Frühförderung sozial benachteiligter Kinder. Eine Herausforderung an die Lernbehindertenpädagogik?


Examensarbeit, 2007

81 Seiten, Note: 2,00


Leseprobe


Gliederung

Einleitung
Aktualität des Themas
Fragestellung und Verlauf der Arbeit

1.0 Begriffsklärungen
1.1 Soziale Benachteiligung
1.2 Sonderpädagogischer Förderbedarf
1.3 Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und sonderpädagogischem Förderbedarf
1.4 Früherkennung und Frühförderung

2.0 Sozioökonomisch-soziokulturelle Bedingungen und Bildungschancen
2.1 Zusammenhang zwischen sozioökonomisch-soziokulturellen Bedingungen und Bildungschancen
2.2 Begründung der Prävention
2.3 Herausforderung an das System Frühförderung
2.4 Rechtliche Grundlagen der Frühförderung

3.0 Prävention – Früherkennung und interdisziplinäre Frühförderung
3.1 Früherkennung und Frühförderung als zwei Säulen der Prävention
3.1.1 Modell der Prävention
3.2 Elemente der Früherkennung
3.2.1 Medizinischer Bereich
3.2.2 Pädagogischer und psychologischer Bereich
3.3 Grundsätze, Aufgaben und Ziele der interdisziplinären Frühförderung
3.3.1 Inhaltliche Grundsätze der Frühförderung
3.3.2 Aufgaben und Ziele der interdisziplinären Frühförderung

4.0 Eltern und Erziehungsberechtigte in der Frühförderung
4.1 Elternarbeit und ihre Entwicklung
4.1.1 Das Laienmodell
4.1.2 Das Ko-Therapie-Modell
4.1.3 Das Kooperationsmodell
4.2 Bedeutung der Eltern/Erziehungsberechtigten für eine erfolgreiche
Frühförderung

5.0 Wirkung der Prävention auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien
5.1 Organisationsformen der Prävention
5.2 Zahl der geförderten Kinder – im Überblick
5.3 Interpretation der Daten

Fazit – Perspektive

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Diagramme, Grafiken und Tabellen

Diagramm 1: 15-Jährige nach Sozialschichtzugehörigkeit und Bildungsgang

Tabelle 1: Beteiligungschancen von Jugendlichen nach Sozialschicht

Diagramm 2: Förderschwerpunkte für das Schuljahr 2005/06

Grafik 1: Bedürfnispyramide nach Maslow

Tabelle 2: Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Tabelle 3: Vorsorgeuntersuchungen

Diagramm 3: Abhängigkeit der Teilnahme an den Schuleingangsuntersuchungen von der sozialen Herkunft der Eltern

Grafik 2: Grundprinzipien der Frühförderung

Tabelle 4: Aufgabenfelder der Frühförderung

Tabelle 5: msH und SVE

Diagramm 4: Zahl der durch msH und SVE geförderten Kinder

Einleitung

Aktualität des Themas

Das gegenwärtige Bild der Bevölkerung in der Bundesrepublik ist unter anderem durch veränderte Sozialisationsbedingungen, den Wandel der Familienstrukturen, erhöhte soziale und ökonomische Risiken sowie den Abbau sozialstaatlicher Maßnahmen gekenn­zeichnet. Die Veränderung in den Familienstrukturen hat zur Folge, dass Familien heutzutage vielen Kindern nicht mehr dieselbe Konstanz wie zu früheren Zeiten bieten können. Soziale Ge­meinschaften sind häufig charakterisiert durch Partnerschaftswechsel der Eltern, Patchwork­familien, alleinerziehende Elternteile, die zudem den Lebensunterhalt verdienen müssen (Not zur Arbeit), niedriges Bildungsniveau der Eltern sowie Arbeitslosigkeit. All dies hat zu einem wachsenden Gefälle sozialer Schichten und einer Zunahme sozialer Benachteiligung mit zunehmenden Verarmungsprozessen geführt (vgl. 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005). Insbesondere Kinder, als schwächste Mitglieder der Gesellschaft sind hiervon betroffen, was sich insbesondere in einer Beeinträchtigung ihre Lebensbedingungen zeigt.

Die gesellschaftliche Realität wird daher mit einer steigenden Anzahl von Kindern konfron­tiert werden, deren Lebenslagen von sozialer Gefährdung und Benachteiligung geprägt sind. Da der Zusammenhang von sozialer Benachteiligung bei Kindern und sonderpädagogi­schem Förderbedarf bereits ab den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederholt nachgewiesen worden ist, muss dieser Tatsache dringend Rechnung getragen werden (vgl. Weiß 1985, S.32). Bereits 1991 begründet Klein in seinem Artikel die Einführung der Früh­förderung mit folgender Aussage: „Die Tatsache, dass behinderte Kinder häufiger aus sozial schwachen und randständigen Familien kommen als nichtbehinderte, war einer der maß­geblichen Gründe für die Einführung der Frühförderung“ (Klein 1991, S. 54).

Die Aktualität der Gesamtthematik wird außerdem bewusst, wenn man die gegenwärtigen Meldungen und Diskussionen in der Bildungs- und Sozialpolitik verfolgt. Hier ist dann die Rede vom Anstieg der Bildungsarmut vor allem bei jungen Menschen. Durch Bezeichnun­gen wie „bildungsferne Schichten“ wird von Seiten der Politik versucht, den Begriff der Bildungsarmut euphemistisch zu verharmlosen. Als eine Ursache für dieses Phänomen wird besonders die ungenügende frühkindliche Förderung durch die Eltern genannt. Gründe hier­für sind der oft niedrige Bildungsstand der Eltern, deren Migrationshintergrund und Bil­dungsferne der Eltern. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbe­nachteiligung bzw. Bildungserfolg ist bereits seit der ersten PISA- Studie nachgewiesen (vgl. Pisa-Konsortium 2000, S. 324 ff.). Denn Bildung beginnt im Elternhaus.

Die jüngsten Debatten über den Ausbau von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren, initiiert durch die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) verdeutlichen noch einmal die prekäre Situation in Deutschland. Viele Eltern seien laut der Familienmi­nisterin mit ihren Lebenssituationen überfordert, wodurch sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht mehr wahrnehmen können. Sie ist der Meinung, dass ein Blick in die Krippen, Kin­dergärten und Schulen verdeutlicht, wie wichtig frühkindliche Betreuung ist. Von der Leyen plädiert daher für den Ausbau von 750.000 Krippenplätzen sowie für die Einführung eines Pflicht-Vorschuljahres, da viele Kinder aus bildungsfernen Familien nicht einmal einen Kindergarten besuchen. Somit soll eine hinreichende Versorgung zur Bildung und Betreu­ung innerhalb der ersten Lebensjahre sichergestellt werden. Die Förderung in der frühen Kindheit bestimmt den späteren Lernerfolg entscheidend mit. Daher muss ein größeres Ge­wicht auf die frühkindliche Förderung gelegt werden.

Fragestellung und Verlauf der Arbeit

Kinder aus sozialen Unterschichten sind im Förderschwerpunkt Lernen mit ca. 90% dras­tisch überrepräsentiert (vgl. Thimm/Funke 1977, S. 581 ff.). Es ist davon auszugehen, dass sich dieser Prozentsatz durch geeignete Früherkennungsmaßnahmen und Frühförderange­bote, welche speziell auf die Bedürfnisse dieser Klientel abgestimmt sind, drastisch senken ließe. Da in Deutschland eine frühe Differenzierung der Bildungswege stattfindet, ist es be­sonders wichtig, dass zu einem möglichst frühen Zeitpunkt versucht wird, soziale Benach­teiligung auszugleichen. Somit sollten allen Kindern vergleichbare Startchancen ermöglicht werden. Doch schon Klein und Weiß haben in ihren Untersuchungen darauf hingewiesen, dass sich sowohl die Früherkennung als auch die Frühförderung von Kindern aus sozial schwachen und randständigen Familien als besonders schwierig erweist. Aus der Auseinan­dersetzung mit der Thematik und der Tatsache, dass Frühförderung sozial benachteiligter Kinder eine wichtige Aufgabe für die Lernbehindertenpädagogik ist, ergibt sich die dieser Arbeit zu Grunde liegende Fragestellung:

Welches sind die Konsequenzen für die Frühförderung bezogen auf die Zielgruppe der so­zial benachteiligten Kinder?

Zur Strukturierung der Arbeit:

Zuerst werden wichtige grundlegende Begriffe näher beschrieben, was dem allgemeinen Verständnis und der Vermeidung von Missverständen dienen soll. Daran anschließend wird der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und soziokulturellen Bedingungen sowie Bildungschancen dargestellt. Hierbei wird besonders auf die Pisa-Studien und den 2. Armutsbericht eingegangen. Danach sollen Früherkennung und Frühförderung als die zwei Säulen der Prävention allgemein beschrieben werden. Dabei wird das Modell der Prävention kurz vorgestellt und die Elemente der Früherkennung im medizinischen und pädagogisch-psychologischen Bereich beschrieben. Außerdem soll gezeigt werden, dass Frühförderung ihre Ziele und Aufgaben nur als interdisziplinäres Arbeitsfeld erfüllen kann. In einem nächsten Schritt wird die Bedeutung der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten für eine erfolg­reiche Frühförderung dargelegt. Hierbei sollen die drei Modelle der Zusammenarbeit mit den Eltern nach Otto Speck als Grundlage dienen. Im Anschluss soll die Wirkung der Prävention für Kinder aus sozial benachteiligten Familien im Förderschwerpunkt Lernen zum Ausdruck kommen. Dabei soll die Herausforderung an die Lernbehindertenpädagogik, die sich aus der Förderung dieser Zielgruppe ergibt, aufgezeigt werden..

1.0 Begriffsklärungen

1.1 Soziale Benachteiligung

Der Begriff der sozialen Benachteiligung ist ein festverankerter Terminus im soziologi­schen, pädagogischen und heilpädagogischen Sprachgebrauch und dennoch ist es schwierig diesen eindeutig zu definieren und einzugrenzen. Grund dafür ist, dass soziale Benachtei­ligung sowohl von einem gesellschaftlichen, als auch von einem subjektbezogenen Aspekt aus betrachtet werden kann. Soziologisch gesehen gibt es Benachteiligung schon immer und beson­ders in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Terminus, hier unter dem Begriff sozio-kulturelle Benachteiligung, Gegenstand von Forschung und Diskussion. Be­gemann sieht die Benachteiligung hauptsächlich in der schichtspezifischen Sprache, Erzie­hung und in der Entwicklung der Motivation und des Leistungsvermögens (vgl. Begemann 1970, S. 24 ff.). Nachdem der Thematik lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, gewinnt die Frage nach Ursachen und den Möglichkeiten soziale Benachteiligung bestmög­lich zu kompensieren, wieder mehr Interesse in Sozialwissenschaft, Politik und Gesellschaft (vgl. Klein 1996, S. 140 f.).

Wenn von sozialer Benachteiligung die Rede ist, dann ist davon auszugehen, dass Chancen­gleichheit für alle Kinder ein legitimer Anspruch ist. „Nur vor dem Hintergrund einer postulierten Gleichheit der Lebens- und Erziehungsbedingungen für alle Kinder ist es sinnvoll, von Benachteiligung oder sozialer Benachteiligung zu reden“ (Klein 1999, S. 1). Klein definiert soziale Benachteiligung folgendermaßen: „Als soziale Benachteiligung bezeichnen wir in der Pädagogik Lebensumstände, die den Werdeprozess, die Entwicklung und Bildung junger Menschen im Vergleich zur Mehrzahl der Altersgenossen beeinträchtigen“ (Klein 1996, S. 140). Zur Erfassung von sozialer Benachteiligung ist die Grundlegung der sozialen Situation notwendig. Die Beschreibung der sozialen Situation junger Menschen kann in die Bereiche Familie, Schule, Ausbildung, Berufsleben, Wohnsituation, Freizeit und ökonomische Situation gegliedert werden (vgl. Heimlich 1989, S. 52). In all diesen Bereichen können Defizite bestehen, die dann zu einer defizitären Gesamtsozialisation beitragen können. Die soziale Situation kann als ein Geflecht von sich wechselseitigen beeinflussenden Faktoren verstanden werden, die die Lebenssituation der Betroffenen be­stimmt. Diese Defizite der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen können so zur Benach­teiligung von ganzen Gruppen führen und weisen auf einen kausalen Zusammenhang hin. Jedoch soll betont werden, dass nicht überall dort, wo Defizite in der sozialen Situation zu finden sind, auch von sozialer Benachteiligung gesprochen werden kann. „Menschliche Individuen entwickeln auf Grund ihrer anthropologischen Bestimmung die Fähigkeit, ihre “soziale Situation“ grundlegend zu verändern, wobei die Realisierungschancen für eine Situationsänderung wiederum sozial differieren“ (a.a.O., S. 60). Ebenso spricht auch Hock dann von Benachteiligung, wenn ein Kind in einigen wenigen Bereichen aktuelle Einschränkungen aufweist. Als erste Dimension nennt sie die materielle Situation der Familie, gefolgt von der materiellen Versorgung des Kindes, der Versorgung im kulturellen Bereich, die Situation im sozialen Bereich und außerdem die psychische und physische Lage des Kindes (vgl. Hock u.a. 2000, S. 28 ff.). Soziale Benachteiligung hindert die Betroffenen somit an einer vollen Partizipation an den gesellschaftlichen Erträgen und Zugriffen und kann somit zu sozialem Ausschluss führen.

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass sich die soziale Benachteiligung eines Kindes darin zeigt, dass sowohl seine seelischen als auch physischen Grundbedürfnisse auf Grund von erschwerenden äußeren Lebensbedingungen nicht oder nur ungenügend befriedigt wer­den und daher seine Entwicklung und Gesundheit beeinträchtigt werden können. Soziale Benachteiligung ist also primär kein materiell bedingtes und auf eine Bevölkerungsgruppe reduziertes Phänomen oder gar nur der Ausdruck von Armut. Die Gefahr von sozialer Be­nachteiligung nimmt jedoch mit zunehmender Verschlechterung der sozio-ökonomischen Stellung deutlich zu.

1.2 Sonderpädagogischer Förderbedarf

Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1994 „zur sonderpädagogi­schen Förderung“ in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland stellen einen Perspekti­venwechsel in der Geschichte der Sonderpädagogik dar. Auf Grund der Auswirkungen auf das gesamte Schulwesen bezeichnen die Autoren Bleidick, Rath und Schuck diesen Wandel in der sonderpädagogischen Bildungspolitik als kopernikanische Wende (vgl. Blei­dick/Rath/Schuck 1995, S. 248). Tatsächlich liefern die Empfehlungen im Gegensatz zu denen „zur Ordnung des Sonderschulwesens“ aus dem Jahre 1972 grundlegende Einstel­lungsveränderungen. Dies verdeutlicht bereits der Titel der neuen KMK-Empfehlungen. Der Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs bzw. der sonderpädagogischen Förderung löst den separierenden Begriff der Sonderschulbedürftigkeit ab. Impliziert der Begriff der Sonderschulbedürftigkeit noch eine defizitorientierte und vor allem institutionsbezogene Sichtweise, so wird die sonderpädagogische Förderung unabhängig von bestimmten Institu­tionen erfüllt und das Individuum rückt stärker in den Mittelpunkt. In den Empfehlungen heißt es dazu:

„Sonderpädagogische Förderung soll das Recht der behinderten und von Behinderung be­drohten Kinder und Jugendlichen auf eine ihren persönlichen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung und Erziehung verwirklichen. Sie unterstützt und begleitet diese Kinder und Jugendlichen durch individuelle Hilfen, um für diese ein möglichst hohes Maß an schu­lischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbstständiger Le­bensgestaltung zu erlangen“ (Drave/Rumpler/Wachtel 2000, S. 27).

Es geht also nicht mehr nur um die Feststellung von Defiziten und deren Ursachen, vielmehr stehen die individuellen Förderbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund. Zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist daher eine veränderte Diagnos­tik nötig. Deshalb muss eine ausführliche Kind- Umfeld- Analyse stattfinden, welche den Lernprozess begleitet. Die ermittelten Daten werden aber nicht zur Stigmatisierung und Aussonderung herangezogen, sondern geben konkrete Hinweise zur anschließenden Förderung.

Die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind zu sonderpä­dagogischen Förderschwerpunkten in den Bereichen des Lern- und Leistungsverhaltens, der Sprache, der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Hörens, des Sehens und in den Bereich der langandauernden Krankheit zusammengefasst (vgl. a.a.O., S. 29). „Sonderpäda­gogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen anzunehmen, die in ihren Bil­dungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können“ (a.a.O., S. 28 f.). Speziell zum Förderschwerpunkt Lernen beschreiben die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz die Schülerschaft folgendermaßen: „Bei Schü­lerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen des Lernens ist die Beziehung zwischen Indi­viduum und Umwelt dauerhaft bzw. zeitweilig so erschwert, dass sie die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der allgemeinen Schule nicht oder nur ansatzweise erreichen können“ (a.a.O., S. 300).

Hatte die Feststellung der Sonderschulbedürftigkeit zwangsläufig eine Umschulung in eine Sonderschule zur Folge, stehen seit den Empfehlungen von 1994 unterschiedliche Formen bzw. Möglichkeiten der Förderorte im Bildungs- und Erziehungssystem zur Verfügung. Die Grundlegung hierfür erfolgt bereits 1973 in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsra­tes. An erster Stelle steht in den Empfehlungen des Jahres 1994 die Förderung durch vor­beugende Maßnahmen, die umso wirkungsvoller sind je früher sie beginnen. Die sonderpä­dagogische Förderung kann auch im gemeinsamen Unterricht in einer allgemeinen Schule erfolgen, sofern hierfür die erforderlichen Voraussetzungen gesichert sind. Nach wie vor besteht auch noch die Möglichkeit der sonderpädagogischen Förderung in einer Förder­schule, wenn eine Förderung an einer allgemeinen Schule nicht sichergestellt werden kann. Weiter eignen sich auch kooperative Formen, bei denen die allgemeinen Schulen und För­derschulen eng zusammenwirken. Schließlich nennen die Empfehlungen noch die Förde­rung im Rahmen von sonderpädagogischen Förderzentren und im berufsbildenden Bereich. Dadurch, dass der Ort der Förderung offen gelassen wird, wird der Wunsch nach einer bes­seren Integration deutlich.

In der Beschreibung der Förderschwerpunkte wird die Kategorisierung nach der Art der Be­hinderung und somit den Defiziten der betroffenen Kinder und Jugendlichen vermieden. Vielmehr ist die Rede vom „Umgehen- Können mit Beeinträchtigungen“ (vgl. a.a.O., S. 32 ff.). Allerdings differenzieren die Empfehlungen den Förderbedarf nicht nach dem Grad der Schwere, der Dauer und dem Umfang, wie es für den Begriff der Beeinträchtigungen vorge­nommen wurde. „Die neue Formel lautete [...] in totaler Umkehrung der bisherigen Begrün­dungsweise: Behindert ist, wer Hilfe braucht“ (Speck 1995, S. 171; Auslassung C.K.). Da­her ist es auch schwierig eine genaue Abgrenzung zwischen pädagogischem und sonderpä­dagogischen Förderbedarfs zu finden.

Mit der Änderung der Begrifflichkeiten wird die neue Sichtweise erkennbar. Jedoch verän­dert sich durch den Wandel des Begriffs nicht nur der Sprachgebrauch, sondern bewirkt pa­rallel ein Problem auf der Ebene des Sachverhaltes. Sonderpädagogischer Förderbedarf ist nicht identisch mit Behinderung, hier hat ein Bedeutungswandel stattgefunden. Sonderpäda­gogische Förderung umfasst mehr und schließt auch Kinder und Jugendliche mit ein, die „von Behinderung bedroht“ sind, wie es bereits vom Deutschen Bildungsrat 1973 formuliert wurde. Das weitläufige Feld der Prävention öffnet sich somit auch der sonderpädagogischen Förderung.

Die Verwendung des Behinderungsbegriffs soll zukünftig vermieden werden. Die Kinder und Jugendliche sollen nicht mehr als lernbehindert etikettiert werden, sondern als Schülerinnen und Schüler bezeichnet werden, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen haben.

In der vorgelegten Arbeit wird diese neue Sichtweise der Bezeichnung (außer in wörtlichen Zitaten) berücksichtigt, auch wenn in der verwendeten Literatur noch von „Lernbehinde­rung“ bzw. „lernbehinderten Schülern“ die Rede ist.

1.3 Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und sonder­päda­gogischem Förderbedarf

Befunde über den Zusammenhang von sozialer Benachteiligung und sonderpädagogischem Förderbedarf speziell im Lern- und Leistungsverhalten stammen überwiegend aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. In dieser Zeit untersuchen z.B. Thimm und Funke die sozi­ale Benachteiligung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und gelangen zu dem Ergebnis, dass in etwa 90% der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen aus der sozialen „Unterschicht“ kommen (vgl. Thimm/Funke 1977, S. 581 ff.). Zu ähnlichen Ergeb­nissen kommen auch andere Autoren wie Begemann (vgl. Begemann 1970, S. 82 ff.) und Klein (Klein 1973, S. 11 ff.).

Dieser Erkenntnisstand scheint auf den ersten Blick überholt zu sein. „Dass es sich bei Lernbehinderungen und sozialer Benachteiligung nicht nur um ein Kovarianzverhältnis, sondern um eine ursächliche Verbindung handelt, wurde in den vergangenen Jahren immer eindeutiger belegt“ (Klein 1996, S. 144). Auch bestätigen neuere Untersuchungen sowohl die Aktualität der Thematik als auch die Tatsache dieses Zusammenhangs. „Die Aktualität des Problems der sozialen Benachteiligung im Bereich der Sonderpädagogik wird [...] deut­lich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der größte Teil aller Schülerinnen und Schüler in Förderschulen [...] von armen und randständigen Eltern kommt“ (ebd.; Auslassung C.K.). Die Publikation von Willand greift z.B. genau diese Thematik wieder auf. In seinem For­schungsbeitrag “Lernbehinderungen aus der Perspektive “neuer“ Formen sozialer Ungleich­heit“ hebt er ebenso die Aktualität hervor. Er vertritt den Standpunkt, man müsse das Thema soziale Benachteiligung im Bereich der Sonderpädagogik wieder stärker beachten, da seiner Meinung nach ansonsten eine tatsächliche Integration nicht erreicht werden kann. Mit Hilfe seiner Pilotstudie zur sozialen Benachteiligung macht er eine Gegenüberstellung von Schü­lerinnen und Schülern im Förderschwerpunkt Lern- und Leistungsverhalten sowie Haupt­schulschülern. Er kommt zu dem Ergebnis, dass gerade diese Schüler bezüglich soziokultu­reller Merkmale eine Benachteiligung erfahren (vgl. Willand 2000, S. 218).

Bereits im Jahre 1969 hat Klein Erhebungen zum sozialen Hintergrund von Förderschülern durchgeführt. In seiner aktuellsten Studie (2001) zu dieser Thematik stellt er fest, dass sich die soziale Lage dieser Population in den Jahren von 1969 bis 1997 nicht massiv verändert hat. Kinder, die die Förderschule für den Förderschwerpunkt Lernen besuchen, entstammen immer noch einem sozialen Umfeld, welches ihre Entwicklung schon von den ersten Le­bensjahren an beeinträchtigt, wenn nicht gar schädigt. Die Lebens- und Erziehungsbedin­gungen wirken sich auch gegenwärtig beeinträchtigend auf den Lernprozess aus. Eine deut­liche Veränderung stellt er lediglich bei der Zunahme von ausländischen Kindern, deren soziale Lagen sich als noch ungünstiger erweisen, in dieser Schulform fest (vgl. Klein 2001, S. 51 ff.). „Zur kulturellen Differenz kommen eindeutig entwicklungshemmende Faktoren hinzu, wofür vor allem die gegenwärtigen Erwerbsverhältnisse ihrer Eltern und die deutlich ungünstigeren Wohnverhältnisse die wichtigsten Indikatoren sind“ (a.a.O., S. 58).

Schröder argumentiert folgendermaßen: „Die familiäre Sozialisation vermittelt Erfahrungen, Fertigkeiten und Orientierungen, die sowohl für die allgemeine Lebensführung als auch für die [...], Werthaltungen, Entscheidungen und Qualifikationen von Bedeutung sind“ (Schrö­der 1987, S. 112; Auslassung C.K.). Ebenso ist es neurophysiologisch bestätigt, dass eine Wechselwirkung zwischen Umwelt und der Entwicklung kognitiver Funktionen besteht (vgl. Dichganz 1994, S. 229 ff.).

Abschließend ist festzustellen, dass soziale Benachteiligung zwar eine Ursache für sonder­pädagogischen Förderbedarf darstellt, aber nicht als alleiniger Faktor dafür verantwortlich gemacht werden kann. Dies würde sonst zu einer Etikettierung sozial benachteiligter Fami­lien führen.

1.4 Früherkennung und Frühförderung

Angestoßen durch die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ im Jahre 1974, wird die Bedeutung von vorbeugenden sowie frühen Hilfen erkannt (vgl. Deutscher Bildungsrat 1973, S. 44 ff.). Ganzheitliche Frühförderung bezieht die Bereiche der Früher­kennung, Frühbehandlung und der pädagogischen Frühförderung mit ein.

Früherkennung bzw. Früherfassung sind Teilbereiche der Frühförderung und Voraussetzung sowie Handlungsgrundlage dafür, dass diese überhaupt stattfinden kann. „Ziel der Früher­kennung ist es nicht, die Kinder in eine Norm zu pressen oder sie durch Vorschulpro­gramme „schulfähig“ zu machen, sondern die Prozesse zu erkennen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen oder verzögern“ (Barth 2000, S. 41). Da entsprechende Hilfs- und Förder­maßnahmen umso wirkungsvoller sind, je frühzeitiger eine Beeinträchtigung im Lern- und Leistungsverhalten erkannt wird, erhält die Früherkennung große Bedeutung. Früherken­nung beinhaltet auch das frühzeitige Erkennen von Risikofaktoren im Zusammenhang mit dem Lebensumfeld des Kindes. Auf die verschiedenen Elemente der Früherkennung soll später noch genauer eingegangen werden.

Im Gegensatz zur Prävention ist Frühförderung insbesondere ein Hilfsangebot für Kinder im Säuglings-, Kleinkind- und Kindergartenalter. Dabei gliedert sich die pädagogische Früh­förderung in zwei Bereiche, die Frühförderstufe I (0 bis 3 Jahre) und die Frühförderstufe II (3 bis 6 Jahre) (vgl. Heimlich 1999, S. 89). Beide Förderstufen finden zu verschiedenen Phasen des Kindesalters statt und werden in unterschiedlichen Förderorten wie Familie, Frühförderstelle und Kindergarten förderwirksam. Dabei kann Frühförderung als Gesamt­heit spezieller Hilfsangebote für Kinder und deren Familien unterschiedlichster Art verstan­den werden. Sie orientiert sich unter Berücksichtigung des Umfelds sowohl an den indivi­duellen Bedürfnissen als auch an den Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Für das För­derkonzept entstehen hieraus individuelle Förderziele- und -schwerpunkte. Das Bundesmi­nisterium für Gesundheit und Soziales nennt in seiner Broschüre „Frühförderung – Einrich­tungen und Stellen der Frühförderung in der Bundesrepublik Deutschland“, welche 1989 zum ersten Mal herausgebracht wird, Interdisziplinarität in der Zusammenarbeit, Familien­orientierung Ganzheitlichkeit und Vernetzung als Grundsätze für den Bereich der Frühför­derung (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005). Daneben ist sie zur „Familienorientierung, Hilfe zur Selbsthilfe und sozialer Integration verpflichtet“ (vgl. Sohns 2000, S. 17). Das familienorientierte Konzept gibt den Familien und anderen Bezugspersonen Halt, Stabilität, leistet Beratung und gibt den Betroffenen Anleitung.

Speck, als Vorsitzender der Arbeitsgruppe des Deutschen Bildungsrats Anfang der 70er Jahre, versteht unter Frühförderung einen „Komplex medizinisch, pädagogisch, psychologisch und sozialrehabilitativer Hilfen, die darauf ausgerichtet sind, die Entwicklung eines Kindes und sein Leben- Lernen in seiner Lebenswelt in den ersten Lebensjahren unterstützend zu begleiten, wenn diesbezüglich Auffälligkeiten und Gefährdungen vorliegen“ (Speck 1996, S. 15). Er schließt somit ganz unterschiedliche Berufsfelder in den Bereich der Frühförderung mit ein. Nur auf diese Weise kann Frühförderung ihre Aufgaben, auf welche in Punkt 4 noch genauer eingegangen werden soll, angemessen erfüllen. „Während die Gesetzestexte diese Kinder als behindert bzw. von Behinderung bedroht bezeichnen, wird das Etikett der Behinderung in der Praxis der Frühförderung vielerorts anfänglich vermieden, um den präventiven Arbeitsansatz herauszustellen, um Entwicklungschancen offen zu halten und eventueller frühzeitiger Ausgrenzung und Besonderung entgegenzuwirken“ (Wilken 1999, S. 14).

Die Notwendigkeit früher Hilfen ist hauptsächlich entwicklungspsychologisch zu begrün­den, da die frühkindlichen Entwicklungsphasen noch stark beeinflussbar sind. „Auf der entwicklungspsychologischen Begründungsebene für Frühförderung wird z.B. der Stellen­wert vielfältiger sensomotorischer Anregungen für die kognitive Entwicklung und die ba­sale Funktion der sozial-emotionalen Beziehung des Kindes für die Entwicklung von Ver­trauen und Selbstwertgefühl hervorgehoben“ (Heimlich 1999, S. 90). Aus neurobiologischer Perspektive betrachtet ist Frühförderung dahingehend wichtig, dass die neuronalen Vernet­zungen des Nervensystems sich in einem gewaltigen Wachstumsprozess befinden. Zuletzt wird noch der Erhalt von Funktionsresten wie z.B. die auditive Wahrnehmung für die Be­gründung von Frühförderung genannt (vgl. a.a.O., S. 89 f.).

Außerdem ist die Frühförderung noch aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Sie stellt eine unerlässliche, aber dennoch leider keine ausreichende Bedingung zur Integration von Kindern mit Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen im Lern- und Leistungsverhalten im Vorschulalter dar.

2.0 Sozioökonomisch-soziokulturelle Bedingungen und Bildungschancen

2.1 Zusammenhang zwischen sozioökonomisch-soziokulturellen Bedin­gungen und Bildungschancen

In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Zusammenhang zwischen dem sozioökono­misch-soziokulturellem Status und dem schulischen Lernerfolg. Die besonders durch die Bildungspolitik der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts appellierte Forderung nach Gleich­heit der Bildungschancen, unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit, ist bis heute nicht hinreichend realisiert worden. „Trotz stetiger Erhöhung der Bildungsausgaben ist es bis heute nicht gelungen, insbesondere zugunsten von Kindern und Jugendlichen aus „nicht priviligiertem“ Elternhaus und aus „marginalisierten“ Familien die noch immer bestehende Ungleichheit der Bildungszugänge nachhaltig zu verringern oder gar zu überwinden“ (Schor 2002, S. 37). Ein Blick in die Vergangenheit lässt immerhin eine gewisse „Lockerung“ die­ses Zusammenhangs erkennen. Vor allem ist „ [...] der sozial diskriminierende Effekt der Entscheidungsalternative zwischen Haupt– und Realschulbesuch zurückgegangen. Dagegen blieben die sozialen Disparitäten des Gymnasialbesuchs weitgehend stabil“ (Pisa-Konsor­tium 2001, S. 163; Auslassung C.K.).

Die Kohärenz zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland wird durch die Pisa-Studien bestätigt (vgl. Pisa-Konsortium 2001 & 2004). Pisa ist die Abkürzung für „Programm for International Student Assessment“, „ [...] ein Programm zur zyklischen Er­fassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation, das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt [...] wird“ (Pisa-Konsortium 2001, S. 15; Auslassung C.K.). Diese international durchgeführte Leis­tungsmessung erfasst die Lesekompetenz sowie die mathematische und naturwissenschaftli­che Grundbildung der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler (vgl. a.a.O., S. 15 ff.).

Zur Beschreibung des sozioökonomischen Status einer Familie werden bei Pisa zwei ver­schiedene Klassifikationen angewandt. Neben dem International Socio-Economic Index (ISEI) erfolgt auch die Einteilung der Herkunft der Schüler in soziale Klassen. Da letztere soziologisch betrachtet aussagekräftiger und übersichtlicher ist, soll diese in vorliegender Arbeit als Grundlage dienen (vgl. a.a.O., S. 337 f.). Nachfolgende Abbildung vermittelt ei­nen Gesamteindruck von der Verteilung der Schüler und Schülerinnen auf die unterschiedli­chen Bildungsgänge der Sekundarstufe I unter Berücksichtigung ihrer Sozialschichtzugehö­rigkeit.

Diagramm 1: 15-Jährige nach Sozialschichtzugehörigkeit und Bildungsgang

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten(a.a.O., S. 338)

Wie aus der Abbildung deutlich hervorgeht, ist ein Zusammenhang zwischen Schulart und Schichtzugehörigkeit festzustellen. Über 50 % der Kinder aus der oberen Dienstklasse besu­chen ein Gymnasium, während der Anteil der Kinder aus einer ungelernten bzw. angelern­ten Arbeiterfamilie in dieser Schulart auf etwa 10% sinkt. Das Gegenstück hierzu stellt der Besuch der Hauptschule dar, die von knapp 10% der oberen Dienstklasse und zirka 40% der Gruppe von Kindern der un- und angelernten Arbeiter besucht wird.

Um eine differenziertere Auskunft über diese Kohärenz zu erhalten, müssen die relativen Beteiligungschancen unter Berücksichtigung der verschiedenen sozialen Schichten herange­zogen werden. Folgende Tabelle gibt am Beispiel Bayern einen Überblick der Beteiligungs­chancen von Jugendlichen verschiedener Sozialschichtzugehörigkeit ein Gymnasium zu besuchen:

Tabelle 1: Beteiligungschancen von Jugendlichen nach Sozialschicht

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(a.a.O., S. 169)

„Die Koeffizienten der Tabelle sind so genannte odds ratios, die das Verhältnis der sozial­schichtabhängigen Beteiligungschancen wiedergeben“ (a.a.O., S. 167). Somit besagt ein odds ratio von 10,46 für den Gymnasiumsbesuch eines Kindes aus der oberen Dienstklasse, dass für diesen Jugendlichen die Aussicht, anstatt einer anderen Schulart ein Gymnasium zu besuchen 10,46-mal so hoch ist, wie die Chance eines Kindes mit Arbeiterfamilienherkunft (vgl. ebd.). Die relativen Beteiligungschancen weisen bundesländerspezifische Unterschiede auf. „In den neuen Ländern sind die relativen Chancen eines Gymnasialbesuchs deutlich weniger sozialschichtabhängig. Am ausgeprägtesten ist das soziale Gefälle der Bildungsbe­teiligung in den Ländern Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein“ (a.a.O., S. 170).

Bei der Analyse der sozialen Disparitäten ist es jedoch sinnvoll, zwischen primären und se­kundären Ungleichheiten zu unterscheiden. Unter primären Disparitäten werden Unter­schiede in den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, die erforderlich sind, um an Bildungsangeboten teilzuhaben, verstanden. Allerdings wird die Entwicklung der potentiel­len Fähigkeiten und Kompetenzen vom Elternhaus, d.h. von der sozialen Lage, beeinflusst. Sekundäre Ungleichheiten stellen soziale Disparitäten dar, die trotz gleicher Kompetenzen auftreten. Somit nimmt die soziale Herkunft Einfluss darauf, welche Schulart besucht wird (vgl. Pisa-Konsortium 2004, S. 245 f.). „Solche Unterschiede sind in Deutschland ebenfalls zu beobachten und hängen mit dem elterlichen Entscheidungsverhalten beim Schulwechsel in die Sekundarstufe I sowie dem Empfehlungsverhalten von Lehrkräften zusammen“ (ebd.).

Bei der Analyse der relativen Beteiligungschancen werden primäre und sekundäre Dispari­täten gemeinsam betrachtet. „Berücksichtigt man allein die sekundären Ungleichheiten –also die sozialen Disparitäten im engeren Sinn-, so verringert sich die Sozialschichtabhän­gigkeit der Bildungsbeteiligung erwartungsgemäß erheblich; ebenso schrumpfen die Län­derunterschiede“ (Pisa-Konsortium 2001, S. 170). Ausnahmen stellen die Bundesländer Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen dar (vgl. ebd.).

Auch die Bundesregierung betont in ihrem 2. Armuts- und Reichtumsbericht den Zusam­menhang zwischen dem sozioökonomisch-soziokulturellen Status und dem schulischen Lernerfolg. Daraus folgert sie die Notwendigkeit des schnellen Ausbaus einer geeigneten Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur. „Da Lernfähigkeit und -bereitschaft von Kindern mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zusammenhängen, in denen sie auf­wachsen, sind Maßnahmen zugunsten der kindlichen Entwicklung soziale Investitionen, die den Bildungsinvestitionen im eigentlichen Sinn gleichrangig zur Seite stehen“ (2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005, S. XXXIII). Mit ihrem Investitionspro­gramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ unterstützt sie, bis zum Jahr 2007, unter anderem den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. „Diese und weitere Maßnahmen [...] fördern vor allem die Bildung der Kinder und Jugendlichen [...] aus benachteiligten Familien [...] und erhöhen ihre zukünftigen Teilhabechancen“ (ebd.; Auslassung C.K.).

Ebenfalls kritisiert Vernor Muñoz, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, die große Abhängigkeit des Bildungserfolgs in Deutschland von der sozialen Herkunft. Dabei bezeichnet er das bestehende dreigliedrige Schulsystem als „selektiv, diskriminierend (und) undemokratisch“ (www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/ 0,1518,472976,00.html). In den Empfehlungen für den Besuch einer weiterführenden Schulart nach der vierten Grundschul­klasse werden, so Muñoz, die Schüler nicht angemessen beurteilt. Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen seien seiner Meinung nach hierbei die Leittra­genden. Muñoz plädiert somit, unter anderem, für die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, für mehr individuelle Förderung des Einzelnen sowie für eine kostenlose vor­schulische Bildung. Auf diese Weise würden allen Kindern vergleichbarere Chancen der Bil­dungsbeteiligung ermöglicht.

Ebenso verdeutlichen die Ergebnisse der Studie mit dem Namen „Lernausgangslage an För­derschulen (LAUF) von Wocken (vgl. Wocken 2000, S. 492 ff.), dass Faktoren wie:

- Sozialstatus der Eltern (Schulabschluss, Ausbildung, Erwerbsstatus)
- Familienstatus (Anzahl der Eltern, Anzahl der Kinder)
- Kultureller Status (Bücherbesitz, wie oft wird deutsch gesprochen)
- Individuallage (Fernsehkonsum, persönlicher Besitz, Freizeitverhalten)

Einfluss auf den schulischen Lernerfolg haben und somit ein Zusammenhang zwischen Bil­dungserfolg und sozioökonomisch-soziokulturellem Status besteht (vgl. a.a.O., S. 497 ff.). Schüler und Schülerinnen, die eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lern- und Leistungsverhalten besuchen, zeigen in den eben genannten Variablen deutliche Benachtei­ligung. „Diese durchgängige soziale Differenz, die keine Ausnahme kennt, verleiht den Er­gebnissen eine Eindeutigkeit, die kaum mit beschönigenden Rationalisierungen zu relativie­ren ist (Wocken 2000, S. 499).

2.2 Begründung der Prävention

Die Kohärenz zwischen sozioökonomischen–soziokulturellen Bedingungen und dem Bil­dungserfolg von Kindern in Deutschland wurde im vorherigen Punkt belegt. Ebenso ist der Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und sonderpädagogischem Förderbedarf im Lern- und Leistungsverhalten nachgewiesen. Schülerinnen und Schüler mit sonderpäda­gogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen „[...] kommen vorwiegend aus un­günstigen Wohngebieten: Altstadt, Obdachlosensiedlung, in der Nähe von Kasernen oder Güterbahnhöfen. Die Wohnungsgröße ist sehr knapp bemessen. Das Einkommen der Eltern ist sehr niedrig. Vielfach sind die Väter arbeitslos, und die Zahl der unvollständigen Fami­lien ist sehr hoch“ (Klein 1994, S. 167; Auslassung C.K.).

Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen stellen den größten Anteil aller Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf. Folgende Abbildung gibt einen Über­blick über die verschiedenen Förderschwerpunkte für das Schuljahr 2005/06 insgesamt.

Diagramm 2: Förderschwerpunkte für das Schuljahr 2005/06

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 168 ff.)

Da sozial benachteiligte Kinder an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen deut­lich überrepräsentiert sind, ist es dringend erforderlich diese Schülerschaft durch geeignete präventive Maßnahmen zu erreichen (vgl. Thimm/Funke 1977, S. 581 ff.). Hierdurch könnte sich ihr prozentueller Anteil voraussichtlich senken lassen.

Die Dringlichkeit, durch geeignete Früherkennungs- und Frühfördermaßnahmen genau diese Kinder zu erreichen, ergibt sich für Deutschland ebenso aus dem bestehenden drei­gliedrigen Schulsystem. Hier findet eine frühe Differenzierung der Bildungswege statt, da­her ist es besonders wichtig, soziale Benachteiligung so früh wie möglich auszugleichen. Auf diese Weise bekommen alle Kinder annähernd vergleichbare Startchancen für eine er­folgreiche Schullaufbahn.

[...]

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Frühförderung sozial benachteiligter Kinder. Eine Herausforderung an die Lernbehindertenpädagogik?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
2,00
Autor
Jahr
2007
Seiten
81
Katalognummer
V83315
ISBN (eBook)
9783638871471
ISBN (Buch)
9783638871570
Dateigröße
977 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frühförderung, Kinder, Herausforderung, Lernbehindertenpädagogik
Arbeit zitieren
Christina Karoly (Autor:in), 2007, Frühförderung sozial benachteiligter Kinder. Eine Herausforderung an die Lernbehindertenpädagogik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83315

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