITION DER LDP
- DIE OPPOSITION
- DIE REVISION DES JAPANISCH-AMERIKANISCHEN SICHERHEITSVERTRAGES
- DIE WESENTLICHEN NEUERUNGEN DES SICHERHEITSVERTRAGES
- DIE INNENPOLITISCHE AUSEINANDERSETZUNG
- RELEVANTE GERICHTSVERFAHREN ZUM ARTIKEL 9
- DER SUNAKAWA-FALL.
- DER NAGANUMA-FALL.
- DIE VERÄNDERUNG DER JAPANISCHEN SICHERHEITSPOLITIK IN DEN 1990ER JAHREN
- DAS ENDE DES KALTEN KRIEGES ALS URSPRUNG DER NEUORIENTIERUNG
- DER EINFLUSS DES GOLFKRIEGS AUF DIE JAPANISCHE SICHERHEITSPOLITIK
- DAS „PEACEKEEPING OPERATION LAW\" (PKO) ALS ERSTER ASPEKT DER SICHERHEITSPOLITISCHEN NEUORIENTIERUNG
- DIE WIEDERBELEBUNG DER REVISIONSBESTREBUNGEN.
- DIE AKTUELLE DEBATTE UM EINE VERFASSUNGSREVISION
- DIE ENTWICKLUNG IN DER REGIERUNGSZEIT KOIZUMI JUN'ICHIRÔS
- Die Anschläge vom 11. September und das Antiterrorismus Gesetz.
- Der Einsatz der SDF im Irak.
- DER AKTUELLE STAND DER ÄNDERUNGSDEBATTE.
- DIE SICHT DER JAPANISCHEN BEVÖLKERUNG AUF EINE MÖGLICHE REVISION DES ARTIKELS 9
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Diskussion um eine mögliche Revision des Artikels 9 der japanischen Verfassung im Kontext der sich verändernden internationalen Sicherheitslage und der innenpolitischen Debatten. Ziel ist es, die historischen Entwicklungen und die verschiedenen Argumentationen zu beleuchten, die sowohl für als auch gegen eine Veränderung des „Friedensartikels“ vorgebracht werden.
- Die Entstehung des Artikels 9 und seine Interpretation im Kontext der Nachkriegszeit
- Die Entwicklung der Sicherheitspolitik Japans und die Entstehung der SDF
- Die Debatte um die Legitimation der SDF und die verschiedenen Argumentationen zur Auslegung des Artikels 9
- Die Rolle des US-amerikanisch-japanischen Sicherheitsbündnisses und die Revision des Sicherheitsvertrages
- Die aktuelle Diskussion um eine Verfassungsrevision und die Meinung der japanischen Bevölkerung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung gibt einen Überblick über die Thematik der Arbeit und erläutert die Relevanz des Artikels 9 für die japanische Politik. Das zweite Kapitel beleuchtet die Entstehung der japanischen Nachkriegsverfassung und die politischen Rahmenbedingungen, die zu ihrer Entstehung führten. Im dritten Kapitel wird die Entstehung des Artikels 9 und seine Entwicklung bis zum Beginn der Wiederbewaffnung Japans im Koreakrieg behandelt. Das vierte Kapitel behandelt die Aufstellung der NPR und der SDF sowie deren rechtliche Grundlage. Die verschiedenen Interpretationen und Debatten zur Legitimation der SDF werden im sechsten Kapitel dargestellt. Die Revision des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages und die innenpolitische Auseinandersetzung werden im siebten Kapitel behandelt. Das achte Kapitel beleuchtet relevante Gerichtsverfahren zum Artikel 9. Im neunten Kapitel werden die Veränderungen in der japanischen Sicherheitspolitik in den 1990er Jahren und die Auswirkungen des Golfkrieges auf die Debatte um eine Verfassungsrevision diskutiert. Das zehnte Kapitel befasst sich mit der aktuellen Debatte um eine Verfassungsrevision und der Meinung der japanischen Bevölkerung zu diesem Thema.
Schlüsselwörter
Japanische Verfassung, Artikel 9, Friedensartikel, Wiederbewaffnung, SDF, Sicherheitspolitik, US-amerikanisch-japanisches Sicherheitsbündnis, Verfassungsrevision, Koreakrieg, Golfkrieg, Peacekeeping Operation Law, innenpolitische Debatte, öffentliche Meinung.
- Citation du texte
- Magister Artium Kai Schulze (Auteur), 2007, Auf dem Weg zu einem „normalen Staat“? – Die Revision des Artikels 9 der Japanischen Verfassung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82879