Die Wähler werden immer wählerischer - Die Entwicklung des Wählerverhaltens bei Reichs- und Bundestagswahlen in Abhängigkeit von Medienverhalten und politischer Schulbildung


Diplomarbeit, 2004

275 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs-/Kartenverzeichnis

Tabellenverzeichnis

PRESSESTIMME ZUM AUTOR UND ZU DIESER ARBEIT

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

1. Vorbemerkungen
1.1 Problematisierung
1.2 Verwendungszusammenhang
1.3 Fragestellung
1.4 Systematik dieser Arbeit
1.5 Mögliche Probleme bei der Erforschung des Wählerverhaltens in der Vergangenheit
1.6 Zum Aufbau
1.7 Bisheriger Kenntnisstand
1.8 Einordnung in den Bereich des Marketing

2. Nähere, grundsätzliche Beschreibung der Schwerpunktvariablen
2.1 Bildung
2.2 Medienverhalten
2.2.1 Fernsehen
2.2.2 Das Radio
2.2.3 Die Zeitung

ERSTER TEIL:
BETRACHTUNG DER ENTWICKLUNG DES WÄHLERVERHALTENS IN ABHÄNGIGKEIT VOM MEDIENVERHALTEN UND VON DER POLITISCHEN SCHULBILDUNG BIS IN DIE GEGENWART

KAPITEL I
WAHLEN ZWISCHEN 1903 UND 1912
1. Verfassung des Deutschen Reiches von 1871
1.1 Der Kaiser
1.2 Die Regierung
1.3 Der Bundesrat
1.4 Der Reichstag
2. Analyse des Wählerverhaltens im Wilhelminischen Deutschland
2.1 Reichstagswahl von 1903
2.1.1 Wahlergebnisse
2.1.2 Programmatische Aussagen der einzelnen politischen Parteien im
Wilhelminischen Deutschland
2.1.2.1 Zentrum (Deutsche Zentrumspartei)
2.1.2.2 Freikonservative Partei (Deutsche Reichspartei seit1871)
2.1.2.3 Deutsch-Konservative Partei
2.1.2.4 Nationalliberale Partei
2.1.2.5 Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands
2.1.3 Gesellschaftlicher Hintergrund und Zeitgeist des Wilhelminischen Deutschlands im 20. Jahrhundert
2.1.4 Wirtschaftlicher Hintergrund
2.1.5 Politische Schulbildung jener Tage
2.1.6 Medienverhalten
2.1.6.1 Zeitungen im Wahlumfeld
2.1.6.2 Vorgehensweise bei der Analyse der Zeitungswirkung auf das Wählerverhalten
2.1.6.3 Auflagen der unterschiedlichen Zeitungen geordnet nach Parteitendenz
2.1.6.4 Analyse
2.1.7 Abschließende Erklärung
2.1.7.1 Wie ist der Wahlsieg der Sozialdemokratie unter Berücksichtigung der eben angeführten Fakten zu erklären?
2.1.7.2 Wähler des Zentrums
2.2 Reichstagswahl vom 25. Januar 1907
2.2.1 Wahlergebnisse
2.2.2 Historischer, gesellschaftlicher Kontext der Wahl
2.3 Medienverhalten
2.4 Reichstagswahl 1912
2.4.1 Wahlergebnisse
2.4.2 Programmatik der einzelnen Parteien
2.4.3 Gesellschaftlich/soziales Umfeld dieser Wahl
2.4.4 Medienverhalten
2.4.4.1 SPD
2.4.4.2 Zentrum
2.4.4.3 Liberale Presse
2.4.4.4 Konservative Presse
2.4.4.5 Schlussbetrachtung
2.5 Schlussbetrachtung der Wahlen zwischen 1903 und 1912

KAPITEL II
DIE WEIMARER REPUBLIK
1. Verfassung der Weimarer Republik
1.1 Die Rolle des Volkes
1.2 Der Reichsrat
1.3 Der Reichspräsident
2. Wahlen in der Weimarer Republik
2.1 Wahl zur Nationalversammlung 1919
2.1.1 Wahlergebnisse
2.1.2 Entwicklung der Wahlergebnisse in der Weimarer Republik nach Parteien
2.1.3 Programmatische Aussagen der Parteien der Weimarer Republik
2.1.3.1 USPD
2.1.3.2 SPD
2.1.3.3 DDP (Deutsche Demokratische Partei)
2.1.3.4 Deutsche Volkspartei (DVP)
2.1.3.5 Zentrum (Deutsche Zentrumspartei)
2.1.3.6 Deutschnationale Volkspartei (DNVP)
2.1.3.7 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
2.1.3.8 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ( NSDAP)
2.2 Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hintergrund der Wahlen in der Weimarer Republik
2.3 Medienverhalten
2.3.1 Das Radio
2.3.2 Die Zeitung
2.4 Politische Schulbildung in der Weimarer Republik
2.5 Erklärung des Wählerverhaltens zu jener Zeit
2.5.1 SPD
2.5.2 Zentrum
2.5.3 DDP
2.5.4 DNVP
2.5.5 NSDAP
2.6 Schlussbetrachtung der Wirkung der Schwerpunktdeterminanten
2.6.1 Zeitung
2.6.2 Radio
2.6.3 Politische Schulbildung

KAPITEL III
WÄHLERVERHALTEN IN DER ZEIT VON 1949 BIS 1989
1. Wahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
2. Bundestagswahl vom 14. August 1949
2.1 Wahlergebnisse
2.2 Programmatische Aussagen der einzelnen Parteien vor der Wahl 1949
2.2.1 CDU
2.2.2 Freie Demokratische Partei Deutschlands (FDP)
2.2.3 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
2.3 Umfragedaten im Umfeld der Wahl
2.4 Wirtschaftlicher Hintergrund der Wahl, Entwicklung bis 1962
2.5 Medienverhalten
2.5.1 Zeitungen
2.5.2 Radio
2.6 Ereignisse im Umfeld der Wahl
2.7 Politische Schulbildung
2.8 Schlussbetrachtung
3. Bundestagswahl vom 9. September 1953
3.1 Wahlergebnisse
3.2 Programmatische Aussagen der Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 1953
3.2.1 CDU
3.2.2 FDP
3.2.3 SPD
3.3 Historischer Hintergrund
3.4 Medienverhalten
3.4.1 Zeitungen
3.4.2 Radio
3.5 Politische Schulbildung
3.6 Schlussbetrachtung
3.6.1 Zeitungen
3.6.2 Fernsehen
4. Bundestagswahl vom 15. September 1957
4.1 Wahlergebnisse
4.2 Programmatische Aussagen der Parteien
4.2.1 CDU
4.2.2 FDP
4.2.3 SPD
4.3 Hintergrund
4.4 Medienverhalten
4.4.1 Radio
4.4.2 Fernsehen
4.5 Schlussbetrachtung
5. Zusammenfassung der ersten Wahlen in der Nachkriegszeit
6. Bundestagswahl vom 17. September 1961
6.1 Wahlergebnisse
6.2 Programmatische Aussagen der einzelnen Parteien
6.2.1 CDU
6.2.2 FDP
6.2.3 SPD
6.3 Themen im Umfeld dieser Wahl
6.4 Politische Schulbildung
6.5 Medienverhalten
6.5.1 Fernsehen
6.5.2 Politische Informationsaufnahme über Illustrierte
6.6 Schlussbetrachtung
7. Bundestagswahl vom 19. September 1965
7.1 Wahlergebnisse
7.2 Programmatische Aussagen der einzelnen Parteien
7.2.1 CDU
7.2.2 FDP
7.2.3 SPD
7.3 Medienverhalten
8. Bundestagswahl 1969
8.1 Wahlergebnisse
8.2 Programmatische Aussagen der Parteien vor dieser Wahl
8.3 Meinungsumfeld der Wahl
8.4 Medienverhalten
8.5 Politische Schulbildung
9. Bundestagswahl vom 19.11.1972
9.1 Wahlergebnisse
9.2 Programmatische Aussagen der Parteien vor dieser Wahl
9.2.1 CDU
9.2.2 FDP
9.2.3 SPD
9.3 Themen im Umfeld dieser Wahl
9.4 Medienverhalten
9.5 Politische Schulbildung
10. Bundestagswahl vom 3.10.1976
10.1 Wahlergebnisse
10.2 Themen dieser Wahl
10.3 Medienverhalten
10.3.1 Zeitung
10.3.2 Fernsehen
10.4 Politische Schulbildung
10.5 Schlussbetrachtung
11. Bundestagswahl vom 5.10.1980
11.1 Wahlergebnisse
11.2 Themen und Meinungsklima im Umfeld der Wahl
11.3 Politische Schulbildung
12. Bundestagswahl vom 6. 03. 1983
12.1 Wahlergebnisse
12.2 Programmatische Aussagen der Parteien vor der Wahl
12.2.1 CDU
12.2.2 FDP
12.2.3 Die Grünen
12.2.4 SPD
12.3 Themen im Umfeld dieser Wahl und Meinungsklima
12.4 Politische Schulbildung jener Tage
12.5 Politisches Interesse im Umfeld der Wahl
13. Bundestagswahl vom 25.1.1987
13.1 Wahlergebnisse
13.2 Themen im Umfeld dieser Wahl und Meinungsklima
13.3 Politische Schulbildung
13.4 Medienverhalten
13.4.1 Fernsehen
13.4.2 Radio
13.5 Schlussbetrachtung
13.5.1 Medien
13.5.2 Politische Schulbildung

KAPITEL IV
Wahlen in Der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung
1. Bundestagswahl vom 2.12.1990
1.1 Wahlergebnisse
1.2 Programmatische Aussagen einzelner Parteien vor dieser Wahl
1.2.1 Die Grünen
1.2.2 PDS
1.3 Meinungsumfeld der Wahl
1.4 Politische Schulbildung
1.5 Schlussbetrachtung
2. Bundestagswahl vom 16.10.1994
2.1 Wahlergebnisse
2.2 Themen im Umfeld der Wahl und Meinungsklima
2.2.1 Die wichtigsten Politikfelder und Kompetenzzumessung
2.2.2 Weitere Umfragen im Umfeld der Wahl
2.3 Politische Schulbildung
2.4 Medienverhalten
2.4.1 Radio
2.4.2 Fernsehen
3. Bundestagswahl vom 27.9.1998
3.1 Wahlergebnisse
3.2 Im Umfeld dieser Wahl
3.3 Medienverhalten
3.4 Politische Schulbildung
3.5 Schlussbetrachtung
4. Bundestagswahl vom 22. September 2002
4.1 Wahlergebnisse
4.2 Themen im Umfeld dieser Wahl
4.3 Politische Schulbildung
4.4 Medienverhalten
4.5 Schlussbetrachtung
4.5.1 Allgemeines zum Medienverhalten
4.5.2 Radio und Fernsehen
5. Schlussbetrachtung des ersten Teils
5.1 Medien
5.2 Politische Schulbildung
5.3 Andere in der Zukunft sich wahrscheinlich verstärkende Einflüsse

ZWEITER TEIL
1. Empirische Untersuchung
1.1 Untersuchungsinhalte
1.2 Untersuchungstyp
1.3 Grundgesamtheit
1.4 Befragungszeitraum
1.5 Stichprobenanlage / Stichprobenumfang
1.6 Soll-Ist Vergleich
1.7 Ausschöpfung / Interviewereinsatz
2. Ergebnisse der Feldarbeit
2.1 Medien
2.2 Bildung
2.3 Weitere Themen und Fragestellungen
3. Folgerungen und Ausblick
3.1 Empfehlungen für die Wählerinnen und Wähler

Dritter Teil
1. Die Entwicklung der demoskopisch gemessenen Meinung bis zur Bundestagswahl 2005
2. Bundestagswahl vom 18. September 2005
2.1 Wahlergebnisse
2.2 Regionale Übersicht über das Wählerverhalten
2.3 Medienverhalten in Ostdeutschland

Literaturverzeichnis

Abbildungs-/Kartenverzeichnis

Abbildung 1: Produktionsentwicklung der Industrie 1948 bis 1962

Abbildung 2: Anteil der Parteienpresse

Abbildung 3: Erörterung politischer Fragen im Unterricht

Abbildung 4: Einstellung zur Demokratie

Karte 1: Politische Zuordnung der Wahlkreise

Karte 2: Konfessionsstruktur im Wilhelminischen Deutschland

Karte 3: Sozialdemokratische Wähler und Wirtschaftsstruktur bei der Reichstagswahl 1912

Karte 4: Räumliche Verteilung des KPD-Anteils

Karte 5: Räumliche Verteilung des NSDAP-Anteils

Karte 6: Räumliche Verteilung des Stimmenanteils der Regierung

Karte 7: Räumliche Verteilung des Stimmenanteils der demokratischen Opposition

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Reichstagswahlen 1903

Tabelle 2: Konzentration der Wirtschaft in Großbetrieben

Tabelle 3: Zahlenmaterial zur Analyse der Zeitungswirkung auf das Wählerverhalten

Tabelle 4: Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1907

Tabelle 5: Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1912

Tabelle 6: Programmatik der einzelnen Parteien im Zuge der Reichstagswahl 1912

Tabelle 7: Repräsentative Wahltagsbefragung - Bundestagswahl Zweitstimmen nach Schulabschluss, Geschlecht und Alter

Tabelle 8: Überblick Hörfunk - Hörfunknutzung 1995 bis 2001

Tabelle 9: Sendeumfang einzelner Themenbereiche im Hörfunk und Fernsehen von 1971 bis 1996

Tabelle 10: Leseinteressen in der Tageszeitung in den alten Bundesländern 1955-1997

Tabelle 11: Wahlentscheidung und Kirchenbindung

PRESSESTIMME ZUM AUTOR UND ZU DIESER ARBEIT

Fachhochschule hat Traum wahr gemacht

Carsten Dethlefs studierte in Heide Betriebswirtschaft: Er ist blind

Von Dieter Höfer

Heide – Für Carsten Dethlefs gibt es keine zwei Meinungen. „Es war eine tolle Zeit“, bilanziert der 24-jährige Wrohmer seine Studienzeit an der Fachhochschule Westküste (FHW) in Heide, die er mit einer Diplomarbeit gekrönt hat. Eigentlich nichts Besonderes: Doch Carsten Dethlefs ist blind.

Seit seinem vierten Lebensjahr muss der Wrohmer auf das Augenlicht verzichten. Doch er ging seinen Weg wie seine Altersgenossen auch. Nach dem Besuch der Grundschule Dellstedt/Wrohm wechselte Dethlefs auf das Gymnasium Heide-Ost, wo er Abitur machte. „Seit der Oberstufe interessiere ich mich für wirtschaftliche Themen“, erzählt Carsten Dethlefs. Sein Traum war es seitdem, „so etwas zu studieren“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Studium mit Spezialcomputer: Carsten Dethlefs (sitzend) zeigt Professor Dr. Hans-Dieter Ruge den Umgang mit seinem Laptop. Statt auf dem Bildschirm werden Informationen über

eine Spezialtastatur in Blindenschrift wiedergegeben. Foto: Höfer

Die FHW lernte der Schüler durch die Zeitung kennen. Irgendwann besuchte er in den Ferien die ersten Vorlesungen. Die Themen, die Atmosphäre, alles passte. Da Dethlefs sich zudem „mit der Region verbunden fühlt“, war eine Einschreibung für den Studiengang Betriebswirtschaft die logische Konsequenz.

Bevor das Studium losging, belegte der angehende BWL-Student einen Schreibmaschinenkursus und schaffte sich einen Spezialcomputer an. Was Sehende auf dem Bildschirm lesen, das ertastet Carsten Dethlefs auf einer Zusatztastatur seines Laptops, die beispielsweise E-Mails in Blindenschrift wiedergibt. Wenn Dethlefs etwas schreiben will, benutzt er die normale Tastatur. „Dokumente, die nicht in Blindenschrift verfügbar waren, wurden eingescannt“, erzählt der Betriebswirt. Die Ausgabe erfolgte dann wieder über die Spezialtastatur.

Der PC war in jeder Vorlesung dabei, und Carsten Dethlefs hat immer fleißig mitgeschrieben. „Es war ein planmäßiger Studienverlauf“, bestätigt Professor Dr. Hans-Dieter Ruge. Wenn er Papiere an die anderen Studenten verteilte, gab es das Skript für den Wrohmer auf Diskette.

Carsten Dethlefs denkt gerne an sein Studentenleben zurück. „Die große Unterstützung aller Beteiligten hat mich tief beeindruckt“, sagt der Wrohmer. Neben den Professoren meint er die Kommilitonen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die anderen FHW-Bediensteten, beispielsweise in der Bibliothek.

„Auch für die anderen Studenten war es eine wichtige Erfahrung“, erinnert sich Professor Dr. Ruge und berichtet: „Das Sozialverhalten insgesamt ist besser geworden.“

Zudem hat das Förderforum der FHW eine notwendige bundesweite Telefonumfrage für die Diplomarbeit über das „Wählerverhalten bei Reichs- und Bundestagswahlen in Abhängigkeit von Medienverhalten und politischer Schulbildung“ mit 5000 Euro unterstützt. Die rund 400 Interviews wurden von einem Hamburger Institut vorgenommen.

Da Carsten Dethlefs sich möglichst wenig von seinen Kommilitonen unterscheiden wollte, hat er seine sechs Semester in einer Wohngemeinschaft im Studentenwohnheim verbracht und nicht zu Hause im nahen Wrohm gelebt.

Auch wenn die FHW schon einen Traum von Carsten Dethlefs erfüllt hat, einen weiteren hat er noch: Dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter anfangen zu können.

Diplomarbeit: Medieneinfluss vor den Wahlen

In seiner Diplomarbeit hat sich Carsten Dethlefs mit der Frage beschäftigt, wie sich das Wählerverhalten bei Reichs- und Bundestagswahlen in Abhängigkeit vom Medienkonsum und der politischen Schulbildung entwickelt.

Grundsätzlich gilt laut Dethlefs, dass den Medien in der Bundesrepublik eine größere Bedeutung zukommt, weil in der Weimarer Zeit (gemeint ist eigentlich die Wilhelminische Zeit) so genannten Ständeparteien eine Rolle gespielt haben. Gewählt wurde die Partei der eigenen gesellschaftlichen Gruppe.

Für die Bundesrepublik könne zusammenfassend festgehalten werden, dass Personen, die ihren Medienkonsum vor Wahlen intensivieren, die Wahlentscheidung später treffen als diejenigen, die ihren Medienkonsum nicht verändern.

Zumal es sich „um ein signifikantes Ergebnis handelt, kann von einem Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Wahlverhalten ausgegangen werden“, heißt es in einer Zusammenfassung der Diplomarbeit, die Professor Dr. Hans-Dieter Ruge vorgenommen hat.

Daneben existiere innerhalb der Anhänger der einzelnen Parteien eine unterschiedlich hohe Einflussnahme der Medien an der Wahlentscheidung. So geben insbesondere die Wähler der Grünen, der PDS und der FDP einen sehr großen beziehungsweise großen Anteil der Berichterstattung an ihrer persönlichen Wahlentscheidung an. Darüber hinaus sind Wähler der genannten Parteien nach eigenen Angaben vergleichsweise häufig Wechselwähler. In der aktuellen Situation können also insbesondere Wähler der PDS, FDP und der Grünen durch die Medien zu einem anderen Wahlverhalten bewegt werden.

Doch welche Medien haben den größten Einfluss? Erwartungsgemäß wird das Fernsehen am häufigsten genannt, es spielt daher für die Befragten bei ihrer Wahlentscheidung die größte Rolle. Daneben werden die Zeitung und das Radio in diesem Zusammenhang als wichtig erachtet. Das Internet fällt gegenüber den anderen Medien ab.

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Auch die zweite Auflage des Buches „die Wähler werden immer wählerischer“ erhebt nicht den Anspruch auf eine 100%ig objektive Darstellung der mit dem Wählerverhalten zusammenhängenden Sachverhalte. Dieses ist jedoch nicht dem Mutwillen des Verfassers zuzuschreiben, sondern dem Thema an sich. Eine objektive Beurteilung der zeitlichen Gegebenheiten und deren Übertragung auf das Verhalten der Menschen beim Wählen eines neuen Parlaments kann von keinem Autor gewährleistet werden. Diese Feststellung gilt umso mehr, wenn man unterstellt, dass sich Menschen aufgrund ihrer begrenzten Rationalität selbst nicht der Ursachen ihres Handelns vollständig bewusst sind. Jedoch ist der Verfasser bemüht, keiner demokratischen Partei zu schaden oder ihre Inhalte verfälscht wiederzugeben. Sollte dieses dennoch an einigen Stellen gesehen, liegt hier keine Absicht des Verfassers vor. Es ist nur mehr so, dass auch der Verfasser dieses Buches, wenngleich er darum bemüht ist, keinen objektiven Blick haben kann, da auch er wissentlich (aus Platzgründen) und unwissentlich aus begrenzter Rationalität Informationen selektiert. Wenn durch eine, an einigen Stellen verkürzte Darstellung eine Diskussion angeregt wird und sich eine Beschäftigung mit der Reflexion des eigenen Wählerverhaltens entsteht, ist das Ziel dieses Buches bereits erreicht.

Die Ausgabe unterscheidet sich von der Ursprungsausgabe dadurch, dass sie weitere, vor allem aktuellere, Informationen über das politische Geschehen in Deutschland und die demoskopischen Reaktionen darauf enthält.

Es sei an dieser Stelle Herrn Torsten Frederich (www.coastdesign.de) gedankt, der bei dieser Ausgabe die Formatierungsarbeiten übernommen hat.

Wrohm, den 17. August 2008

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Auch wenn der Inhalt dieser Arbeit einzig und allein auf Überlegungen und Schlussfolgerungen des Verfassers zurückgeht, wäre eine Arbeit dieser Gestalt nicht ohne die Mithilfe einiger Personen möglich gewesen, bei denen sich der Verfasser in diesem Vorwort bedanken möchte.

Ein großer Dank gilt hier zunächst dem Erstkorrektor dieser Arbeit, Herrn Prof. Dr. Hans-Dieter Ruge, der mich während der Arbeit zu jeder Zeit, wo es nötig war, mit vollem Einsatz betreut hat und mir die Möglichkeit gegeben hat, dieses Thema zu bearbeiten.

Auf diesem Wege möchte ich mich auch bei dem Zweitkorrektor Herrn Prof. Dr. Michael Stuwe bedanken, der mir bei sozialpolitischen Fragestellungen ebenfalls jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat.

Ein weiterer Dank gebührt dem Förderforum der Fachhochschule Westküste, ohne das die im zweiten Teil dargestellte Untersuchung finanziell nicht möglich gewesen wäre.

In diesem Zusammenhang bin ich auch dem Institut BIK-Aschpurwis und dem Leiter Herrn Behrens sehr dankbar, dass sie die Untersuchung für diese Arbeit durchgeführt haben.

Darüber hinaus gilt ein weiterer Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek, die mich auf Wunsch immer schnell mit Literatur versorgen konnten.

Weiterhin möchte ich mich bei meiner Familie bedanken: Sie hat mich ständig unterstützt, wenn es um das Probelesen oder die Beschreibung von Abbildungen ging, die moralische Unterstützung nicht zu vergessen.

Joachim Hertel, der mir bei der Korrektur der Rechtschreibfehler, den Formatierungen und weiteren Probelesungen hilfreich zur Seite gestanden hat, gebührt ebenfalls ein großes Dankeschön an dieser Stelle.

Es darf hier aber auch nicht das Antiquariat von Hans-Jürgen Tadtke vergessen werden, von dem ich alte, nur noch schwer erhältliche Literatur erworben habe.

Oliver Franz, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Westküste, der die für diese Arbeit erhobenen Daten noch einmal nachgearbeitet hat und sie in einer übersichtlicheren, weil tabellarischen Form, arrangiert hat als es zunächst in der ursprünglichen Arbeit der Fall war, ist hier ebenfalls ein großer Dank auszusprechen.

Diese Untersuchung basiert auf dem so genannten S-O-R-Modell. Dies bedeutet, dass die intervenierenden Prozesse erforscht werden, indem man die Stimuli (S) sowie die daraus resultierenden Reaktionen (R) (Wahlergebnisse) darstellt. Das fehlende Zwischenstück wird versucht durch unterschiedliche Interpretationsansätze darzustellen. Auch wenn es sich hierbei um keine exakte Wissenschaft handelt, wie bei Naturwissenschaften, kann so eine Arbeit allemal dazu dienen, das eigene Verhalten zu reflektieren und zukünftiges Verhalten vorherzusagen. Das Wählerverhalten ist von Natur aus ein sehr komplexer Prozess. Wähler müssen über Parteien und Programme entscheiden, obwohl viele Personen in einer Demokratie gar nicht in der Lage sind, die komplexen Zusammenhänge nationaler und erst recht internationaler Politik zu verstehen, denen sich die Parteien ausgesetzt sehen. Der Wähler klammert sich deshalb oftmals, wie in dieser Untersuchung zu zeigen sein wird, an ihm näher vertraute Dinge, wie den Glauben, den unmittelbaren eigenen Vorteil, die Berichterstattung und Empfehlung in den Medien und noch vieles mehr. In dieser Ausgabe sind, im Gegensatz zur ersten Auflage, weitere Umfeldbedingungen dargestellt, die zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift noch nicht bewusst waren, jetzt aber helfen können das Denken der Wähler besser zu interpretieren. Es sind auch zusätzliche historisch/empirische Daten in diese Schrift eingefügt worden. Des Weiteren konnten im Zeitverlauf weitere Entwicklungen angeführt werden, die diese Materialsammlung ergänzen.

Im dritten Teil befinden sich ‚Daten, die unmittelbar nach ihrem Erscheinen aufgeschrieben wurden. Sie stellen eine unverfälschte Entwicklung der Sicht der Dinge dar. Auch, wenn sich die im dritten Teil gemachten Interpretationen der Daten im weiteren Verlauf nicht bewahrheitet haben, war doch zum Zeitpunkt der Einfügung dieser Daten in das Werk davon auszugehen, dass sie sich als folgerichtig erweisen würden. Sollte dies nicht geschehen sein, ist dies nur ein weiteres Indiz für die Unberechenbarkeit dieses hier untersuchten Verhaltens.

Dieses Buch soll fortgeführt werden für nachfolgende Bundestagswahlen.

Wrohm, den 19. September 2005

1. Vorbemerkungen

1.1 Problematisierung

„Die politischen Parteien stecken in einer neuen Dimension von Vertrauenskrise, die Bundesbürger hätten Angst, seien zutiefst verunsichert und beunruhigt.“

(Diering, F.; Mallwitz, G. in: Die Welt, Ausgabe 31. Oktober 2003)

Diese Beobachtung äußert Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes TNS-Emnid nach den Kommunalwahlen in Brandenburg im Jahr 2003. Hier waren gerade mal durchschnittlich 45 % der Wahlberechtigten zur Stimmenabgabe gegangen.

In einem Artikel der Welt am Sonntag, der den Verfasser dieser Arbeit am 1. Februar 2004 erreicht, wird ein noch düstereres Bild gemalt.

In einem Artikel mit der Überschrift:

„Schröder ließ das Ansehen der Regierung bis ins Bodenlose stürzen - und damit das Vertrauen der Bürger in die Demokratie überhaupt“ äußert sich unter anderem der Berliner Historiker Arnulf Baring folgendermaßen:

„Ich habe lange gezögert, anzunehmen, dass unser Parteiensystem am Ende ist. Die Republik ist sterbenskrank.“ (Reuth, R.G.; Schwilk, H., in: Die Welt am Sonntag, Ausgabe vom 1. Februar 2004)

Diese Aussagen sollen stellvertretend für die Ist-Situation des politischen Zustandes unserer Gesellschaft im Jahr 2004 angeführt werden. Einige Optimisten könnten meinen, dass dies doch in einer wirtschaftlich und politisch freien Gesellschaft nicht so schlimm sei, doch sollte man hier nicht vergessen, dass eine Demokratie vom Mitmachen, vom Vertrauen der Bürger und der politischen Partizipation lebt.

Darüber hinaus könnte eine solche Einstellung, wenn sie viele Bürger teilen, auch ein gefährliches Maß von Protestwählern für nicht demokratische Parteien begünstigen.

So führt Konrad Adenauer beispielsweise die Katastrophe des Nationalsozialismus auf mangelndes Interesse an der Politik zurück: „Der Nationalsozialismus hat trotz der Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen so viele Anhänger gewinnen und auch behalten können, weil das politische Interesse und Verantwortungsbewusstsein in weiten Kreisen der Bevölkerung sehr schwach war.“ (Adenauer, K.,1965, S. 44)

Wie schnell eine populistische Partei auch heute noch Anhänger gewinnen kann, zeigt das Beispiel der „Partei rechtsstaatlicher Offensive“ (PRO) in Hamburg, die auf Anhieb bei der Bürgerschaftswahl 2001 knapp 20 % der Stimmen auf sich vereinen konnte. Auch Parteienforscher Jürgen Falter hält eine Parteineugründung mit Erfolg für möglich. Er sagt: „Eine Parteineugründung zieht viele Unzufriedene und Spinner an – Leute, die in anderen Parteien nicht reüssiert haben und die nur das Negative vereint.“

(Ausgabe der Welt, 7. März 2003, „Er ist ein Vollblutpolitiker, er kann die Massen bewegen“, Parteienforscher Falter zu den Chancen einer Möllemann-Partei)

1.2 Verwendungszusammenhang

Dies führt uns auch zum Verwendungszusammenhang dieser Diplomarbeit.

Zum einen können die Erkenntnisse hieraus als Instrument den politischen Parteien dienen, die sehen, was sie tun müssen, damit der Wähler ein erwünschtes Verhalten bei der Stimmenabgabe an den Tag legt.

Im Gegensatz hierzu kann diese Arbeit auch den Wählerinnen und Wählern im Sinne eines Verbraucherschutzes bei politischen Wahlen dienen, die sich ihrer eigenen Beeinflussbarkeit bewusst werden und sich gezielt gegen parteiliche Beeinflussung

immunisieren können. Hierzu dient auch die Darstellung der unterschiedlichen Wahlprogramme, die ein einigermaßen klares Bild der Ausrichtung der einzelnen Parteien im Zeitverlauf darstellen können und damit dem Leser zeigen, wofür die einzelnen Parteien eigentlich stehen. Als ein möglicher weiterer Nutzen dieser Diplomarbeit könnte die Erweckung eines historischen Verständnisses oder Bewusstseins angesehen werden, welches den Bürgern zeigt, wozu bestimmte Verhaltensweisen in einer Demokratie in der Vergangenheit geführt haben und auch noch heute führen können.

1.3 Fragestellung

Wie hat sich das Wählerverhalten im Laufe des letzten, des 20. Jahrhunderts entwickelt?

Diese Diplomarbeit stellt sich die Frage: Wie hat sich das Wählerverhalten im Laufe des 20 Jahrhunderts bei Reichs- bzw. Bundestagswahlen bezüglich der Zweitstimmenabgabe in Deutschland eigentlich entwickelt? Hier wird keine epochale Abgrenzung gewählt, sondern eine zeitliche, die deshalb die ersten Wahlen im Wilhelminischen Deutschland nicht berücksichtigen kann.[1]

Diese Entwicklung soll insbesondere unter der Berücksichtigung der Einflussgrößen Bildung, hier insbesondere auf Grund der besseren Messbarkeit und der Kenntnis der Quelle, der politischen Schulbildung und dem Medienverhalten gesehen werden. Das heißt also, wie haben die Entwicklung der Bildung und des Medienverhaltens das Wählerverhalten der deutschen Bevölkerung flankierend beeinflusst? Bezüglich der Medien soll also das Vorhandensein des tendenziellen Wirkungszusammenhangs: „staatliche oder öffentlich-rechtliche Medien erzeugen eine Stimmung, das Wählerverhalten folgt dieser Stimmung“, oder „die Stimmung beeinflusst privatwirtschaftliche Medien, diese verstärken eine Stimmung und wirken so wieder auf diese zurück“ nachgewiesen werden. Bei diesen Zusammenhängen wird das Wählerverhalten wieder als Ausfluss einer Stimmung im Volk angesehen. In diesem Zusammenhang könnte man die Bildung und das Medienverhalten auch, bei entsprechender Ausgestaltung dieser, als sich ausgleichende Einflüsse bezeichnen. Während die Medien beeinflussend auf das Individuum wirken, - dies gilt insbesondere bei einer zunehmenden Vielfalt in diesem Bereich - kann die Bildung zu einer objektiveren Beurteilung der Sachverhalte beitragen.

Auf einer anderen Ebene setzt so die richtig verstandene Lektüre einer Zeitung oder das Verständnis für einen Fernseh- oder Radiobericht eine gewisse politische und geschichtliche Bildung voraus. (Vgl. Straßner, E., 1997, S. 6)

Aus Gründen der Kompaktheit dieser Untersuchung können hier jeweils aber nur die offensichtlichsten Zusammenhänge aufgezeigt werden. Bei der Betrachtung dieser Entwicklung handelt es sich um eine zeitliche Längsschnittanalyse, die, um diese Entwicklung greifbarer zu machen, eine gewisse Systematik erfordert.

1.4 Systematik dieser Arbeit

Das 20. Jahrhundert soll zu diesem Zweck in verschiedene Abschnitte eingeteilt werden.

Den ersten Abschnitt stellt hierbei das Wilhelminische Deutschland von 1900 bis 1918 dar. Hierauf folgt die Weimarer Republik von 1919 bis 1933. Der auf diesen Zeitabschnitt mathematisch logisch folgende Zeitraum von 1933 bis 1945 wird auf Grund der nicht vorhanden gewesenen Möglichkeiten des Wählens, politisch zu partizipieren, ausgelassen, jedoch der Weg zum Nationalsozialismus um so detaillierter beleuchtet. Der nächste Zeitabschnitt, der bezüglich des Wählerverhaltens untersucht werden soll, erstreckt sich von 1949 bis 1989. Als letzte Epoche des 20. Jahrhunderts rundet der Zeitraum von 1990 bis 2000 (eigentlich 2002) mit dem wiedervereinigten Deutschland diese Betrachtung ab.

Um eine Entwicklung in den einzelnen, hier skizzierten Zeitabschnitten darzustellen und diese zu bewerten, wird nach jedem dieser Zeiträume verdichtend eine Teilbewertung vorgenommen, die sich nur auf den gerade dargelegten Zeitraum bezieht.

Doch wird sich der Verfasser dieser Arbeit nicht mit einer bloßen Betrachtung der Vergangenheit begnügen und eine Entwicklung somit als abgeschlossen ansehen, sondern unter anderem durch eine aktuelle Befragung einen Ausblick in die Zukunft wagen. Wie also wird sich vermutlich das Wählerverhalten in der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland entwickeln? Hieraus können dann Empfehlungen für Gesellschaft, Wissenschaft und Politik abgeleitet werden. In dieser Ausgabe ist weiterhin ein Kapitel hinzugefügt worden, in welchem anhand von eigenständigen, gegenwärtigen Beobachtungen die Entwicklung des Wählerverhaltens dargestellt wird und die gemachten Vorhersagen schon an einigen Stellen als zutreffend bezeichnet werden können.

1.5 Mögliche Probleme bei der Erforschung des Wählerverhaltens in der Vergangenheit

Bei der Betrachtung der Vergangenheit bezüglich des Wählerverhaltens tauchen verschiedene Probleme auf, die es bei der Verfassung dieser Arbeit zu berücksichtigen gilt.

Zum einen hat sich das geographische Gebiet Deutschlands in der Vergangenheit häufiger verändert und damit auch die in diesem Gebiet lebende Grundgesamtheit des Wahlvolkes. Auf diese Veränderungen soll reagiert werden, indem man auf die geographischen Veränderungen und damit auf die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen quantitativ hinweist. Des Weiteren haben rechtliche Gegebenheiten ebenfalls zu einer Veränderung der Grundgesamtheit bei Reichs- bzw. Bundestagswahlen geführt. Man denke hier nur an das 1918 eingeführte Frauenwahlrecht oder die Veränderung der Grenze zur Volljährigkeit Anfang der 70er Jahre. Diese quantifizierbaren Größen sollen ebenfalls mit in die Bewertung einfließen. Ein weiteres Problem tritt zu Tage, wenn man sich auf eine politische Richtungsdiskussion im Sinne von links bzw. rechts einlässt.

Diese Begriffe der politischen Einordnung sind vom Wähler höchst subjektiv beurteilbar und taugen daher in diesem Fall nicht für die Bewertung politischer Parteien. Friedrich August Hayek beispielsweise schreibt in seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ über eine „sozialistische Wurzel des Nationalsozialismus“, also über eine den Nationalsozialismus begünstigende Strömung, die gemeinhin als „links“ bezeichnet wird, für eine Ideologie, deren Anhänger im allgemeinen Sprachgebrauch als „rechtsradikal“ beschrieben werden.

(Vgl. Hayek, F.A, 2003, S. 210 ff.)

Daher soll sich diese Arbeit, soweit es möglich ist, nur auf programmatische Aussagen der einzelnen Parteien stützen und sich nicht auf Einordnungen in irgendein mit Richtungen bezeichnetes politisches Spektrum naiv verlassen.

Die Begriffe „Bildung“ und „Medienverhalten“ werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch genauer definiert und operationalisiert, um dem Leser eine nachvollziehbare und wissenschaftlich einwandfreie Darstellung einer Entwicklung liefern zu können.

1.6 Zum Aufbau

Die Arbeit soll sich im Wesentlichen an folgenden, für das S-O-R-Modell typischen Aufbau halten:

Zunächst wird das Ergebnis der jeweiligen Wahl angeführt. Hieran schließen sich als Inputfaktoren für den Wähler programmatische Aussagen der bei dieser Wahl angetretenen politischen Kräfte an, die im Vorfeld der Wahl gemacht worden sind oder alternativ die grundsätzliche Ausrichtung dieser, welche vor allen Dingen bei den ersten Wahlen im 20. Jahrhundert herangezogen werden müssen. Ab der Wahl 1969 werden die Programme jeder Partei, falls keine Ausnahme auf Grund von grundsätzlichen inhaltlichen Veränderungen besteht, nur noch in bestimmten Abständen dargestellt. Allerdings wird bis zu diesem Zeitpunkt recht klar, wofür die einzelnen Parteien stehen, da viele Programme auch erhebliche Redundanzen aufweisen und somit eine Kontinuität erkennbar wird. Diese Aussagen sollen verdeutlichen, ob die Absichten der Parteien allein oder andere Faktoren das Wählerverhalten beeinflusst haben und wofür die einzelnen Parteien im Wesentlichen stehen. Hierauf folgt eine Beschreibung der wirtschaftlichen und oder sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Umfeld der jeweiligen Wahl geherrscht haben.

Ab der Wahl von 1949 werden unter diesem Punkt, zunächst unregelmäßig (soweit Daten vorhanden sind), ab der Wahl 1972 regelmäßig, empirisch erhobene Daten verwendet. Der Wähler berichtet hier also selbst, was ihn im Umfeld dieser Wahlen beschäftigt hat. Bis zu jenen Wahlen müssen Ereignisse frei gewählt und Stimmungen abgeleitet werden.

Längerfristige, durch die Politik selbst hervorgerufene Einflüsse für die Wähler könnten nur insofern in die Bewertung des Wählerverhaltens einfließen, indem sie einen Vertrauensverlust hervorgerufen haben auf Grund von lange existierenden und nicht eingelösten Versprechungen der einzelnen Parteien oder auf Grund von Lernprozessen nach dem Motto: Diese Partei ist gut für mich. Dies kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht in angemessener Tiefe geleistet werden. An diesen Punkt schließen sich die Erörterung des Medienverhaltens und der politischen Schulbildung im Umfeld dieser Wahlen an. Bei der politischen Schulbildung sind auch längerfristige Auswirkungen anzunehmen, weswegen diese teilweise auch nur an den Anfang einer Epoche gestellt wird. Als Abrundung der Betrachtung der allermeisten Reichs- oder Bundestagswahlen wird aus diesen Erkenntnissen eine Darstellung und Bewertung der vermuteten intervenierenden Prozesse bei den Wählern während der Stimmenabgabe vorgenommen. Dieser Aufbau gilt so lange, bis ausdrücklich an gegebener Stelle etwas anderes gesagt wird.

Da die Wahlen, die hier betrachtet werden, oftmals in Zeiträumen stattgefunden haben, wo heutzutage auf Grund biologischer Gesetzmäßigkeiten keine Zeugen mehr befragt werden können, stützt sich diese Untersuchung über weite Strecken auf schriftlich dokumentierte Sekundärdaten, die zu früheren Zeitpunkten bereits erhoben worden sind.

1.7 Bisheriger Kenntnisstand

Es existieren zwar unzählige Arbeiten, die sich mit dem Wählerverhalten zu einer bestimmten Zeit befassen, doch es ist dem Verfasser dieser Diplomarbeit nicht bekannt, dass bereits eine Arbeit verfasst worden ist, die sich in systematischer Weise mit der Entwicklung des Wählerverhaltens über einen so langen Zeitraum wie dem des 20. Jahrhunderts befasst.

Klassische Werke, die das Wählerverhalten bei einer Wahl ex post analysieren, sind die auf Grund ihrer Umschlagsfarbe so genannten „blauen Bände“, verfasst von Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann, die seit 1980 erscheinen. Des Weiteren nehmen aber auch diese Werke keine spezifische Analyse der Koevolution zwischen Medienverhalten, politischer Bildung und Wählerverhalten vor.

Eine in die Zukunft blickende, abgeleitete Vermutung bezüglich des Wählerverhaltens ist in der bisherigen Literatur ebenfalls kaum zu finden.

Eine Arbeit, die den verbraucherschutzpolitischen Aspekt des Wählerverhaltens beleuchtet, existiert nach Kenntnis des Verfassers ebenfalls noch nicht.

1.8 Einordnung in den Bereich des Marketing

Um eine Arbeit dieser Thematik in den Bereich des Marketings einbetten zu können, müssen wir uns eine recht weit gefasste Marketingdefinition zur Hand nehmen, die es dem Verfasser dieser Diplomarbeit gestattet, diese Arbeit dort zu platzieren.

Marketing und insbesondere das Konsumentenverhalten sollten in diesem Zusammenhang deshalb als „Verhalten der Letztverbraucher von materiellen“ oder wie in diesem Fall „immateriellen Gütern wie bei Kirchgängern oder Wählern“ verstanden werden.

(Vgl. Kroeber-Riel, W.; Weinberg, P., 2003, S. 3 und in ähnlicher Weise Meffert, H., 2000, S. 8)

2. Nähere, grundsätzliche Beschreibung der

Schwerpunktvariablen

In diesem Abschnitt sollen jetzt die Schwerpunktdeterminanten der Bildung und des Medienverhaltens näher erläutert werden.

2.1 Bildung

„Niemand soll mehr durch besondere Kenntnisse oder gar durch den Besitz von Berufs- und Offenbarungsgeheimnissen andere beherrschen dürfen. Aufklärung schützt so die Menschen vor Verknechtung und Betrug.“ (Rührig, S., 24, in: Kuhn, H.-W.; Massing, P., 1989)

Dieses Zitat soll die Bedeutung insbesondere der politischen Bildung hervorheben. Wenn man sich die Bedeutung dieser Bildung, wie sie in diesem Zitat geschildert wird, einmal bewusst macht, erschreckt es umso mehr, wenn man liest, dass die Kenntnisse der politischen Zusammenhänge zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift im Jahr 2004 dieser Diplomarbeit, immer geringer werden und sich das politische Interesse in der Bevölkerung binnen der letzten zehn Jahre halbiert hat. (Vgl. Die Welt, Ausgabe vom 15. November 2003)

Auf diese Weise kann auch ein Bereich wie die Politik, der eigentlich jedem zugänglich ist, bei mangelndem Interesse zu einem Geheimnis werden, vor dem im Einführungszitat gewarnt worden ist.

Wenn also das Wissen einen Schutz vor Verknechtung oder leicht abgewandelt Manipulation darstellt, simultan dazu die Kenntnisse über die Strukturen der uns zu Grunde liegenden Gesellschaftsordnung immer geringer werden, kann dies auf lange Sicht nur katastrophale Folgen haben. Ob diese Tendenz auch schon in der Vergangenheit die Ursache für gesellschaftlich politische „Katastrophen“ gewesen ist, soll in dieser Diplomarbeit ebenfalls an gegebener Stelle angemerkt werden. Denn die Demokratie setzt mündige Bürger voraus.

Wie eingangs beschrieben, soll die politische Schulbildung als ein Einflussmoment bezüglich des Wählerverhaltens untersucht werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Schüler während ihrer aktiven Schulzeit häufig noch gar nicht wahlberechtigt gewesen sind, dies gilt um so mehr für die Wahlen bis in die siebziger Jahre hinein, wo die Volljährigkeitsgrenze auf 18 Jahre herabgesetzt worden ist. Es muss also die Verzögerung, die zwischen den im Schulunterricht vermittelten Inhalten und der Manifestation im Wahlakt liegt, berücksichtigt werden.

Zur Beurteilung der politischen Bildung in den jeweiligen Zeiten sollen die bildungspolitischen Absichten der Regierenden herangezogen werden. Des Weiteren sollen anhand der Absolventenzahlen der einzelnen Schularten Erkenntnisse über den Bildungsstand der Jugend bei den jeweiligen Wahlen gewonnen werden. Ebenfalls wird an einigen Stellen angeführt, welche Parteien von den Schulabgängern der unterschiedlichen Schularten gewählt worden sind. Dass die Vermittlung der Inhalte im Unterricht sowohl bestärkenden Charakter für die Jugend haben kann, als auch einen Charakter, der in Form von Trotz oder Reaktanz eine Ablehnung der Inhalte hervorrufen kann, wird an den passenden Stellen erwähnt und zur Erklärung der Verhaltensweisen in den passenden Passagen erklärend angeführt.

Das bloße Desinteresse kann hier ebenfalls als Reaktionsalternative auf die Vermittlung der politischen Bildungsinhalte zu Tage treten.

2.2 Medienverhalten

Es soll in dieser Kategorie überprüft werden, ob eine Abhängigkeit besteht vom Medienverhalten zum Wählerverhalten. Die Medien, hier sind vor allen Dingen Radio, Fernsehen (Rundfunk im Allgemeinen) und Zeitungen gemeint, spielen bei dieser Betrachtung die Rolle der Vermittler der politischen Geschehnisse und Inhalte.

Hier soll zunächst über die verkauften oder gedruckten Auflagen, die Abonnenten- oder Rezipientenzahlen, also der Reichweite der einzelnen Medien, quantitativ eine Übersicht über die Medienwelt zu den jeweiligen Zeiten gegeben werden. Dieser Übersicht soll eine Beurteilung der Medien bezüglich ihrer kommunikativen Wirkung vorangestellt sein, um die Wirkung dieser auf die Bevölkerung und damit auf die Stimmung und das Wählerverhalten besser einschätzen zu können. Es wird hierbei der Wandel von bloßen Printmedien hin zu elektronischen Medien und der sich ändernden Vielfalt zu erkennen und zu berücksichtigen sein. Besonders interessant sind bei dieser Betrachtung auch Medien, die in eine bestimmte Parteirichtung tendieren und damit gezielt Informationen in bestimmter Weise kommentieren. Diese Art der Medien wird, wo es dem Verfasser möglich ist, näher beleuchtet und zur Erklärung des Wählerverhaltens herangezogen.

Im Folgenden sollen jetzt die einzelnen Medien etwas näher beleuchtet werden hinsichtlich ihrer bisherigen Verwendung und ihrer kommunikativen Wirkung.

2.2.1 Fernsehen

Das Fernsehen ist schon früh als Instrument zur “geistigen Massenbeeinflussung“ erkannt worden. (Röpke, W., 1958, S. 78)

Dieses Medium zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es multisensual gleichzeitig bildliche, akustische, schriftliche, paraverbale (Tonfall der Stimme) und nonverbale (u.a. Gestik, Mimik) Informationen vermitteln kann, deren simultane Verarbeitung hohe Anforderungen an den Rezipienten stellt. Bildliche Informationen werden hierbei am unkompliziertesten verarbeitet. Dies geschieht oft ohne eine große kognitive Kontrolle durch den Betrachter. Die Besonderheiten beim Fernsehen sind unter anderem eine Informationsverdichtung im visuellen und auditiven Kanal. Hierzu gehören insbesondere Schnitte, Zoom, kein beliebig langes Betrachten eines bestimmten Stimulus, nicht zu beeinflussender Bilderfluss und verkürzte Sprache.

Andere Wahrnehmungseindrücke, die in der Alltagskommunikation leicht erfassbar sind, können hier nur indirekt erschlossen werden. Hierzu gehören u.a. Geschmack, Geruch und taktile Reize. (Vgl. Schenk ,M., 1987, S. 82 ff.; Kroeber-Riel, W.; Weinberg, P., 2003, S. 225 ff. und S. 588 ff.)

Zudem werden dem Fernsehen auch fünf psychologische Funktionen zugesprochen:

Diese sind im Einzelnen: Orientierungsfunktion (Orientierung durch Informationsaufnahme), Unterhaltungsfunktion, Flucht- und Entlastungsfunktion, Partner- oder Partnerersatzfunktion und Kontaktfunktion (Fernsehen als Grundlage für Kontakte). Diese Wirkungen mag auch bereits das Radio im Einzelnen gehabt haben, allerdings kamen sie erst beim Fernsehen richtig zum Tragen. (Vgl. Wilke, J., 1999, S. 436)

2.2.2 Das Radio

Im Jahre 1924 wird das Radio für die breiten Massen entwickelt. In der Weihnachtsansprache 1924 ist Hans Bredo, Staatssekretär im Reichspostministerium, diesbezüglich geradezu euphorisch. Er bezeichnet das Radio als „besonders wichtig für die Volksbildung“. Durch das Radio, so sagt er weiter, „wird das ganze Land zu einem großen Hörsaal.“ (Vgl. Meyer-Kahrwig, D., 2001b, Track 5)

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelt sich das Radio zu einem Medium, welches begleitend im Hintergrund agiert.

2.2.3 Die Zeitung

Der Begriff „Zeitung“ ist auf den mittelniederdeutschen-mittelniederländischen Begriff Tedinge =“Botschaft, Nachricht“ zurückzuführen. (Straßner, E., 1997, S. 1)

Eine genauere Definition nimmt Kaspar Stieler vor, der im Jahre 1695 die Zeitung folgendermaßen beschreibt: „Das Wort Zeitung kommt von der Zeit darinnen man lebet hierin/kann beschrieben werden, dass sie Benachrichtigungen seien/von Händeln welche zu unserer gegenwärtigen Zeit in der Welt vorgehen...“. (Straßner, E., 1997, S. 1).

Eine Zeitung hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auch heutzutage unter anderem folgende Grundmerkmale zu beinhalten:

- Wahrhaftigkeit der Berichterstattung
- Universalität der Berichterstattung
- Aktualität

Die Zeitung hat seit jeher sowohl gezielt als auch unwillkürlich einen Einfluss auf die gesellschaftliche und die politische Entwicklung der Menschen ausgeübt. In dem Buch „the press“ von Wickham Steed wird die Presse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch als „central problem of modern democracy“ beschrieben. (Steed, W.H., 1938, S. 7)

Die Hauptaufgabe der Zeitung soll das „Vermitteln“ von Informationen sein. Parteipolitisch ausgerichtete Zeitungen hingegen wurden insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als das „beste und wirksamste Kampfmittel“ bezeichnet. „Als Mittel, die Parteimitglieder aufzuklären und zum Parteibewusstsein zu erziehen.“ (Haller, Parteitag der SPD, Oktober 1890).

Wie hoch die Wirksamkeit der Presse bei der Beeinflussung der Bevölkerung eingeschätzt worden ist, zeigt sich auch in der Strenge des Lizensierungsverfahrens, mit der die Presse nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wieder aufgebaut worden ist. Hier hat man befürchtet, ansonsten eine zu große Beeinflussung der Menschen durch nicht demokratische Informationen zu fördern.

So hat es den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland erst ab dem 21. September 1949 wieder freigestanden, ohne erteilte Lizenz eigene Zeitungen zu drucken und zu verlegen.

(Vgl. Straßner, E., 1997, S. 10)

Der Ausdruck der vierten Macht im Staate „the fourth estate“ (Steed, W.H., 1938, S. 10) kommt diesbezüglich also nicht von ungefähr.

Aber auf der anderen Seite ist eine freie Presse für eine Demokratie auch unerlässlich: „The press is still the chief means of giving a free people some notion of what is going on, the main vehicle alike of public information, public opinion and public criticism”.

(Steed, W.H., 1938, S. 6)

Ein Problem stellt sich allerdings dar, wenn man die privatwirtschaftliche Presse und ihren Zwang auch zur marktgerechten Berichterstattung betrachtet. Hier ist die Presse häufig gezwungen, den „Massengeschmack“ zu treffen und damit unter bestimmten Umständen eine Senkung des Niveaus vorzunehmen.

ERSTER TEIL: BETRACHTUNG DER ENTWICKLUNG DES WÄHLERVERHALTENS IN ABHÄNGIGKEIT VOM MEDIENVERHALTEN UND VON DER POLITISCHEN SCHULBILDUNG BIS IN DIE GEGENWART

KAPITEL I. WAHLEN ZWISCHEN 1903 UND 1912

1. Verfassung des Deutschen Reiches von 1871

Die folgende Darstellung soll den Charakter des Deutschen Reiches von 1871 bis 1919 zeigen und Aufschlüsse über das politische System geben, die zur Beurteilung und zur richtigen Einordnung der Wahlergebnisse verwendet werden sollen.

Im Folgenden werden jetzt die einzelnen Organe und Institutionen des Wilhelminischen Deutschlands näher beschrieben.

1.1 Der Kaiser

Der Kaiser ist immer der preußische König, dieser übte im Wilhelminischen Deutschland die exekutive Gewalt aus. Im Feld der Außenpolitik ist er alleiniger Souverän. Unabhängig davon haben die Einzelstaaten das Recht, eigene Gesandtschaften ins Ausland zu entsenden. Der Kaiser benennt den Reichskanzler, der allein ihm Rechenschaft schuldet. Der Monarch ist Oberbefehlshaber des Reichsheers. Sein diesbezüglich ausgeübtes Kommando entzieht sich jeglicher Kontrolle durch Reichstag oder Regierung. Es ist dem Kaiser möglich, mit Zustimmung des Bundesrates Kriegserklärungen auszusprechen. Des Weiteren ernennt und entlässt der Kaiser die Reichsbeamten. Als Inhaber des Deutschen Bundes beruft er Bundesrat und Reichstag ein. Der Monarch hat auch darüber hinaus die Möglichkeit, den Reichstag aufzulösen. Der eigentliche Souverän jedoch ist die Versammlung der Bundesfürsten, der Bundesrat.

1.2 Die Regierung

Chef einer Regierung im Wilhelminischen Deutschland ist der vom Kaiser ernannte Reichskanzler, welcher allein dem Kaiser verantwortlich ist und in Personalunion auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten innehat. Ihm unterstehen die obersten Reichsbehörden, das Auswärtige- und das Reichskanzleramt. Die Reichsämter werden nicht von Ministern, sondern von Staatssekretären geführt, welche den Status untergebener Beamter besitzen. Die Regierung ist dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich. Der Reichskanzler ist Vorsitzender im Bundesrat und steuert diesen über seine Stimmen. Die Richtlinien der Politik werden gemeinsam vom Kaiser, dem Reichskanzler und dem Bundesrat bestimmt.

1.3 Der Bundesrat

Im Bundesrat sitzen die Vertreter der 25 Souveräne des Deutschen Reiches. Sie verfügen insgesamt über 55 Stimmen, davon gehören 17 Stimmen Preußen, das hiermit über eine Sperrminorität verfügt. Es kann in diesem Zusammenhang auch von einer „indirekten Hegemonie“ Preußens gesprochen werden, weil ohne dessen Zustimmung im Bundesrat nichts beschlossen werden kann. Der Reichskanzler, der, wie bereits ausgeführt, gleichzeitig Ministerpräsident Preußens gewesen ist, führt in diesem Reichsorgan den Vorsitz. In Übereinstimmung mit der Mehrheit des Reichstages nimmt der Bundesrat die Gesetzgebung wahr.

Der Bundesrat kontrolliert die Regierung über Ausschüsse.

Verfassungsänderungen können mit 14 von 58 Stimmen verhindert werden. Bei Beschlüssen, die Heer, Zoll oder Flotte betreffen, kann der Kaiser sein Veto einlegen. Die vielfältigen und weitreichenden Kompetenzen machen den Bundesrat zu einer gewichtigen Institution.

1.4 Der Reichstag

Der Reichstag stellt die Vertretung des deutschen Volkes dar. Der Reichstag besteht aus 397 Abgeordneten, die zunächst auf drei später auf fünf Jahre gewählt werden. Das Parlament wird in einem absoluten Mehrheitswahlrecht von der männlichen Bevölkerung des Reiches über 25 Jahren allgemein, frei, gleich, unmittelbar und geheim gewählt. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Artikel 32 der Verfassung von 1871 ausdrücklich kein Entgelt für die Abgeordneten vorgesehen hat. Dies führt zu dem pikanten Umstand, dass, obwohl das Dreiklassenwahlrecht auf Reichsebene nicht mehr existiert hat, die gewählten Volksvertreter weiterhin auf finanzielle Unterstützung der vermögenden Volksschichten angewiesen sein konnten. Erst seit dem 8. Mai 1901 werden den Abgeordneten im Reichstag für ihre Tätigkeit Freifahrten auf den Eisenbahnen sowie eine geringe Entschädigung für ihre Anwesenheit in Berlin gezahlt.

Das System der damaligen Wahlen erinnert zudem stark an die Funktion der heutigen Erststimme bei Bundestagswahlen, mit der man Vertreter aus den eigenen Wahlkreisen in den Bundestag entsenden kann. Eine Zweitstimme nach heutigem Vorbild hat es damals noch nicht gegeben.

Der Reichstag hat gemeinsam mit dem Bundesrat die Reichstagsgesetzgebung inne. Der Reichstag besitzt wenig Kompetenzen gegenüber der Exekutive und auch kein wirksames Recht auf Gesetzesinitiativen. Seine Rechte entsprechen einem suspensiven Vetorecht. Der Reichskanzler ist, wie weiter oben bereits erwähnt, dieser Versammlung keine Rechenschaft über sein Handeln schuldig. Aus diesen Kompetenzverteilungen ergibt sich eine insgesamt schwache Stellung des Reichstages. (Vgl. Bemmerlein, G., 1985, S. 114 ff.)

Dennoch soll diese Feststellung keine Zweifel an dem Sinn des Abhaltens von Wahlen aufkommen lassen. So wird in einem Buch der Universität von North Carolina gesagt: „Elections could not remove chancellors, but they were viewed as indicators of a public opinion that increasingly could not be ignored.” (Fairbairn, B., 1985, S. 11)

Hiermit stellt sich der Verfasser dieser Diplomarbeit gegen die Meinung von Michael Stürmer, der sagt, dass es sich beim Wahlsystem im Wilhelminischen Deutschland um eine „plebiszitäre Ersatzmonarchie“ gehandelt habe, die die Wahl und andere massenpolitischen Akte überflüssig gemacht hätten. (Fairbairn, B., 1985, S. 6)

Dies gilt umso mehr, da der Bundesrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr und mehr an Macht verloren hat. Hiermit wird eine Entwicklung eingeleitet, die in der Literatur auch als „Verreichung“ beschrieben wird, gleichzeitig führt die Übertragung weitreichender Kompetenzen vom Bundesrat zum Reichstag zu einer schrittweisen Entmachtung Preußens.

Der Reichstag bestimmt immer mehr das Tätigkeitsfeld des Bundesrates. (Vgl. Rauh, M., 1977, S. 17 ff.).

Zwischen 1900 und 1910 hört der Bundesrat dann auch auf, Zentralorgan der Reichsverfassung zu sein, was ein stärkeres Gewicht der Parteien im Reichstag fördert und damit Wahlen umso wichtiger macht.

2. Analyse des Wählerverhaltens im Wilhelminischen Deutschland

In den jetzt folgenden Abschnitten wird in der bereits weiter oben beschriebenen Form das Wählerverhalten bei den Reichstagswahlen analysiert. Die Störvariablen sollen hier so gut wie möglich herausgefiltert werden, so dass die Einflussfaktoren Bildung und Medienverhalten klar erkennbar werden. Die hier geschilderten Wahlen haben noch etwas anderen Voraussetzungen gehorchen müssen als heutige Wahlen. So hat man, wie bei der Erststimme der heutigen Bundestagswahlen, regionale Vertreter in den Reichstag entsenden können. Haben die Parteien im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreichen können, sind Stichwahlen abgehalten worden. Die Parteien sind auch bei Weitem nicht immer in allen Wahlkreisen angetreten, es hat hier vielmehr auch häufig Absprachen unter den Parteien gegeben. Die Tatsache, dass diese nicht in allen Wahlkreisen angetreten sein müssen, könnte die folgende Betrachtung in gewissem Sinne verfälschen, würde man nur die Prozentwerte der einzelnen Parteien angeben. Um eine Tendenz auch unter diesen Voraussetzungen besser nachvollziehbar zu machen, werden hier zusätzlich auch die absoluten Zahlen angeführt.

Bei der Betrachtung aller in dieser Arbeit geschilderten und untersuchten Wahlen sei des Weiteren vorweg ein Umstand angemerkt, der bei der Erklärung des Wählerverhaltens noch von Bedeutung sein wird: Der Umstand, „dass in überaus zahlreichen Fällen das politische Denken der Menschen keineswegs ihren letzten religiös-philosophischen Überzeugungen“ entsprechen muss, „weil verwickelte Fragen wirtschaftlicher oder anderer Art sie daran hindern, den Konflikt zu erkennen.“ (Röpke, W., 1958, S. 5)

2.1 Reichstagswahl von 1903

Die erste Wahl im Deutschland des 20. Jahrhunderts[2] hat außenpolitisch im Zeichen eines nach Weltmacht strebenden Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II., und innenpolitisch unter dem Eindruck steigender Lebenshaltungskosten gestanden. Dieser Umstand ist von der SPD damals im Wahlkampf als „Brotwucher“ bezeichnet worden.

2.1.1 Wahlergebnisse

Tabelle 1: Reichstagswahlen 1903

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene graphische Darstellung gemäß Zahlenmaterial aus: Schmädeke, J. 1995a

Die Bevölkerungszahl im Deutschen Reich beträgt zu diesem Zeitpunkt 56,367 Millionen Einwohner. Die Zahl der Wahlberechtigten, die für uns vor allen Dingen von Bedeutung ist, hat bei dieser Stimmenabgabe 12,531 Millionen Personen betragen. Die Wahlbeteiligung liegt bei 76,1 %. Die Anzahl der gültigen Stimmen beträgt hier 9,495 Millionen.

Bemerkenswert an diesen Wahlen ist, dass die SPD nach dem Wegfall des Sozialistengesetzes 1890 zum dritten Mal in Folge einen Stimmenzuwachs erfahren hat.[3] (Vgl. Birkenfeld, W.; Ebeling, H., 1975, S. 198 ff.)

In diesem Zusammenhang wird 1903 auch von einem „politischen Dammbruch“ gesprochen. Diese Wahl lässt die Stimmenzahl der SPD um 660.000 Wähler im Vergleich zur vorangegangenen Wahl steigen. Sie ist hiermit 1903 das erste Mal die wählerstärkste Partei im Deutschen Reich. (Vgl. Schmädeke, J., 1995a, S. 677 ff.)

2.1.2 Programmatische Aussagen der einzelnen politischen Parteien im Wilhelminischen Deutschland

Zu Beginn dieser Darstellungen muss darauf hingewiesen werden, dass es zu dieser Zeit, laut Aussage einer Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, noch keine Wahlprogramme, wie sie heutzutage vor einer Wahl gedruckt und verteilt werden, gegeben hat. Es werden zu dieser Zeit hauptsächlich Zeitungsanzeigen geschaltet, auf die unter dem Punkt „Medienverhalten“ noch näher eingegangen wird.

Aus diesem Grund sollen die grundsätzlichen Ausrichtungen der einzelnen Parteien und deren eigentliche Klientel dargestellt werden.

Durch die Darstellung der Mitglieder und deren soziodemographischer Herkunft können ebenfalls Aufschlüsse über die Positionierung der Parteien gewonnen werden. Hierbei muss man dann allerdings gelten lassen, dass die Parteien immer nur ein Produkt der Einstellungen ihrer Mitglieder sein können.

2.1.2.1 Zentrum (Deutsche Zentrumspartei)

Die Vorläuferin der Zentrumspartei ist die „Katholische Fraktion“ von 1852 im preußischen Landtag und die der Paulskirche von 1848 gewesen. Die Zentrumspartei entsteht im Zeichen der Reichsgründung 1870. Im preußischen Landtag ist sie das Produkt eines Zusammenschlusses von katholischen Abgeordneten. Ihr Vorsitzender ist hier zunächst der ehemalige hannoverische Justizminister Ludwig Windhorst. Bis 1890 verfügt sie bereits über 26,7 % der Mandatsanteile im Reichstag.

Die Mitglieder der Zentrumspartei sind in der Regel katholische Gläubige aus allen Bevölkerungsschichten. Hier ist also offenbar der Glaube das verbindende Element.

Das Zentrum vertritt die Interessen der katholischen Bevölkerungsminorität im Reich. Es ist das Sammelbecken katholischer Ideale gegen den Liberalismus und Sozialismus gewesen. Das Zentrum spricht sich für Eingriffe des Staates zur Lösung der sozialen Frage aus. Im Kulturkampf bis 1879 ist das Zentrum der erbitterte Gegner Bismarcks.

2.1.2.2 Freikonservative Partei (Deutsche Reichspartei seit 1871)

Diese Partei wird 1867 als Reaktion auf die Überlegenheit der Liberalen im Preußischen Landtag gegründet.

Die Mitglieder dieser Partei bestehen überwiegend aus protestantischen Geistlichen, Beamten, Offizieren, Grundbesitzern, dem Adel und wohlhabenden Landwirten.

Ein Ziel, welches sich diese Partei gesteckt hat, ist die Wahrung der kulturpolitischen Interessen des preußischen Protestantismus. Ein weiteres Ziel dieser Partei ist die Wahrnehmung der Interessen der ostelbischen Agrarier. Sie spricht sich eindeutig gegen Konstitutionalismus und die Teilung der Gewalten aus. Die Anhänger dieser Partei sind überzeugte preußische Monarchisten. Bezüglich der Lösung der sozialen Frage vertritt diese Partei ein typisch christlich-patriarchalisches Denken.

2.1.2.3 Deutsch-Konservative Partei

Diese Partei wird 1861 als Preußischer Volksverein mit der Intention gegründet, ein Gegengewicht zu den Liberalen zu schaffen.

1876 trennt sich diese Partei von der freikonservativen Partei als Ausdruck der Ablehnung der Reichspolitik Bismarcks.

Als Mitglieder dieser Partei sind adlige Großgrundbesitzer zu finden wie auch Großbürgertum aus dem Osten des Reiches.

Diese Partei hat ein großes Misstrauen gegenüber einer nationalen Einheit Deutschlands gehegt. Weiterhin vertritt sie die Interessen ihrer Klientel.

2.1.2.4 Nationalliberale Partei

Die Nationalliberale Partei ist aus einer Abspaltung von der Fortschrittspartei im Jahre 1866 hervorgegangen. Ihre Mitglieder sind vorwiegend Bankiers und Industrielle, sie kommen aus dem protestantischen Bildungsbürgertum.

Die Nationalliberale Partei steht für die nationale Einigung und für einen verfassten Rechtsstaat. Des Weiteren stehen die Nationalliberalen für wirtschaftliche Freiheit, es wird übereinstimmend hierzu jeder staatliche Eingriff in die Wirtschaft abgelehnt.

2.1.2.5 Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands

Vorläuferin der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands ist die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), den Ferdinand Lassalle 1863 gegründet hat. Beide vereinigen sich 1875 zur SAP und schließlich zur SPD.

Die Mitglieder stammen hier überwiegend aus dem Arbeitnehmerlager. Es finden sich nur vereinzelt Bildungsbürger in dieser Partei.

In der SPD finden sowohl Marxisten als auch Lassallianer zum Ende des 19. Jahrhunderts ihre politische Heimat. Im Laufe der Sozialistenverfolgung wird die Partei zunehmend marxistisch. Es werden Forderungen laut wie:

Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in Gesellschaftseigentum. Des Weiteren werden der Sozialismus, die Demokratie und die Republik gefordert.[4]

(Vgl. Bemmerlein, G., 1985, S. 118 ff.)

2.1.3 Gesellschaftlicher Hintergrund und Zeitgeist des Wilhelminischen Deutschlands im 20. Jahrhundert

In diesem Abschnitt sollen der Zeitgeist und der gesellschaftliche Hintergrund aller Reichstagswahlen zwischen 1900 und 1912, also leicht abweichend von dem in den Vorbemerkungen beschriebenen Aufbau dargestellt werden. Nach 1912 haben in diesem weiter oben abgegrenzten Zeitabschnitt keine Reichstagswahlen mehr stattgefunden.

Der gesellschaftliche Hintergrund soll als Hilfe dienen, um die Wahlergebnisse in dieser Periode zu interpretieren.

- Am Anfang des 20. Jahrhunderts steht in Deutschland die Erstellung des bürgerlichen Gesetzbuches, welches auch noch heute grundlegende Gültigkeit besitzt.
- Die Zeit von 1900 bis 1912 ist geprägt von einem Denken, welches Deutschland als Weltmacht einstuft und dem Land einen, wie Wilhelm II. es beschreibt, „Platz an der Sonne“ zugestehen möchte. Dieses Denken manifestiert sich auch in dem imperialistischen, kolonialistischen Vorgehen der Deutschen in Deutsch-Ost- und Deutsch-Südwest-Afrika. Der Herero-Aufstand von 1904 ist nur ein Beispiel für das Vorgehen der Deutschen in diesen Gebieten. (Beim Herero-Aufstand sterben von 85.000 Stammesangehörigen 60.000.). Dieses Vorgehen zeigt nur allzu gut, dass Krieg in dieser Zeit immer noch ein legitimes Mittel der Politik darstellt.
- Des Weiteren ist diese Zeit sehr stark vom Szientismus, von einem technizistischen Denken beeinflusst. Zahlreiche Erfindungen revolutionieren das Leben und damit das Denken der Menschen in dieser Zeit. Albert Einsteins spezielle Relativitätstheorie aus dem Jahre 1905 ist hier nur ein Beispiel.
- Weiterhin erfasst die Elektrizität weite Teile der Welt. Es gehen in der Zeit von 1901 bis 1919 23 Nobelpreise an deutsche Forscher (kein Friedensnobelpreis).
- Auf Grund der von Wilhelm II. 1898 geäußerten Ansicht, dass die Zukunft auf dem Wasser liege, wird die deutsche Flotte unter der Leitung des Staatssekretärs Alfred von Tirpitz in dieser Zeit stark ausgebaut.
- Während dies alles geschieht, leben viele Arbeiter in Elendsvierteln. Diese Erscheinung kann trotz der Einführung der Sozialversicherung durch Bismarck in den 1880er Jahren nicht verhindert werden. (Bismarck führte die Sozialversicherung damals ein, weil er wusste, dass der Staat von sich aus erfüllen müsse, was in den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dem Rahmen der damaligen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden konnte. Es ist das Ziel gewesen, die Arbeitnehmer mit dem Staat zu versöhnen und die Interessen von Arbeitgebern und -nehmern ein Stück weit zu harmonisieren. Im Einzelnen sah das damalige Sozialversicherungssystem folgendermaßen aus:
- 1891 traten verschiedene Gesetze zur Sozialversicherung in Kraft. Hier sind zunächst eine soziale Kranken- und Unfallversicherung, sowie Alters- und Invaliditätsrenten zu nennen. Neben einer allgemeinen Versicherungspflicht für Arbeitnehmer und gering verdienende Angestellte ist eine auf freiwilliger Basis stehende Weiterversicherung nach Beendigung der Versicherungspflicht und eine Selbstversicherung für Hauptgewerbetreibende und nicht versicherungspflichtige Unternehmer eingeführt worden. Der Zeitpunkt für den Bezug von Altersrenten ist mit der Vollendung des 70. Lebensjahres festgesetzt worden. Neben der Altersrente hat es Invalidenrenten bei Arbeitsunfähigkeit gegeben. Für die Invalidenrente betrug die Wartezeit 5, für die Altersrente 30 Beitragsjahre. Hierbei sind Zeiten für Militärdienste angerechnet worden. Die Höhen dieser Renten haben sich nach einem Lohnklassensystem mit vier Lohnklassen gerichtet. Die Finanzierung bestand aus der paritätischen Zahlung von Beiträgen durch die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Der Nachweis der Entrichtung dieser Beiträge wurde durch Beitragsmarken gesichert. Zusätzlich zu diesen aus Beiträgen erwachsenden Anwartschaften zahlte der Staat bei Altersrenten einen Zuschuss von 50, bei Invalidenrenten von 60 Mark. Die Auszahlung der Renten ist damals durch die Post geregelt worden. (Vgl. Brück ,W., 1976, S. 127 ff.)

Das Ziel der Bismarckschen Gesetzgebung, die Versöhnung von Staat und Arbeitnehmern, ist nicht erreicht worden. Dies hat nicht nur an der Verärgerung dieser über das einstmals eingeführte und 1890 wieder aufgehobene Sozialistengesetz gelegen, sondern auch am Widerstand der Marxisten in der SPD gegen die von ihnen so genannten „Bettelbrocken“.

- Es werden die Schienen- und Straßennetze ausgebaut und damit die Mobilität der Menschen in dieser Zeit erhöht.
- Der Zeppelin beginnt am Anfang des 20. Jahrhunderts das Zeitalter der deutschen Luftfahrt zu erwecken.
- Im Europa dieser Tage kommt es immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen. Es entsteht eine Auseinandersetzung zwischen Militaristen und Antisemiten auf der einen und Demokraten und Republikanern auf der anderen Seite. (Vgl. Meyer-Kahrwig, D., 2001a, Track 1 ff.)

2.1.4 Wirtschaftlicher Hintergrund

Betrachtet man sich die wirtschaftlichen Umstände im Deutschland jener Zeit, wird einem das folgende Bild gewahr. Es ist zu dieser Zeit eine hohe Konzentration der Wirtschaft in Kartellen, Großunternehmen, Syndikaten und über Preisabsprachen zu beobachten.

Zur Konzentration der Wirtschaft in Großbetrieben siehe Tabelle 2.

Tabelle 2: Konzentration der Wirtschaft in Großbetrieben

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Hentschel, V., 1978. S. 54)

Aus der Verschiebung der relativen Preise zu Gunsten der Montanindustrie und der Landwirtschaft in den 1870er und 1880er Jahren entwickeln sich organisierte Interessengruppen, die gemeinsam als Koalition von beispielsweise Roggen und Stahl den Staat im Hinblick auf protektionistische Maßnahmen für ihre Interessensphären zu beeinflussen suchen und damit die Tendenz zum Interventionsstaat stärken.

Hierzu gehört beispielsweise der Bund der Landwirte (BdL).

Als Reaktion auf die als antiagrarisch empfundene Politik des früheren Reichskanzlers Caprivi gründet sich der BdL 1893 als Interessenverband vornehmlich der marktorientierten Agrarproduzenten. Der BdL ist wichtigster konservativer Verband, der über Elitezirkel hinauswächst und damit auch ein gewisses politisches Gewicht bekommt. So zählt er 1905 bereits 300.000 Mitglieder. In der Führung hat jedoch das ostelbische Gutsbesitzertum dominiert. Der BdL gilt als wichtigster Mobilisator von Parteianhängern, wie beispielsweise für die Deutsch-Konservative Partei bei Reichstagswahlen.

Durch eine die Landwirte benachteiligende Politik könnten im Folgenden also bestimmte Stimmenverschiebungen bei Reichstagswahlen erklärt werden.

Der Staat hat in der damaligen Zeit noch keine aktive Konjunkturpolitik betrieben, vielmehr haben verschiedene Interessengruppen versucht, den Staat zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

- 1890 bis 1913 bleibt die Steuerbelastung bei ca. 10 % des BSP. Der Staatsanteil steigt jedoch in dieser Zeit von 13,8 % auf 18,8 % an (öffentliche Betriebe, Sozialversicherung, Verschuldung).
- Mit der Einführung von Zöllen auf verarbeitetes Eisen sowie Getreide ist Deutschland 1879 bereits ein Schrittmacher bei der Abkehr vom Freihandel gewesen.
- Kartelle und Absprachen sorgen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts selbst in konjunkturellen Tälern für stabile Preise. Damit wird unter anderem der im Vergleich zu Großbritannien schwächere konjunkturelle Einbruch der deutschen Montanindustrie 1886, 1891, 1901 und 1908 erklärt.
- Für die Landwirtschaft und insbesondere für die Schweinezucht ergibt sich Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Stabilisierung der Preise durch konsequente Rückführung der Schweineimporte um 95 % durch schärfere Veterinärbestimmungen.
- Der seit den 1890er Jahren anhaltende Preisverfall bei Getreide kann durch Zölle nicht vollständig kompensiert werden, jedoch erfolgt nach 1900 eine durch Zölle hervorgerufene Umverteilung des BSP von ca. 1 % an landwirtschaftliche Marktproduzenten.
- Insgesamt gesehen geht es der deutschen Wirtschaft und Bevölkerung in diesen Tagen vergleichsweise gut. Hierfür sprechen auch folgende Fakten: Die deutsche Volkswirtschaft überholt Anfang des 20. Jahrhunderts viele westeuropäische Staaten. Deutschland liegt im Außenhandel hinter den USA und Großbritannien weltweit auf Platz drei. Die Zahl der zu unterstützenden Personen geht zurück. Die Hamburger Armenverwaltung sagt in ihrem Jahresbericht aus dem Jahre 1900, dass trotz eines Bevölkerungswachstums die Zahl der zu unterstützenden Personen auf 1.890.135 Menschen zurückgegangen sei, 1894 waren es noch 2.009.363 Menschen, die durch Barzahlungen unterstützt werden mussten.

(Vgl. htttp://www.UniMuenster.de/Geschichtephilosophie/GG=Materialien/DTWirtschaft/Sitzung4.pdf 10. Februar 2004, siehe hierzu Anhang, Hentschel, V., 1978, vgl. hierzu auch die Chronik des 20. Jahrhunderts, 1983, S. 43 ff.)

2.1.5 Politische Schulbildung jener Tage

Es ist schwer, konkrete politische Maßnahmen auf die Schulbildung, die der Reichstagswahl 1903 vorangehen, verursachungsgerecht zuzuordnen. Es soll daher vielmehr zunächst der bildungspolitische Zeitgeist dieser Tage erläutert werden. Dies hat nach Meinung des Verfassers dieser Arbeit auch keine gravierenden Auswirkungen auf die Güte der Erklärung des Wählerverhaltens bei den Reichstagswahlen bis 1912, da man ohnehin eine Verzögerungswirkung, bis die Empfänger der vermittelten Bildungsinhalte in das wahlfähige Alter kommen, berücksichtigen muss.

Als ein wichtiges Ereignis jener Tage, welches sich auf die politische Schulbildung ausgewirkt hat, sei der Erlass Wilhelm II. vom 1. Mai 1889 angeführt.

In diesem Erlass hat der Kaiser den Versuch unternommen, die preußische Schule als innenpolitisches Instrument im „Kampf gegen die Sozialdemokratie“ einzusetzen. Durch „die Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande“ sollte die Basis gelegt werden, von der aus die Schule der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenwirken sollte.

Folgende den Unterricht gestaltende Elemente sollten hierfür eingesetzt werden:

- Stärkere Betonung der ethischen Seite im Religionsunterricht.
- Fortführung der Behandlung der „vaterländischen Geschichte“ bis in die Gegenwart.
- Einbeziehung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesetzgebung seit Beginn des 19. Jahrhunderts.

Auf diese Art und Weise sollte die Tradition „landesväterlichen Schutzes in der preußischen Monarchie ihre segensreiche Wirkung für die arbeitende Bevölkerung der Jugend“ bewusst gemacht werden. (Kuhn, H.-W.; Massing, P., 1989, S. 17)

Hiervon erhofft man sich, dass die sozialdemokratischen Ideen als „Gefährdung des Gemeinwohls“ anerkannt werden würden.

Um die korrekte Vermittlung des Unterrichtsstoffes zu gewährleisten, sollte wenig später in den Lehrerseminaren eine „Unterweisung in den elementaren Grundsätzen der Volkswirtschaft“ vorgenommen werden.

Die Regierung stellt ausgewählten Stoff zum Seminarlesebuch zusammen.

1892 finden die Absichten Wilhelm II. Eingang in die preußischen Lehrpläne für die höheren Schulen. Außerhalb Preußens, in Baden beispielsweise, verläuft die Entwicklung ähnlich. Dieses Land hat auf Grund seiner liberalen Verfassungsentwicklung zuerst damit begonnen, Inhalte staatsbürgerlicher Erziehung in den Schulen einzuführen. Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass sich die höhere Schule bis zum Ende des Kaiserreiches erfolgreich gegen den Versuch wehrt, Staats-, Rechts- und Bürgerkunde als eigenständiges Fach einzuführen; die höheren Schulen bleiben somit bildungspolitische Zufluchtstätten der bestehenden Ordnung.(Vgl. Kuhn, H.W.; Massing, P., 1989, S. 17 ff.)

2.1.6 Medienverhalten
2.1.6.1 Zeitungen im Wahlumfeld

Bei den Wahlen im Wilhelminischen Zeitalter spielen außer der Zeitung keine anderen Medien eine Rolle. Es muss an dieser Stelle auch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass hier ausschließlich die alltäglichen Medien betrachtet werden können, speziell angefertigte Flugblätter oder Broschüren sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

Vielmehr hat, abgesehen von der Zeitung, auch direkte interpersonelle Kommunikation eine große Rolle gespielt sowie partiell Plakate der einzelnen Parteien, deren Wirkung aber heutzutage nur noch unzureichend zu ergründen wäre und daher ebenfalls nicht Gegenstand dieser Arbeit sind: „Thus elections were battles that replicated fundamental social devisions. Voting was one of the many instances of social cleavages that were constantly articulated on the street corner, in the patterns of housing, in print, at festivals, in the churches.” (Fairbairn, B., 1985, S. 8)

Darüber hinaus wird in dieser Zeit auch kein Wert darauf gelegt, Wechselwähler von anderen Parteien gezielt an sich zu ziehen: “These parties confined their activities to their own milieu and allowed themselves to be entrapped by the complexity of its own specific interest policies.” (Fairbairn, B., 1985, S. 7)

Es sind über direkte Ansprachen in Zeitungen, insbesondere kurz oder unmittelbar vor dem Wahlgang, die Zielgruppen angesprochen worden. Hier auch vor allen Dingen mit militärischem Ausdruck. Die nationalliberale Rhetorik hat beispielsweise auf die Wähler in der Mittelschicht abgestellt und auf antisozialistische Parolen gesetzt, wie die folgende, aus dem Englischen vom Verfasser zurückübersetzte: „Schau aus mein Volk, sei auf der Hut, alle deutschen Brüder zusammen. Der Kampf wird hart, bleibt wach und lasst niemanden fallen. Wie wir für Deutschlands Ehre kämpfen. Seid stark, seid mutig, schützt euch selbst. Wie Männer es früher mit Speeren taten. Lasst das richtige deutsche Denken eure Waffe sein. Bewaffnet euch selbst im Kampf.“ (Fairbairn, B., 1985, S. 11)

Die SPD hat im Wahlkampf 1907 und vermutlich 1903 in ähnlicher Weise ihre Klientel mit einer ebenfalls recht militärischen Diktion angesprochen:

„Wähler bewaffnet euch jetzt für den letzten Kampf. Zeigt eure Kraft und Macht. Kehrt zurück zur Wahlurne Mann für Mann, gekleidet in rot. Steht jetzt auf für Freiheit und Kampf. Bereitet euch für den Kampf vor, ihr wählenden Massen. Bereitet euch für den Kampf vor, ihr Proletarier.“ (Fairbairn, B., 1985, S. 12)

Die Tatsache, dass überwiegend die eigene Klientel angesprochen worden ist, macht es dem Verfasser auch möglich, das Wählerverhalten im nächsten Unterpunkt über die Auflagen der unterschiedlich tendierenden Zeitungen des Jahres 1902 zu sehen. Hierbei ist allerdings die in den Vorbemerkungen angesprochene Interdependenz zwischen den Medien und der Einstellung der Zielgruppen zu beachten. Bei der Zeitung haben wir es mit einem privatwirtschaftlichen Medium zu tun, welches also sowohl von sich aus eine Stimmung verbreitet, welches sich aber auch in marktwirtschaftlicher Weise an der Stimmung im Volk orientiert. Wenn diese Medien nicht ein Stück weit ihrer Zielgruppe „nach dem Mund reden würden“, wäre dies in gewissem Sinne ökonomischer Selbstmord für manche Zeitungen.

2.1.6.2 Vorgehensweise bei der Analyse der Zeitungswirkung auf das Wählerverhalten

In diesem Abschnitt sollen jetzt die einzelnen Auflagen der tendenzpublizistischen Zeitungen im Jahre 1902 in Beziehung gesetzt werden zum Wahlergebnis 1903. Dabei interessiert die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen der Anzahl der Zeitungen einer jeweiligen politischen Parteitendenz und den entsprechenden Wählerstimmen für eine Partei gibt.

Es hat selbstverständlich unzählige Zeitungen gegeben, deren politische Ausrichtung nicht feststellbar oder gewollt neutral gewesen ist, diese werden auf Grund dessen hier vernachlässigt, da man bei diesen Blättern keinen gezielten Einfluss auf das Wählerverhalten durch die Lektüre vermuten kann. Um die Auflagenzahlen zur Erklärung des Wählerverhaltens bei der Reichstagswahl 1903 heranziehen zu können, müssen zunächst einige Annahmen und Einschränkungen vorgenommen werden.

Zunächst einmal kann die Mehrfachnutzung der Zeitungen auf Grund der dazwischen liegenden Zeit heute nicht mehr nachvollzogen werden. Es kann nur darauf hingewiesen werden, dass eine Mehrfachnutzung ein und derselben Zeitung durch unterschiedliche Personen vorgelegen hat, ohne eine konkrete Zahl angeben zu können. Diese Zahl wird allerdings auf Grund der Monopolstellung der Zeitung im Medienbereich zur damaligen Zeit noch sehr viel höher gewesen sein, als in späteren Abschnitten, in denen andere Medien hinzugekommen sind. Um aber Annahmen treffen zu können, müssen wir eine konstante Zahl bei allen Parteien und Zeitungen annehmen.

Des Weiteren geht aus der dem Verfasser vorliegenden Quelle nicht eindeutig hervor, ob es sich bei diesen Zahlen um die gedruckte oder aber verkaufte Auflage der Zeitungen handelt. Diese Auflagen müssen, um eine Annahme treffen zu können, gedanklich mehr oder weniger gleichgesetzt werden. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei diesen Zahlen nicht um die Auflagen der Zeitungen aus dem eigentlichen Wahljahr 1903 handelt, sondern um Zahlen aus dem Jahre 1902. Hier muss unterstellt werden, dass sich auf Grund der zeitlichen Nähe die Auflagen kaum verändert haben. Eine Darstellung von Auflagenzahlen aus dem Jahr 1903 liegt dem Verfasser bedauerlicher Weise, trotz aller Bemühungen, nicht vor. Der Leser mag sich auch die Frage stellen, ob viele Menschen überhaupt zu dem betrachteten Zeitpunkt in der Lage gewesen sind, Zeitungen zu lesen. Hier sei angemerkt, dass die Analphabetenquote im größten Staat des Deutschen Reiches, in Preußen, 1901 bei 1 % gelegen hat, während es zwischen 1836 und 1840 noch 25 % gewesen sind. Man kann also unterstellen, dass der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung in der Lage gewesen ist, Zeitungen auch sinnerfassend zu lesen.

2.1.6.3 Auflagen der unterschiedlichen Zeitungen geordnet nach Parteitendenz

Leider sind nicht bei allen hier aufgeführten Zeitungen Auflagenzahlen angegeben worden. Da sich die Zeitungen ohne Nennung der genauen Auflage aber quer über alle Parteien recht gleichmäßig verteilen, sollte das Fehlen dieser keine große Beeinträchtigung darstellen.[5]

In der nachfolgenden Tabelle sind vom Verfasser die jeweiligen politischen Ausrichtungen und Auflagenzahlen der Zeitungen aufgeführt. Für eine sich anschließende Analyse enthält die Übersicht noch Angaben zur Anzahl der Wählerstimmen der entsprechenden Partei .

Je größer der im Folgenden errechnete Quotient aus Stimmenzahl und Zahl der gedruckten oder verkauften Zeitungen ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass andere Faktoren als die Lektüre der Zeitung bei der Wahlentscheidung eine Rolle gespielt haben, wenn man eine gleichmäßige Mehrfachnutzung einer Zeitung von unterschiedlichen Personen bei allen Parteien unterstellt. Gleichzeitig muss aber auch eine gleichmäßige Verteilung der Zeitungen auf die Zielgruppe angenommen werden. Es kann aber auch gesagt werden, dass, wenn eine hohe Zahl an Zeitungen eine verhältnismäßig kleine Zahl von Wählern mobilisiert hat, wie es beim Zentrum noch zu zeigen sein wird, ebenfalls wahrscheinlich andere Beweggründe die Hauptrolle gespielt haben. So werden die Zeitungen beim Zentrum und bei der Sozialdemokratie eher eine untergeordnete Rolle eingenommen haben, weil die Zahl der Wähler bei der SPD weit über der Zahl der gedruckten und in Umlauf gebrachten Zeitungen liegt, diese aber, getreu unserer Annahme, nicht häufiger genutzt worden sind als bei anderen Parteien. Soweit diese keiner stärkeren Verbreitung unterlegen haben, müssen andere Faktoren eine Rolle eingenommen haben.

Tabelle 3: Zahlenmaterial zur Analyse der Zeitungswirkung auf das Wählerverhalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle. Eigene graphische Darstellung gemäß Zahlenmaterial von Kürschner, J., 1902, S. 1 ff. Für eine genaue Aufstellung der einzelnen Zeitungstitel mit teilweiser Nennung der Auflage siehe Anhang.

2.1.6.4 Analyse

- Bei der Deutschen Reichspartei ist mit einem Quotienten von 5,7 durchaus ein Zusammenhang zwischen der Auflage der Zeitungen und den Wählerstimmen zu vermuten. Es ist hier wahrscheinlich, dass die Zahl der Leser dieser Zeitungen, berücksichtigt man die Mehrfachnutzung, mit der Zahl der Wähler in einem engen Verhältnis steht.
- Bei den linksliberal (freisinnig, fortschrittlich) ausgerichteten Zeitungen ergibt sich in Bezug zu den Wählerstimmen ein niedrigerer Quotient. Es stehen hier relativ vielen Zeitungen relativ wenige Wählerstimmen gegenüber. Das heißt, dass bei der Wahl dieser Partei wahrscheinlich andere Gründe als die Zeitungen eine Rolle gespielt haben.
- Die Anzahl der Zeitungen bei den Konservativen lässt ein niedriges Wahlergebnis vermuten, tatsächlich ergibt sich aber ein Quotient von 9,6, d.h. relativ wenige Zeitungen stehen einem verhältnismäßig hohen Wahlergebnis gegenüber. Die Zeitungen allein können hier auch nicht das entscheidende Element gewesen sein. Ansonsten hätte die Anzahl der Stimmen für die Konservativen geringer ausfallen müssen. Dies gilt auch noch, wenn man einen Teil der als „liberal“ oder „gemäßigt liberal“ apostrophierten Zeitungen den Konservativen gutschreibt.
- Bei den Wählern des Zentrums haben wahrscheinlich auch andere Gründe als die Zeitungslektüre und damit das Medienverhalten ihren Platz gefunden. Ansonsten wäre bei der hohen Zahl der Zeitungen die Wählerzahl wahrscheinlich höher gewesen. Knapp 800.000 Zeitungen stehen mit nur ca. 1,9 Millionen der 2,4-fachen Anzahl von Wählerstimmen gegenüber. Eine erstaunliche Tatsache lässt sich des Weiteren aus diesen Zahlen ableiten. Es erstaunt, dass eine Partei, die eine konfessionelle Minderheit vertritt, kumuliert die höchsten Auflagen bei den Zeitungen hat.
- Ein wesentlich anderes Bild als beim Zentrum ergibt sich für die Sozialdemokratie, deren Quotient mit 9,4 extrem hoch ist. Wenn man davon ausgeht, dass die Mehrfachnutzung einer Zeitung partei- und zeitungsübergreifend konstant und sie gleichmäßig in der Leserschaft verteilt ist, kann hier vermutet werden, dass noch andere Gründe als die Lektüre einer Zeitung mit entsprechender Tendenz bei der Wahlentscheidung der sozialdemokratischen Wähler eine Rolle gespielt haben.
- Bei der Nationalliberalen Partei stehen Zeitungsauflage und Wählerstimmen in einem realistischen Wirkungsverhältnis zueinander. Auf jede gedruckte und oder verkaufte Zeitung kommen hier vier Wählerstimmen. Dies liegt durchaus im Bereich einer möglichen Mehrfachnutzung.
- Die Zeitungen mit den Attributen „ liberal “ oder „ gemäßigt liberal “ sind nicht eindeutig einer Partei zuzuordnen. Es kann aber vermutet werden, dass deren Leser als Potenzial für die konservative, nationalliberale oder die linksliberale Partei gelten. Hier stehen aber ohnehin schon relativ geringe Wählerzahlen relativ hohen Auflagenzahlen gegenüber. Hier wird dieses Verhältnis also eher zuungunsten der Hypothese verändert, dass das Wählerverhalten vom Medienverhalten bei dieser politischen Richtung abhängig ist.

2.1.7 Abschließende Erklärung
2.1.7.1 Wie ist der Wahlsieg der Sozialdemokratie unter Berücksichtigung der eben angeführten Fakten zu erklären?

Resümierend kann man sagen, dass die Instrumentalisierung der Bildung durch den Kaiser als „Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie“ keinen Erfolg hatte oder stellenweise sogar das Gegenteil in Form von Reaktanz bei den überwiegend jungen SPD-Wählern bewirkt hat. (Vgl. Kroeber-Riel, W., Weinberg, P., 2003, S. 208 ff.)

Diese Zeit ist geprägt von einem ständigen Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen bei Reichstagswahlen, was sich auch bei jener von 1903 zeigt. Dieser Stimmenzuwachs kann jedoch nicht auf die Propaganda von sozialdemokratisch ausgerichteten Zeitungen zurückgeführt werden. Denn im Verhältnis zu den Auflagen der sozialdemokratischen Zeitungen liegt die Stimmenzahl der SPD sehr hoch.

Weiterhin könnte man diese Zeit, in der die Wahlen stattgefunden haben als sehr technikorientiert, als eine Zeit ansehen, in der Maschinen und Automation eine immer größere Rolle gespielt haben, was sich spätestens in der Titanic-Katastrophe von 1912 zeigt, bei der abermals der Beweis misslingt, dass die Technik über alles andere triumphieren kann.

Korrespondierend mit einer Aussage von Wilhelm Röpke, einem anerkannten Nationalökonomen, der seine Beobachtungen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat, fällt diese Weltanschauung ohnehin den Kollektivisten zu, den Personen, die vor allem mit den nationalistischen und sozialistischen Parteien sympathisiert haben sollen.

So schreibt Wilhelm Röpke in seinem Werk „Civitas Humana“, dass der Kollektivismus vor allem auf einer intellektuellen Basis steht, die „diesen allmächtigen Staat in die Hände nehmen und leiten“ will. (Röpke, W., 1949, S. 70) In diesem Zusammenhang schreibt Röpke über eine „bestimmte Mentalität“, die er als „Szientismus und Technizismus“ bezeichnet. Das Denken dieser Menschen beschreibt er als „technisch, naturwissenschaftlich oder mathematisch“. (Röpke, W., 1949, S. 71ff)

Es steht zu vermuten, dass der große Stimmenzuwachs der SPD, insbesondere bei der Wahl 1903, eher auf dieses Denken gepaart mit der trotz aller Bemühungen aus Sicht der Arbeitnehmer vorherrschenden, noch nicht ausreichend gelösten Situation dieser zurückgeführt werden kann als auf die Propaganda in den einzelnen Zeitungen.

Um diesen Stimmenzuwachs weiter zu erklären, rufen wir einen Zeitzeugen auf den Plan, den damaligen Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Dieser schreibt zu diesem Thema in seiner Autobiografie:

„Wilhelm II. war zu intelligent, um nicht zu fühlen, dass zu diesem Anschwellen der sozialdemokratischen Stimmen er selbst durch seine Reden und Gesten nicht unwesentlich beigetragen hatte.“ (Von Bülow, B., 1930, S. 7)

Der Kaiser, der grundsätzlich gegen die Sozialdemokratie eingestellt gewesen ist, muss also bei der Bevölkerung eine Trotzreaktion hervorgerufen haben, die wir schon weiter oben mit dem Begriff „Reaktanz“ beschrieben haben. Des Weiteren griff, laut von Bülow, in dieser Zeit das Gefühl in der Bevölkerung Platz, dass „die sozialdemokratische Bewegung unter keinen Umständen zum Stillstehen zu bringen wäre, sondern wie ein Naturereignis dem Meere oder einer Lawine vergleichbar unaufhaltsam weiterrolle.“ (Von Bülow, B., 1930, S. 7)

Hier kommt nach Meinung des Verfassers dieser Arbeit auch die Berücksichtigung massenpsychologischer und attributionstheoretischer Gesichtspunkte in Betracht. Es kann also durchaus sein, dass bei dieser Wahl viele Leute sich über ihre Wahlentscheidung wenig Gedanken gemacht haben und sie damit begründeten, dass Bekannte, Freunde und viele andere einer bestimmten Bewegung angehangen haben. (Vgl. Kroeber-Riel, W., Weinberg, P., 2003, S. 300 ff.) Wilhelm Röpke beschreibt dieses Gefühl der Massen in seinem Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ folgendermaßen: „Die Einzelnen unterliegen dann, wie wir wissen, bestimmten psychologischen Gesetzen, deren Wirkung sich als Gefühlsübersteigerung, intellektuelle Niveausenkung und Lähmung des moralischen Verantwortungsgefühls kennzeichnen lässt. Das heißt: Als Teil einer akuten Masse sind wir leidenschaftlicher, dümmer und skrupelloser als gewöhnlich.“ (Röpke, W., 1958, S. 75)

Auch wenn hier keine Wertung vorgenommen werden soll, in der Form, dass jemand, der eine Massenpartei wählt oder ihr angehört, „dumm“ im herkömmlichen Sinne sei, beschreibt nach Meinung des Verfassers dieses Zitat doch sehr gut das Gefühlsleben jener Menschen, die einer Massenbewegung, wie der Sozialdemokratie Anfang des 20. Jahrhunderts, angehören.

Die weiteren Ausführungen des Reichskanzlers unterstützen die Meinung, dass die Reaktanztheorie bei dieser Wahlentscheidung eine Rolle gespielt hat, wenn er schreibt: „Unerschütterlich gewillt, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, war ich nach wie vor gegen unprovozierte Gewaltmaßregeln, geschweige denn einen Staatsstreich, und Bruch der beschworenen Verfassung.“ (Von Bülow, B., 1930 S. 8)

Diese Worte könnte man so interpretieren, dass er erkannt hat, dass eine staatliche Gegenmaßnahme gegen die Wahlentscheidung eher noch mehr Ablehnung der bürgerlichen Parteien hervorrufen würde.

Was ebenfalls die Reaktanztheorie, im Zusammenhang mit dem Stimmenzuwachs der Sozialdemokratie, bekräftigt, ist die Tatsache, dass die SPD nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes bei den Reichstagswahlen kontinuierlich an Stimmen hinzugewonnen hat.

Des Weiteren ist der Sieg der SPD 1903 in Ermangelung direkter, nicht an Zeitungen gebundener kommunikativer Maßnahmen für die anderen Parteien zu Stande gekommen. So schreibt von Bülow erst über diesbezügliche Unternehmungen im Jahre 1907: „ Ich glaube, dass wir im Jahre 1907 nicht einen so glänzenden Sieg über die Sozialdemokratie erfochten haben würden, wenn meine vorher gehaltenen und in Millionen von Exemplaren verbreiteten Reichstagsreden nicht das Terrain vorbereitet hätten.“ (Von Bülow, B., 1930, S. 8).

Obwohl die SPD im Wahlkampf 1903 mit den steigenden Lebenshaltungskosten versucht hat Stimmung zu machen, ist, wie unter Punkt 2.1.4 bereits geschildert, die wirtschaftliche Situation zu dieser Zeit doch eher als positiv bezüglich des Wachstums zu bezeichnen, so dass eine wirtschaftlich rezessive Situation kaum als Grund herangezogen werden kann für den Stimmenzuwachs der SPD. Die Außenpolitik wird ebenfalls als nicht ausschlaggebend angesehen, da der Kaiser in diesem Politikfeld weitgehend autonome Handlungsfreiheiten gehabt hat und eine andere Mehrheit keinen wesentlichen Einfluss hätte nehmen können.

2.1.7.2 Wähler des Zentrums

Wie wir weiter oben gesehen haben und es auch bereits eingehend gesagt worden ist, gibt es zu dieser Zeit sehr viele Zeitungen mit hohen Auflagen, die der Zentrumspartei wohl gesonnen sind, allerdings verhältnismäßig wenige Wähler. Auf Grund dessen wird hier ein nicht vornehmlich durch die Medien beeinflusster Wahlerfolg vermutet.

Für die Wähler des Zentrums ist eher die konfessionelle Zusammengehörigkeit ausschlaggebend für ihr Wählerverhalten gewesen als politische oder mediale Einflüsse. Sie werden gemeinhin als sehr treue Wähler beschrieben. Diese sind, ähnlich wie die Arbeitnehmer, in ein dichtes soziales Netzwerk eingebunden. Der Lebensstil der Katholiken, die zur damaligen Zeit in etwa ein Drittel der Wohnbevölkerung ausmachten, unterscheidet sich deutlich von der protestantischen Mehrheit. Mit konfessionellen Einrichtungen, wie Schulen, Kindergärten, sowie dem sonntäglichen Besuch der Messe u.a. werden in dieser Gruppe besonders gemeinsame Aktivitäten wahrgenommen und dadurch ein Gemeinschaftsgefühl hervorgerufen.

„The center party can be defined by only one social referent the percentage of the population that was catholic. Catholic solidarities overwhelmed differences of region, size-of-place or class.” (Fairbairn, B., 1985, S. 3)

An einigen Stellen in der Literatur findet man hier auch den Ausdruck “katholische Volkspartei”. (Schmädeke, J., 1995a, S. 679)

Es fällt auch auf, dass die protestantischen Wähler bei dieser Wahl, nicht durch eine einzelne Partei vereint, eher der Sozialdemokratie zugeneigt sind. So hat die SPD in protestantischen Gebieten sehr viele Stimmen gewinnen können. „Socialist voters and supporters tended to come from the less traditionally bound elements of the protestant working class. They were younger and more urbanized than the German population as a whole more ready abandon old loyalties to bourgouis leadership on the workplace, on the street corner and at the ballot box.” (Fairbairn, B., 1985, S. 3)

Dies kann ebenfalls mit einer Aussage von Wilhelm Röpke in seinem Buch „Civitas Humana“ erklärt und untermauert werden, der eine „protestantische Wurzel des Szientismus’“ entdeckt hat, den wir schon weiter oben als Wurzel einer Art des kollektivistischen und damit auch sozialistischen Denkens ausgemacht haben. (Vgl. Röpke, W., 1949, S. 125). „Die bevorzugte Disziplin alles puritanischen, täuferischen und pietistischen Christentums war demgemäß die Physik, und demnächst andere mit gleichartiger Methode arbeitende mathematisch/naturwissenschaftliche Disziplinen.“ (Röpke, W., 1949, S. 125, vgl. auch Schwanitz, D., 2001, 3. CD, Track 2 und Karte 1 in Verbindung mit Karte 2)

Wie wichtig die Religion zu jener Zeit für die Gesellschaft gewesen ist, zeigt unter anderem die Diskussion um den Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes im Jahre 1904. Der § 2 besagt, dass die Angehörigen des Ordens oder der ihm verwandten Orden oder ordensähnlicher Zusammenschlüsse aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden dürfen, wenn sie Ausländer sind. Wenn die Mitglieder inländischer Herkunft sind, kann Ihnen nach diesem Paragraphen der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Ortschaften angewiesen werden. Insbesondere die Konservativen und große Teile der Liberalen hatten zuvor über mehrere Jahre für die Aufhebung des Paragraphen 2 gestimmt, wie es denn schließlich 1904 auch geschehen ist. (Vgl. von Bülow, B., 1930, S. 10 ff.)

Des Weiteren sind in Zeiten mit einer hohen Konzentration der Wirtschaft die Sozialisten oder Kommunisten ohnehin begünstigt gewesen. Wilhelm Röpke sagt hierzu:

„Der Schlosser, der... bisher selbstständig war und nunmehr in die Fabrik geht, wird in der Subordination, in die er damit gerät, sein seelisches Gleichgewicht dadurch wiederherzustellen suchen, dass er dazu neigt, eine Partei zu wählen, die (denen da oben) das Leben sauer zu machen verspricht, ob das die sozialistische- oder kommunistische Partei ist, wird von den Umständen abhängen.“ (Röpke, W., 1955, S. 322f.)

2.2 Reichstagswahl vom 25. Januar 1907

2.2.1 Wahlergebnisse

Tabelle 4: Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1907

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Übersicht nach Zahlenmaterial aus Schmädeke, J., 1995a, S. 62

Die Wahlbeteiligung liegt bei dieser Wahl bei 84,7 % der wahlberechtigten Bevölkerung, also um einiges höher als bei der vorangegangenen Wahl. Wahlberechtigt sind zu diesem Zeitpunkt 13.352.880 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich von 60.641.278 Menschen. Die Anzahl der gültigen Stimmen beträgt 11,262 Millionen.

Diese Wahl ist schon vor Ablauf der eigentlichen Legislaturperiode nötig geworden. Da von Bülow eine Neuorientierung in der politischen Praxis vornehmen will, lässt er für den 25. Januar 1907 in Übereinstimmung mit dem Kaiser Neuwahlen ausrufen. Die Neuorientierung ist nach der Ablehnung eines Nachtragshaushaltes durch SPD, Zentrum und Regionalparteien nötig geworden, während die so genannten Linksliberalen mit auf der Seite der Regierung gestanden haben. Dies sollte bei dieser Wahl die Geburtsstunde des so genannten Bülow-Blocks aus Konservativen und Liberalen, bis hin zu den Linksliberalen, bedeuten, da der Reichskanzler auf jeden Fall eine neuerliche Ablehnung wichtiger Vorhaben zu vermeiden gesucht hat.

Bei dieser Wahl ist eine Zunahme der Wahlbeteiligung zu erkennen. Die SPD verliert hierbei auf Grund des Stichtagswahlrechts und der Wahlkreisaufteilung fast die Hälfte ihrer Mandate, absolut gesehen nimmt die Zahl der SPD-Wähler jedoch zu. In einem Zitat von Franz Mehring wird auch polemisch von der „Mobilisierung des Landsturms der Philister“ gesprochen. Er meint hiermit, dass regierungstreue Neu- oder bisherige Nichtwähler gerade in den evangelisch-ländlichen Gebieten, in denen die SPD bis 1903 einen großen Stimmenzuwachs verzeichnet hat, für die bürgerlichen Parteien mobilisiert worden sind.

Bei dieser Wahl ist es möglich gemacht worden, die Sozialdemokratie durch die nationale Mobilisierung, die diesen Wahlkampf ausgezeichnet hat und durch Wahlabsprachen zwischen den Bülow-Parteien auf nahezu die Hälfte ihrer Mandate zu reduzieren, diese hat nur noch 43 statt wie zuvor 81 Mandate gezählt.

2.2.2 Historischer, gesellschaftlicher Kontext der Wahl

- Am 9 Mai 1904 wird der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie durch Mitglieder der Deutsch-Konservativen Partei gegründet.
- Am 7. Februar 1905 vertritt die deutsche Regierung im Zusammenhang mit der Begrenzung der Arbeitszeit für Arbeitnehmer über 16 Jahre die Auffassung, dass die gesetzliche Einführung eines Maximalarbeitstages die Freiheit des Individuums beeinträchtigt und das Erwerbsleben schädigt. Die Regierung betont, dass die Festsetzung eines zehnstündigen Arbeitstages massenhaft Landarbeiter in die Stadt locken und die Arbeitslosigkeit verstärken würde.
- In diesem Jahr wächst die christlich soziale Arbeitnehmerbewegung auf 195.401 Mitglieder an. Im Jahre 1901 waren es noch 83.571 Mitglieder.
- Am 24. Oktober 1905 müssen sechs Redakteure der SPD-nahen Zeitung „Vorwärts“ diese verlassen, da sie sich gegen den Radikalismus des Vorstandes ausgesprochen haben.
- Am 8. Dezember 1905 lehnt die SPD den Massenstreik als undurchführbares Mittel der Auseinandersetzung ab.
- Am 15. Oktober 1906 eröffnet die SPD eine Arbeiterbildungsschule in Berlin. Diese soll zur Heranbildung von Parteirednern die Gebiete Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie, historischen Materialismus, soziale Theorien, Geschichte der politischen Parteien sowie Arbeitsrecht und Gewerkschaftswesen abdecken.
- Am 13. Dezember 1906 schließlich wird der Reichstag aufgelöst, da auf Grund des Engagements Deutschlands in Südwest-Afrika ein Nachtragshaushalt nötig, dieser jedoch von der Reichstagsmehrheit nicht genehmigt wird. (Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts, S. 52 ff.)
- „Ein Reichstag, der in nationalen Fragen nicht versagt“, diese Parole hat von Bülow am 19. Januar 1907 kurz vor der Wahl als Maxime für den Wahltag ausgegeben.

2.3 Medienverhalten

Bedauerlicher Weise liegen dem Verfasser keine Auflagenzahlen der Zeitungen im Umfeld dieser Wahl vor. Die Auflösung des Reichstages muss aber durch die Medien so kommuniziert worden sein, dass die Menschen das Gefühl hatten, für eine stabile Mehrheit stimmen zu müssen, um dem Deutschen Reich wieder eine Handlungsfähigkeit zu verleihen.

Dass eine Mobilisierung stattgefunden haben muss, zeigt zudem auch die hohe Wahlbeteiligung im Vergleich zu 1903.

2.4 Reichstagswahl 1912

2.4.1 Wahlergebnisse

Tabelle 5: Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1912

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Übersicht nach Zahlenmaterial aus Schmädeke, J., 1995a, S. 62…

Die Wahlbeteiligung liegt bei dieser Wahl bei 84,9 % der wahlberechtigten Bevölkerung. Wahlberechtigt sind zu diesem Zeitpunkt 14,442 Millionen, bei einer Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich von 64,926 Millionen Einwohnern. Die Anzahl der gültigen Stimmen beträgt 12,207 Millionen.

2.4.2 Programmatik der einzelnen Parteien

Dies ist der erste Fall, bei dem dem Verfasser konkrete programmatische Aussagen im Vorfeld der Wahl vorliegen. Diese werden jetzt im Folgenden näher dargestellt.

Tabelle 6: Programmatik der einzelnen Parteien im Zuge der Reichstagswahl 1912

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene graphische Darstellung (Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts, S. 143 ff.)

2.4.3 Gesellschaftlich/soziales Umfeld dieser Wahl

Diese Wahl findet statt, nachdem der bis dahin amtierende Reichskanzler von Bülow auf Grund von Streitigkeiten über die Reichsfinanzreform 1909 zurückgetreten ist. Hierbei sollte zum Ausgleich des Haushaltsdefizits eine Konsum- und Besitzsteuer eingeführt werden, sowie eine Erhöhung der Erbschaftssteuer Platz greifen. Insbesondere die letztere trifft im Jahre 1909 auf den großen Widerstand der Konservativen. Die Erbschaftssteuer ist besonders beim Bund der Landwirte, der die Deutsch-Konservative Partei und teilweise auch die Nationalliberale Partei unterstützt, auf großen Widerstand gestoßen, so dass die Konservativen ihre Unterstützer nicht verstimmen wollten und dieses Vorhaben im Parlament ablehnten. Als nun der so genannte Bülow-Block nicht mehr geschlossen hinter der Politik des Reichskanzlers gestanden hat, tritt dieser zurück. (Vgl. von Bülow, B., 1930, S. 287 ff.)

Dem Reichskanzler folgt Theobald von Bethmann-Holweg im Amt nach.

Unmittelbar vor der Wahl spielen allerdings andere Dinge eine größere Rolle.

So steigen 1911, in Folge einer Missernte und der daraus resultierenden Lebensmittelknappheit die Preise für diese stark an. Dies wird vor allen Dingen von der Sozialdemokratie im Wahlkampf thematisiert. (Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts, S. 143 ff.)

Der soziale Versicherungsschutz wird in dieser Zeit stark ausgebaut.

Im Jahre 1911 ist die Reichsversicherungsordnung (RVO) verabschiedet worden. Im Januar 1912 ist eine Versicherung als viertes Buch der RVO unter dem Titel: „Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung“ konzipiert worden. Der Schutz wurde bei dieser Novelle der Sozialversicherung jetzt auch auf die Hinterbliebenen der Versicherten ausgedehnt. Es sind zu diesem Zeitpunkt Invalidität, Alter und Hinterbliebenenschaft versichert worden. Die Invaliditätsversicherung hat als Nebenleistung hier ein Witwen- und Waisengeld gewährt. Zudem ist hier eine freiwillige Zusatzversicherung eingeführt worden. Die Altersgrenze von 70 Jahren wird hier jedoch beibehalten.

2.4.4 Medienverhalten
2.4.4.1 SPD

Es liegen dem Verfasser bedauerlicherweise über die Auflagen der unterschiedlichen Zeitungen im Umfeld der Wahl keine so detaillierten Zahlen vor, wie es bei der Wahl 1903 der Fall gewesen ist. Es kann hier nur Folgendes gesagt werden:

Durch Berichte aus dem Wahlgeschehen, durch die Veröffentlichung von Sondernummern und von Parteinachrichten hat eine durchaus wirksame Möglichkeit existiert, Einfluss auf die Wähler zu nehmen. Die Sozialdemokratie hat zu jener Zeit beispielsweise über 86 Tageszeitungen verfügt mit insgesamt 1.478.042 Abonnenten. Diese Zahl ist, wenn man sie mit der Auflage der Zeitungen mit sozialdemokratischer Tendenz aus dem Jahre 1902 in Beziehung setzt, eine beachtliche Steigerung. An mehr als einem Drittel der Druckereien, in denen die Blätter gedruckt werden konnten, ist der Parteivorstand finanziell beteiligt gewesen und konnte somit auf die Führung der Zeitungen verstärkt Einfluss nehmen.

Es besteht eine sehr viel engere Korrelation als noch 1903 zwischen Abonnenten und Stimmen für die SPD.

2.4.4.2 Zentrum

Das Zentrum hat ebenfalls starken Rückhalt in ihrer Presse gefunden, insbesondere auch in den Kirchenblättern.

2.4.4.3 Liberale Presse

Die Liberalen, insbesondere „der Freisinn“, sind damals nicht in dem Maße unterstützt worden. Zwar ist fast die gesamte, viel gelesene Boulevardpresse liberal eingestellt gewesen, jedoch wird in einem Zitat Naumanns das Dilemma der Liberalen evident.

So sagt er: „Wir besitzen eine große und inhaltsreiche Presse, die beste von allen Parteien. Überall liegen liberale Zeitungen. Weshalb aber wirken sie politisch nicht stärker? Weil sie noch nicht erfasst worden sind vom Zuge zur Organisation. Sie haben Geist ohne Disziplin.“

(Bertram, J., 1964, S. 182)

2.4.4.4 Konservative Presse

Die Konservativen konnten sich neben den großen Blättern des Bundes der Landwirte, die überall dorthin gekommen sind, wo es Mitglieder der Organisation gegeben hat, im Osten auf die Kreiszeitungen stützen, die zumeist im konservativen Sinne ausgerichtet gewesen sind. Neben den hier angesprochenen Kreisblättern gibt es auch noch das Hauptorgan der Konservativen, die Kreuzzeitung. Diese hat sich jedoch durch ihre vornehme Zurückhaltung von den anderen Zeitungen abgehoben. Dieses Organ hielt sich sogar so weit zurück, dass hier selbst am Wahltag nicht über dieses Ereignis berichtet worden ist. Der Gedanke, der dahinter gestanden hat, ist, dass sie gerade durch die Nichtbeachtung der parlamentarischen Vorgänge ihrer konservativen Gesinnung gerecht werden wollte. (Vgl. Schmädeke, J., 1995a, S. 630 ff.)

2.4.4.5 Schlussbetrachtung

Es ist hier eine Vormachtstellung der Sozialdemokratie im Mediensektor zu erkennen. Diese hatte zu der Zeit auch die weitaus größten finanziellen Möglichkeiten, da sie die erste Partei gewesen ist, die Mitgliedsbeiträge von ihren Anhängern kassiert hatte. Allerdings sind hier nicht nur die Zeitungen als entscheidendes Kriterium zu nennen. Eine größere Rolle werden wahrscheinlich die Kampagnen über Flugblätter gespielt haben, deren genaue Wirkung aber hier nicht untersucht werden kann. Es ist hier zum Beispiel bekannt, dass die SPD im Jahre 1911 an Flugblättern, Broschüren und Kalendern über 80 Millionen Exemplare verbreitet hat. Es kann jedoch nicht mit Sicherheit Klarheit darüber herrschen, welche Mengen an Agitationsmaterial die anderen Parteien in den einzelnen Ländern oder Wahlkreisen in Umlauf gebracht haben. Diese haben aber wohl nicht an die Zahl der Sozialdemokratie herangereicht, wie aus unterschiedlichen Quellen übereinstimmend berichtet wird.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Sozialdemokratie über die meisten Mittel und die größte Macht im Propagandasektor bei diesen Wahlen verfügt hat.

Gleichzeitig hat sie auch die meisten Stimmen erringen können. Dass ein enger Zusammenhang zwischen diesen Fakten besteht, kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Bekannt ist aber auch weiterhin, dass die SPD ebenfalls über den höchsten Organisationsgrad verfügt hat, welcher ihr ebenfalls eine große Macht verliehen hat, den Medien also keine ausschließliche Wirkung einräumt.

Die konservativen Wähler sind höchstwahrscheinlich eher durch Forderungen, wie die der Deutsch-Konservativen Partei nach dem Erhalt der Macht Preußens und durch die Forderung nach Schutzzöllen für die heimische Landwirtschaft mobilisiert worden. Dies erklärt wohl auch, weswegen gerade im agrarisch geprägten Ostelbien die Deutsch-Konservative Partei einen so großen Zuspruch erreichen konnte. Also in einem Gebiet, in dem die Landwirtschaft und vor allen Dingen der Großgrundbesitz beheimatet gewesen sind.

Über die Kommunikation dieser Forderungen ist dem Verfasser wenig Verwertbares bekannt. Allerdings kann man die vornehme Zurückhaltung der Kreuzzeitung als Indiz dafür werten, dass keine aggressive Kommunikation für die Mobilisierung der Wähler stattgefunden hat.

2.5 Schlussbetrachtung der Wahlen zwischen 1903 und 1912

Der hier betrachtete Zeitabschnitt ist gekennzeichnet von einer ständigen Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen bei Reichstagswahlen und einer recht stabilen oder 1907 sogar positiven Stimmenzahl des Zentrums, um die stimmenstärksten Parteien hervorzuheben.

Laut einer dem Verfasser vorliegenden Untersuchung über diesen Zeitabschnitt wird es deutlich, dass der Wahlerfolg der Sozialdemokratie stark durch die ökonomischen Verhältnisse gemessen am Anteil der hauptberuflich in der Landwirtschaft vorhandenen Erwerbstätigen in den Wahlkreisen, aber auch deutlich durch die Konfessionsstruktur beeinflusst worden ist. (siehe hierzu Karte 2 und Karte 3 nach diesem Abschnitt) Rückblickend kann man sagen, je weniger agrarisch-katholisch ein Gebiet gewesen ist, desto größer sind die Wahlchancen für die SPD gewesen. Am Deutlichsten wird dies in den Mittelstaaten. Hier sind die am stärksten industrialisierten Gebiete auch zugleich evangelisch und die Agrarregionen überwiegend katholisch geprägt. Jedoch müssen die Wähler informiert worden sein, um ihre Wahlentscheidung treffen zu können, was die SPD im Falle einer hohen Stimmenzahl zur Verbesserung der ökonomischen Situation unternehmen will. Aus diesem Blickwinkel muss man den Medien, insbesondere bei der Wahl 1912, als Informationsträger eine Wirkung zugestehen. Hier können die Medien ein wichtiger Grund für den Wahlerfolg der SPD gewesen sein.

In diesem Zusammenhang sind wohl die genannten ökonomischen oder konfessionellen Bestimmungsgrößen als Basis für das Medienverhalten ausschlaggebend. So sind in einem damaligen Traditionsland der Sozialdemokratie (in Sachsen) überdurchschnittlich viele sozialdemokratische Zeitungen erschienen. Es sind hier unter anderem zu nennen: Leipziger Volkszeitung, das Sächsische Volksblatt (Auflage = 8.500 Zeitungen pro Ausgabe im Jahre 1902) oder die Sächsische Arbeiterzeitung mit einer Auflage von 16.000 Zeitungen pro Ausgabe im Jahre 1902. Hingegen haben sozialdemokratisch tendierende Zeitungen wie der ostpreußische Landbote bei der Wahl 1903 keine Stimmungsverbesserung für die SPD in diesem Gebiet bewirken können. Der Zusammenhang „Stimmung folgt Auflage, Wählerverhalten folgt Stimmung“ ist im letzteren Fall also nicht feststellbar. Insgesamt stehen 1903 aber verhältnismäßig wenige Zeitungen verhältnismäßig vielen Stimmen der SPD gegenüber, so dass hier ein Missverhältnis und keine enge Korrelation zu erkennen ist.

Allerdings erreicht die Sozialdemokratie 1912 die meisten Stimmen, wo wir wissen, dass sie über 86 Tageszeitungen mit über einer Million Abonnenten verfügt. Hier scheint eher eine Korrelation zu bestehen als noch 1903. Es ist also eine Entwicklung zu erkennen, in der die Medien eine immer wichtigere Funktion einnehmen.

Die zweite Schwerpunktdeterminante, die Bildung, hat in ihrer antisozialistischen Ausrichtung nicht die beabsichtigte Auswirkung auf das Wählerverhalten gehabt, eher sogar eine die Sozialdemokratie begünstigende.

Zudem scheint die Gesellschaft noch sehr stark in bestimmte Milieus eingegrenzt zu sein und es herrscht eine geringe soziale Mobilität. Es wird hier in der Literatur auch von einem „Turm“ gesprochen, aus dem einige Parteien hätten ausbrechen wollen, um zur Volkspartei zu werden, es aber nicht geschafft haben. (Vgl. Bertram, J., 1964, S. 174 ff.; Schmädeke ,J., 1995a, S. 650 ff.)

Die jetzt folgende Karte kann als Übersicht über die politischen Verhältnisse in den einzelnen Wahlkreisen zwischen 1890 und 1912 genutzt werden. Auch wenn 1890 nicht in den Betrachtungshorizont dieser Untersuchung fällt, so liegt dem Verfasser leider keine auf die Wahlen von 1903 bis 1912 beschränkte Karte vor.

Mit Karte 2 soll der Zusammenhang zwischen Religion und Wählerverhalten verdeutlicht werden. Bei dieser Karte soll die Wirkung der Wirtschaftsstruktur auf das Wählerverhalten beispielhaft an den sozialdemokratischen Wählern gezeigt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

KAPITEL II. DIE WEIMARER REPUBLIK

In diesem Kapitel soll ebenfalls die Abhängigkeit des Wählerverhaltens vom Medienverhalten und der politischen Schulbildung untersucht werden. Auf Grund der Vielzahl der Wahlen und der politischen Neuordnungen in diesem Zeitabschnitt kann hier nicht jede einzelne Wahl eine eingehende Untersuchung erhalten. Es müssen hier vielmehr einige Aggregationen vorgenommen werden, die jedoch generelle Trends jener Zeit aufzeigen werden.

1. Verfassung der Weimarer Republik

In diesem Abschnitt werden jetzt einige wesentliche verfassungsrechtliche Grundlagen der Weimarer Republik dargestellt.

1.1 Die Rolle des Volkes

In der Weimarer Verfassung wird das Volk als Souverän in den Mittelpunkt gestellt. Seinen Ausdruck findet diese Souveränität im Reichstag als der gesetzgebenden Versammlung und im Reichspräsidenten, welcher das höchste Staatsamt bekleidet. Beide, sowohl Reichstag als auch Reichspräsident, werden direkt vom Volk gewählt.

Der Reichstag wird in einem Verhältniswahlrecht auf vier Jahre bestimmt[6], der Reichspräsident wird auf sieben Jahre gewählt, um dessen Unabhängigkeit von der Reichsregierung zu demonstrieren. Wahlberechtigt sind alle Bürger, auch die Frauen, über 20 Jahre. Allerdings findet bei diesen Wahlen keine Überprüfung der einzelnen Parteien auf ihre demokratische Gesinnung hin statt. Eine Fünfprozenthürde, wie man sie bei Bundestagswahlen heutzutage kennt, ist ebenfalls nicht existent.

Es wird in dieser Verfassung dem Volk auch ermöglicht, direkt über bestimmte Gesetze durch Volksbegehren oder Volksentscheide zu bestimmen.

1.2 Der Reichsrat

Neben dem Reichstag besteht der Reichsrat als Gremium der Länder zur Mitentscheidung über die Gesetzgebung. Die Finanzhoheit liegt jedoch beim Reich. Anders als noch im Wilhelminischen Deutschland sind der Kanzler und seine Minister an das Vertrauen des Reichstages gebunden.

1.3 Der Reichspräsident

Weitgehende Befugnisse erhält der Reichspräsident in der Weimarer Republik. Dieser hat den militärischen Oberbefehl inne. Des Weiteren hat er laut Artikel 48 der Verfassung das Recht, den Reichstag aufzulösen, wenn dieser handlungsunfähig ist. Wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet werden, kann er ebenfalls die Grundrechte der Bevölkerung vorübergehend einschränken.

2. Wahlen in der Weimarer Republik

2.1 Wahl zur Nationalversammlung 1919

2.1.1 Wahlergebnisse

Die DNVP erhält bei dieser Wahl 10,3 % und 44 Sitze, die DVP 4,5 % und 19 Sitze. Die DDP erhält 18,5 % und 75 Sitze. Das Zentrum bringt es auf 19,4 % und 91 Sitze. Die SPD erreicht 37,9 % und 163 Sitze, während die USPD auf 7,7 % und 12 Sitze kommt.

Andere Parteien spielen hier noch keine wesentliche Rolle.

Die Wahlbeteiligung bei dieser Wahl liegt bei 82,7 % der Gesamtbevölkerung. 54 % der Wahlberechtigten sind bei dieser Stimmenabgabe Frauen, welche eher zu den bürgerlichen Parteien tendieren. Das geografische Gebiet der Weimarer Republik ist nach dem Ersten Weltkrieg um 70.000 Quadratkilometer kleiner geworden, die Bevölkerungszahl hat gegenüber dem vorherigen Deutschen Reich um 5.5 Millionen Bürgerinnen und Bürger abgenommen. Es sind nach dem Versailler Vertrag Abtretungen insbesondere großer Teile der agrarischen Ostprovinzen erfolgt.

2.1.2 Entwicklung der Wahlergebnisse in der Weimarer Republik nach Parteien

Der SPD gelingt es nur 1919 die 30-Prozent-Marke zu überschreiten. Nach dieser Wahl bleibt sie stetig unter diesem Wert.

Das Zentrum bleibt während der Weimarer Republik relativ konstant in der Zustimmung der Wähler. Es pendelt relativ gleich bleibend um 16 %.

Die Zustimmung zur DDP (Deutsche Demokratische Partei) sinkt seit 1919 kontinuierlich ab. Erreicht sie 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung noch 18 %, bekommt sie in den darauf folgenden Wahlen: 1920 8 %, 1. Wahl 1924 6 %, 1928 5 %, 1930 3 % durch den Wähler.

Die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) hat hingegen einen positiven Trend bei den ersten Reichstagswahlen zu verzeichnen. Kann sie bei der Wahl zur Nationalversammlung zunächst nur 10 % erreichen, sind es bei der Wahl zum ersten Reichstag 1920 schon 15 %. 1924 sind es 18 %, bei der zweiten Reichstagswahl 1924 20 %. 1928 fällt diese Partei jedoch wieder auf 14 % zurück.

Die USPD erreicht bei der Wahl zum ersten Reichstag 18 %, bis sie sich schließlich 1922 wieder mit der SPD vereint und ab diesem Zeitpunkt nicht mehr existent ist.

Die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) erreicht 1930 13,1 %, 1932 14,3 %, in der zweiten Wahl diesen Jahres 16,8 %, und 1933 schließlich 12,3 % der Stimmen.

Die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) erreicht 1924 bei der ersten Wahl diesen Jahres 6,5 %, bei der zweiten noch 3 %. 1928 brachte es diese Partei noch auf 2,6 %. Bei der Reichstagswahl 1930 konnte sie schon 18,3 % verbuchen. 1932 waren es schon 37,3 %. Bei der zweiten Wahl 1932, am 6. November, konnte die NSDAP noch 33,1 % der Stimmen auf sich vereinen, bis schließlich die „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 stattgefunden hat.

2.1.3 Programmatische Aussagen der Parteien der Weimarer Republik
2.1.3.1 USPD

Die USPD wird 1917 nach der Abspaltung von der SPD gegründet. Ihr Vorsitzender ist Hugo Haase. Diese Partei strebt ein Rätesystem nach sowjetischem Vorbild an und lehnt das parlamentarische Regierungssystem ab. Sie fordert die Vergesellschaftung von Grundbesitz und Kapital sowie des Bildungs- und Erziehungswesens.

2.1.3.2 SPD

Der Vorsitzende der SPD ist bei der ersten Wahl der Weimarer Republik Friedrich Ebert.[7]

Die SPD strebt einen demokratischen Sozialismus in einem parlamentarischen System an.

2.1.3.3 DDP (Deutsche Demokratische Partei).

Diese Partei gilt als Nachfolgerin der fortschrittlichen Volkspartei, ihr Vorsitzender ist Friedrich Naumann.

Es wird ein parlamentarisches Regierungssystem postuliert und die Beibehaltung der Privatwirtschaft. Darüber hinaus wird die soziale Bindung des Eigentums gefordert sowie stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitarbeiter in den Unternehmen.

2.1.3.4 Deutsche Volkspartei (DVP)

Diese Partei wird am 15.12.1918 gegründet. Sie gilt als Nachfolgerin der Nationalliberalen Partei des Kaiserreiches. Ihr Vorsitzender ist Gustav Stresemann.

Die DVP strebt eine Stärkung des breiten handwerklichen und bäuerlichen Mittelstandes an und die Sicherung der leitenden Stellung der Unternehmer.

2.1.3.5 Zentrum (Deutsche Zentrumspartei)

Der Vorsitzende des Zentrums heißt bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 Karl Trimborn. Die bayrische Schwesterpartei des Zentrums ist neuerdings die bayrische Volkspartei.

Das Zentrum strebt die Sicherung der bürgerlichen Freiheit im Rahmen christlicher Grundsätze an. Eine föderalistische Ordnung des Reiches ist ein weiteres Ziel dieser Partei, sowie die Erhaltung der Privatwirtschaft.

2.1.3.6 Deutschnationale Volkspartei (DNVP)

Diese Partei wird am 24.11.1918 gegründet. Sie gilt teilweise als Nachfolgerin der Deutsch-Konservativen Partei und teilweise als die der Nationalliberalen Partei des Deutschen Kaiserreiches. Ihr Vorsitzender ist Oskar Hergt.

Die Ziele dieser Partei beziehen sich auf eine Erneuerung des Kaisertums. Des Weiteren hat sich diese Partei dem Kampf gegen den Marxismus und für eine Stärkung der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses in Wirtschaft und Politik verschrieben.

Darüber hinaus steht diese Partei für den Schutz des Privateigentums.

2.1.3.7 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)

Diese Partei wird am 1. Januar 1919 gegründet. Sie entsteht aus unabhängigen Sozialisten und Spartakisten. Ihre Vorsitzenden sind zunächst Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, nach deren Ermordung ist es Paul Levi.

Oberstes Ziel dieser Partei ist die Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“. Es wird ein Rätesystem angestrebt. Darüber hinaus postuliert diese Partei die Ersetzung der kapitalistischen Wirtschaft durch eine sozialistische Planwirtschaft.

2.1.3.8 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ( NSDAP)

Die Partei betritt nach dem Ersten Weltkrieg die politische Bühne als eine unter vielen nationalistischen Splittergruppen. (Vgl. Fragen an die deutsche Geschichte, 1974, S. 156).

Über ein genaues Datum der Gründung dieser Partei liegen dem Verfasser keine Daten vor.

Bis in das Jahr 1928 zielt die Propaganda der NSDAP, genauso wie die der KPD, auf Arbeitnehmer ab.

Ihr Abschneiden in ländlichen Gebieten bei der Reichstagswahl vom Mai 1928 veranlasst die Partei jedoch dazu, ihr Programm auf die Bedürfnisse von „Mittelklasse-Gruppen“, u.a. Landwirte und Beamte umzuändern. Jedoch bleiben auch arbeitnehmerfreundliche Elemente, wie Beschäftigungsprogramme, im Programm enthalten. Da die starke Bindung vor allen Dingen der ungelernten Arbeitskräfte zur KPD den Wahlkampfmanagern der NSDAP evident gewesen ist, konzentrierten diese sich eher auf Facharbeiter, beispielsweise im Bauhandwerk oder Maschinenbau. Diese Umorientierung ging einher mit einem verstärkten Bekenntnis der NSDAP zum Privateigentum. Das Landwirtschaftsprogramm der NSDAP wies Punkte wie die Errichtung von Zöllen, Nahrungsmittelimporte und die unteilbare Erbfolge auf. Diese letzte Forderung stieß im katholischen Süden jedoch auf Widerstand, da hier das bäuerliche Erbe traditionell aufgeteilt worden ist. Darüber hinaus nahm diese Partei Forderungen, wie die Gewährung günstiger Kredite in ihr Programm auf, welche überwiegend im Mittelstand freudig aufgenommen worden sind. (Vgl. Kühnl, R., 1993, S. 78 ff.; Stögbauer, C., 2001, S. 17)

2.2 Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hintergrund der Wahlen in der Weimarer Republik

Nach der historischen Zäsur des Deutschen Reiches durch den Ersten Weltkrieg findet am 19. Januar 1919 das erste Mal wieder eine Wahl statt, die Wahl zur Nationalversammlung. Im Vorwege dieses Ereignisses hat es viele Unruhen gegeben. So entsteht am 6. Januar 1919 der so genannte Spartakusaufstand, nachdem am 4. Januar der preußische Polizeipräsident, der als „extremer Sozialist“ bekannt gewesen ist, vom preußischen Innenminister abgesetzt wurde. Erst am 13. Januar gelingt es der Reichsregierung wieder, die Lage in den Griff zu bekommen. Am 15. Januar werden die Führer des Aufstandes, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, von Freikorps im Auftrag der Regierung liquidiert.

Die ersten Jahre der jungen Republik sind weiterhin geprägt vom Versailler Vertrag, der am 22. Juli 1919 angenommen wird. Hier wird auch die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg faktisch festgestellt. Es sind weiterhin hohe Reparationszahlungen von deutscher Seite an Frankreich in diesem Kontrakt festgeschrieben. Die DNVP und DVP lehnen diesen Vertrag jedoch ab.

Die ersten Jahre der Republik sind gekennzeichnet von einer „rasenden Inflation“. So besitzt die Mark im Februar 1920 nur noch 20 Pfennig ihres Vorkriegswertes.

Dieser „Spuk“ hat erst am 15. November 1923 ein Ende. Durch die Einführung der Rentenmark, die nicht durch Gold gesichert ist, wird die Inflation behoben. Nach einigen Jahren relativer Ruhe beginnt die Weltwirtschaftskrise der Republik ab dem 25. Oktober 1929, als charakteristisches Datum, mit dem Börsencrash in den USA schwer zu schaffen zu machen. Die Arbeitslosigkeit steigt infolge dieser Krise auf ein bis dahin noch nicht gekanntes Niveau an. Im Februar 1932 gibt es 6,13 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose in Deutschland, dies entspricht einer Arbeitslosenquote von etwa 32 %.

Die Alleinschuldthese nagt darüber hinaus unterschwellig weiter an dem Nationalbewusstsein der Deutschen.

Infolge dieser Ereignisse ist ein Rückgang der parlamentarischen Basis der Regierung und allgemeiner der pro-republikanischen Parteien zu beobachten. (Siehe hierzu auch die Karten 4, 5 und 6). Dies spiegelt die zunehmende Zahl von Wählern wider, die die Weimarer Republik ablehnen. Diese Entwicklung führte dazu, dass nach dem Scheitern der großen Koalition im März 1930 die Regierungsverantwortung auf so genannte Präsidialkabinette übertragen wurde.

Noch im Laufe der Regierungszeit der großen Koalition wurde von Reichspräsident Hindenburg, seiner persönlichen Umgebung und der Reichswehrführung unter General Schleicher damit begonnen, Möglichkeiten auszuloten, wie dem Durcheinander des politischen Systems in der Weimarer Republik beizukommen sei. Hindenburg kam die Koalitionskrise vom März 1930 daher nicht ungelegen. Der Koalitionsstreit war über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung entbrannt, die erst 1927 eingeführt worden war und bei der sich im Zuge der einsetzenden Depression eine immer größere Schere zwischen Beitragseinnahmen und Auszahlungen aufgetan hatte. Hindenburg entzog der SPD-geführten großen Koalition das Vertrauen und beauftragte stattdessen Heinrich Brüning, der zu diesem Zeitpunkt Führer der Zentrumspartei gewesen ist, mit der Regierungsbildung. Brüning hatte dabei von Hindenburg den konkreten Auftrag, eine Koalition unter Nichtberücksichtigung der SPD zu bilden. Um ohne parlamentarische Mehrheit regieren zu können, wurde ihm der Einsatz des Artikels 48 der Weimarer Verfassung zur Verfügung gestellt. Dieser Artikel war unter dem Eindruck der Nachkriegswirren in die Verfassung aufgenommen worden, um dem Reichspräsidenten in Krisenzeiten die Möglichkeit zu geben, ohne Zustimmung des Parlaments schnell Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ergreifen zu können. Der Reichstag konnte zwar mit einem Mehrheitsbeschluss eine erlassene Notverordnung wieder aufheben, als Reaktion darauf hatte der Reichskanzler aber die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, die spätestens nach 60 Tagen stattfinden mussten. Brünings erste Notverordnung zu dem Thema „Steuern und Landwirtschaft“ fand zwar noch eine sehr knappe Mehrheit im Reichstag, im Juli desselben Jahres bereits wurde jedoch eine Notverordnung abgelehnt, die Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen und eine zusätzliche Abgabe für Festbesoldete beinhaltete. Als Reaktion hierauf löste Brüning das Parlament auf. Neuwahlen fanden im September 1930 statt. Bei diesen Wahlen stieg der Anteil der NSDAP drastisch von 2,6 % auf 18,3 % an. Da die Beseitigung des Brüningschen Präsidialkabinetts durch das Niederstimmen der Notverordnung nicht gelungen war und zudem die Position der Republikgegner deutlich gestärkt wurde, beschloss die SPD von da an, aus Gründen der Staatsräson, Brünings Minderheitsregierung zu tolerieren. Die Regierungsperiode von Reichskanzler Brüning dauerte bis zum 29. Mai 1932 an. Wiederum war es Reichspräsident Hindenburg, der die Entlassung Brünings herbeiführte, zu dem er über die letzten zwei Jahre das Vertrauen verloren hatte. Diesem war es nämlich nicht gelungen, wie von Hindenburg gefordert, ohne die SPD auszukommen. Der äußere Anlass für das Ende der „Ära Brüning“ war eine Notverordnung zum Thema „Ostsiedlungspolitik“, welche die Zwangsenteignung nicht mehr entschuldungsfähiger großer Güter vorsah. Dieser Notverordnung verweigerte Hindenburg jedoch die Zustimmung, da er in diesem Gebiet selbst Besitzungen gehabt hat.

Der Nachfolger Brünings wird Franz v. Papen, der vor seiner Ernennung innerhalb des Zentrums zum extrem deutschnationalen und monarchistischen Flügel zählte. Papen schien Schleicher, der durch seine Machtstellung in der Reichswehr und seine Beziehung zu Hindenburg einen großen Einfluss auf die Kandidatenwahl hatte, der geeignete Übergangskandidat für seine weitergehenden Pläne zu sein.

Wichtigstes innenpolitisches Ereignis in der Papen-Amtszeit war die rechtswidrige Absetzung der amtierenden, von der SPD geführten preußischen Regierung am 20. Juli 1932, die nach der Landtagswahl im April 1932 die Mehrheit verloren hatte und daher nur noch geschäftsführend im Amt gewesen ist. Papen übernimmt daraufhin als Reichskanzler auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten. Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 verzeichnet die NSDAP abermals drastische Gewinne, ihr Anteil stieg von 18,3 % auf 37,4 % an. Mit diesem parlamentarischen Rückhalt fordert Hitler, mit der Regierungsbildung beauftragt werden zu müssen und durchkreuzt damit Schleichers „Zähmungspläne“. Hindenburg jedoch weist jegliche Versuche der Regierungsübernahme durch Hitler scharf zurück. Mit einer Notverordnung vom 4. September 1932 erlässt Papen zum ersten Mal ein Bündel von Maßnahmen (u.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Steuergutscheine für die Einstellung Arbeitsloser), mit denen gezielt die Lage auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden sollte. Vor dem Hintergrund einer sich scheinbar aufhellenden Konjunktursituation finden diese Ideen keine Zustimmung im Reichstag; in einem anschließenden Misstrauensvotum stimmen die Parlamentarier mit großer Mehrheit, 512 gegen 42 Stimmen[8], gegen die Regierung Papen. Als Antwort auf diese Abstimmung wird der Reichstag abermals aufgelöst. Am 6. November 1932 finden daraufhin Neuwahlen statt. Bei dieser Wahl verliert die NSDAP deutlich an Stimmen (von 37,4 % auf 33,1 %). Sie bleibt jedoch nach wie vor die stärkste Partei. Die DNVP kann als einzige Regierungspartei ihren Stimmenanteil von 6,2 % auf 8,9 % leicht steigern. Jedoch kann aus dieser Wahl keine pro-republikanische Mehrheit hervorgehen. KPD und NSDAP verfügen insgesamt über mehr als 50 % der Stimmen. Hitler erhebt infolgedessen gleich wieder die Forderung, eine Minderheitsregierung bilden zu wollen. Hindenburg hätte Hitler jedoch nur mit der Regierungsbildung beauftragt, wenn es diesem gelungen wäre, eine durch die Mehrheit des Reichstages legitimierte Regierung zu bilden. Papen hingegen hält weiter an einer Minderheitsregierung fest. Dazu ist Schleicher jedoch nicht bereit. Aus diesem Grund entlässt Hindenburg Papen und ernennt Schleicher zu seinem Reichskanzler. Papen, jetzt durch die Absetzung enttäuscht von Schleicher, seinem einstigen Mentor, tritt im Hintergrund in Geheimverhandlungen mit der NSDAP über eine Minderheitsregierungsbildung ein, der Hitler als Kanzler vorstehen soll. Ihr sollte die DNVP als Mehrheitsbeschaffer zur Seite stehen. Nach der Überzeugung des Reichspräsidenten durch von Papen, schwenkt dieser wieder zu dem ehemaligen Reichskanzler um. Am 28. Januar 1933 wird Schleicher von Hindenburg schließlich entlassen, nachdem dieser nicht die erwünschte Vollmacht zur Auflösung des Reichstages erhalten hatte. Das Hitler-Kabinett wird am 30. Januar 1933 vereidigt. Am 5. März 1933 wird eine Reichstagswahl abgehalten, die allerdings schon unter dem Eindruck nationalsozialistischer Einschüchterung steht, bei der die NSDAP 43,9 % erreicht und damit die Weimarer Republik auf dem Boden ihrer eigenen Verfassung außer Kraft setzen konnte. Jedoch sei an dieser Stelle betont, dass Hitler nicht primär durch Wahlen an die Macht gekommen ist, da ihm als Führer einer Minderheitsregierung die Regierungsverantwortung übertragen wurde. Außerdem blieb die NSDAP selbst auf dem Höhepunkt ihrer Wahlerfolge von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt. Jedoch hätte die nationalsozialistische Machtergreifung mit Sicherheit nicht ohne die spektakulären Wahlergebnisse der NSDAP, vor allem im Jahre 1932, stattfinden können.

(Vgl. Stögbauer, C., 2001, S. 26 ff.)

2.3 Medienverhalten

2.3.1 Das Radio

In diesem Zeitabschnitt tritt zum ersten Mal das Radio als Massenmedium in Erscheinung. Der Rundfunk in der Weimarer Republik befindet sich in öffentlicher Zuständigkeit.

Reichsinnenministerium, Reichspostministerium, die Länderregierungen, wie die Parteien des Reichstages, mit Ausnahme der kommunistischen Republikgegner, waren sich einig über die Notwendigkeit, nicht nur die Organisation und Verwaltung, sondern auch das Programm des Rundfunks einer staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Auch über das Prinzip staatlicher Programmkontrolle herrscht allgemeine Übereinstimmung. Der Rundfunk diene keiner Partei. Sein gesamter Nachrichten- und Vortragsdienst sei daher streng überparteilich zu gestalten. Das gleiche gelte auch für den kulturellen Teil des Rundfunks. Zur Sicherung dieser Anforderung werden zwei Gremien geschaffen. Zum einen gab es hier den politischen Überwachungsausschuss für das politische Programm und zum anderen den kulturellen Beirat für Darbietungen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und Volksbildung. Hierbei wird der Überwachungsausschuss aus unmittelbaren Regierungsmitgliedern, der Beirat aus Vertretern der Öffentlichkeit gebildet. Die Länder hatten sich jedoch nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Reich den ausschlaggebenden Einfluss sichern können. Die im Laufe des Jahres 1924 gegründeten neun Rundfunkgesellschaften unterstanden damit keiner Zentralgewalt. Sie hatten sich in ihrer Programmgestaltung im stärkeren Maße den Landesregierungen anzupassen, deren Gebiet sie mit ihrem Programm versorgten. Ziel des Rundfunks zu jener Zeit ist es gewesen, gut zu unterhalten und Bildung zu vermitteln. Der junge Staat hat es als seine wichtigste Aufgabe angesehen, die Volksbildung zu fördern. Die Bürgerinnen und Bürger der jungen Generation sollten auf diesem Wege zu mündigen Demokraten und zur Zivilcourage erzogen werden. Der Rundfunk jener Tage hat beispielsweise auch spezielle Programme für Techniker, Angestellte und Ärzte gesendet. Es wird sogar versucht, eine Art Funkuniversität einzurichten.

Bei diesem Medium ist auf Grund seines technischen Monopols und seiner daraus resultierenden öffentlichen Betreibung der Wirkungszusammenhang „Programm folgt Stimmung und die entsprechende Rückwirkung“ weitestgehend auszuschließen, da hier die Selektionsmechanismen des Marktes nicht gelten.

Um Aufschlüsse über die Reichweite dieses Mediums anstellen zu können, sei angemerkt, dass es 1924 in Berlin, laut Statistischem Landesamt Berlin, bereits 208.905 Rundfunkteilnehmer gegeben hat. 1930 waren es in Berlin dann bereits 601.000. In der im Vergleich zu Berlin kleineren Stadt Hamburg waren es 1932 erst durchschnittlich 166.679 Rundfunkteilnehmer. (Vgl. Meyer-Kahrwig, D., 2001; Lerg, W.B.; Steininger, R., 1975, S. 19 ff.)

2.3.2 Die Zeitung

In diesem Abschnitt soll jetzt die Verteilung der Marktmacht der politisch ausgerichteten Presse untersucht werden. Hier sind vor allen Dingen zwei große Konzerne zu nennen.

Auf der, um das nebulöse Wort in diesem Fall ausnahmsweise einmal zu benutzen, linken Seite des politischen Spektrums ist der Ullsteinverlag zu finden, während auf der entgegengesetzten politischen Seite der Hugenbergverlag ideologisch beheimatet ist.

Der Ullsteinverlag hat Zeitungen wie die Berliner Illustrierte Zeitung mit einer Auflage von etwa 2 Millionen, die Berliner Morgenpost mit einer Auflage von etwa 600.000 Zeitungen und die Grüne Post mit etwa einer Million Zeitungen pro Ausgabe im Angebot. Darüber hinaus befinden sich unter dem Dach des Ullsteinverlages die Vossische Zeitung mit einer Auflage von 70.000 Zeitungen und verschiedene Fachorgane, deren politische Ausrichtung aber wohl eher als neutral zu bezeichnen ist.

Der Hugenberg-Verlag, der in etwa ein Drittel der Provinzzeitungen und die zweitgrößte Nachrichtenagentur besessen hat, konnte im Laufe der Weimarer Republik das Übergewicht im Markt gewinnen. Dies wird durch die Aussage des Handbuches der Presse aus dem Jahre 1932 bestätigt. Hier wird gesagt, dass etwa 27,9 % der Presse als nationalistisch (Hugenberg), 12,8 % als neutral oder bürgerlich-konservativ und 8,3 % der Zeitungen als eher sozialistisch (Ullsteinverlag) eingestuft werden können. Die Zentrumspresse machte mit 450 Zeitungen circa 12 % des Zeitungsmarktes aus. Diese waren kontrolliert vor allen Dingen von Großagrariern, konservativem Klerus und katholischen Schwerindustriellen.

Es besteht also ein klares Übergewicht zu Gunsten der Gegner der klassisch sozialistisch ausgerichteten Zeitungen.[9]

Es gab, laut Aussage von Hans-Jürgen Voß, einem Mitarbeiter beim Bundesarchiv in Berlin, neben dem Ullsteinverlag auch eine ziemlich ausgeprägte Arbeiterpresse, die man wohl eher als SPD- oder gar KPD-nahe bezeichnen kann.

Auf die nationalsozialistische Presse wird noch in der abschließenden Erklärung näher eingegangen. (Vgl. Kühnl, R., 1993, S. 133 ff.)

2.4 Politische Schulbildung in der Weimarer Republik

Vier Grundgedanken haben nach der Weimarer Reichsverfassung die Schulbildung

bestimmt:

- die staatsbürgerliche Gesinnung
- der Geist des deutschen Volkstums
- der Gedanke der Völkerversöhnung sowie
- die Schonung der Empfindungen Andersdenkender

Gerade in dieser Phase einer jungen Republik, erweist sich die staatsbürgerliche Erziehung als essentiell für den Staat. Der zweite Gedanke begründet sich besonders aus der Situation nach dem verlorenen Krieg. Hierin kommt die Sehnsucht nach „Einheit“ und „Gemeinschaft“ zum Ausdruck. Das nationale Element gewinnt deutlich an Konturen, preußische Traditionen werden ohne Unterbrechung fortgeschrieben.

Das Postulat der Völkerversöhnung ist bereits bei der Beratung der Reichsverfassung umstritten, woraufhin es im weiteren Verlauf immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Was im vierten Grundsatz als „Schonung der Empfindungen Andersdenkender“ beschrieben ist, wird je nach ideologisch/politischer Gesinnung auch als offene Feindschaft gegen die Republik aufgefasst. Selbst Monarchisten sollten im Schuldienst toleriert werden, so eine Interpretation. Die Tatsache, dass staatsbürgerliche Erziehung zum ersten Mal Verfassungsrang erhält, wird von manchen als Novum aufgefasst, für andere spiegelt sich hierin nur die Fortschreibung des allerhöchsten Erlasses Wilhelm II, der die Schule gegen unliebsame politische Gegner instrumentalisiert hat, von 1889 wider.

[...]


[1] Im Wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik hat es noch keine Differenzierung zwischen Erst- und Zweitstimme gegeben. Allerdings wird hierauf an geeigneter Stelle noch näher eingegangen und hingewiesen.

[2] Wenn hier im Folgenden von den „Linksliberalen“ oder vom „Zentrum“ die Rede ist, so handelt es sich hierbei nicht um eine normative Definition des Verfassers dieser Arbeit, sondern um einen feststehenden Namen für eine politische Richtung im Wilhelminischen Deutschland.

[3] Das Sozialistengesetz hat ab dem Jahre 1878 alle sozialistischen Vereine verboten, unterdrückte ihre Presse und hat den Landesregierungen das Recht gegeben, Sozialdemokraten auszuweisen. Infolgedessen wurden viele Volksredner inhaftiert oder ausgewiesen; aber gerade das erhöhte ihr Ansehen und förderte die Verbreitung ihrer Gedanken. Die Stimmenzahl stieg während und nach dem Verbot kontinuierlich an. Das Sozialistengesetz wurde demnach auch 1890 wieder aufgehoben.

[4] Über die inhaltliche Ausrichtung der so genannten linksliberalen Kräfte ist dem Verfasser zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt.

[5] Der Effekt, dass eine Zeitung über eine höhere Frequenz, aber geringere Auflage eine andere Zeitung in der Reichweite überflügeln könnte, wird hier auf Grund mangelnder Frequenzangaben außer Acht gelassen. (Vgl. Kroeber-Riel, W.; Weinberg, P., 2003. S. 631 ff.)

[6] Eine Differenzierung zwischen Erst- und Zweitstimme gibt es auch hier noch nicht.

[7] Zur Gründung der SPD und des Zentrums siehe Kapitel I.

[8] Stögbauer gibt hier fälschlicherweise 42 von 512 Abgeordneten an (Vgl. Stögbauer, C, 2001, S. 26 ff.)

[9] Mit Sozialisten sind hier ausdrücklich nicht die Nationalsozialisten gemeint.

Ende der Leseprobe aus 275 Seiten

Details

Titel
Die Wähler werden immer wählerischer - Die Entwicklung des Wählerverhaltens bei Reichs- und Bundestagswahlen in Abhängigkeit von Medienverhalten und politischer Schulbildung
Hochschule
Fachhochschule Westküste Heide
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
275
Katalognummer
V83129
ISBN (eBook)
9783640217410
ISBN (Buch)
9783640226887
Dateigröße
5559 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Die Wähler werden immer wählerischer", so heißt ein Buch das kürzlich im Grin-Verlag erschienen ist. Autor ist der Dithmarscher Carsten Dethlefs. Der seit seinem vierten Lebensjahr erblindete Diplom-Kaufmann (FH) untersucht hier auf 284 Seiten die Wirkung des Medienverhaltens und der politischen Schulbildung auf das Wählerverhalten der Deutschen seit über 100 Jahren und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Dieses Buch ist unter der ISBN-Nummer: 3-640-22688-7 zum Preis von 49,90 Eur in jeder Buchhandlung erhältlich. Wenn ein solches Buch einen kleinen Beitrag leisten kann, um in diesem Superwahljahr das Politikinteresse zu steigern, ist schon viel erreicht.
Schlagworte
Wähler, Entwicklung, Wählerverhaltens, Reichs-, Bundestagswahlen, Abhängigkeit, Medienverhalten, Schulbildung
Arbeit zitieren
Carsten Dethlefs (Autor:in), 2004, Die Wähler werden immer wählerischer - Die Entwicklung des Wählerverhaltens bei Reichs- und Bundestagswahlen in Abhängigkeit von Medienverhalten und politischer Schulbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83129

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