Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz - Die Gründe für das paradoxe Erstarken einer politischen und sozialen Bewegung 1878-1890


Dossier / Travail de Séminaire, 2007

24 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der historische Hintergrund des Sozialistengesetztes
2.1 Die Motive und Maßnahmen Bismarcks
2.2 Anlass, Inhalt und unmittelbare Folgen des Sozialistengesetzes

3 Die Ursachen für das Erstarken der Sozialdemokratie
3.1 Wirtschaftskrise und Schutzzollpolitik
3.2 Organisationsfähigkeit der Sozialdemokratie
3.3 Verstärktes Klassen- und Selbstbewusstsein
3.4 Außenwirkung der innerparteilichen Ausrichtung
3.5 Juristische Bedingungen
3.6 Die Presse der Sozialdemokratie

4 Schlussbetrachtung

5 Quellen

6 Literatur

1 Einleitung

„Daß man uns wie Vagabunden und Verbrecher ausgewiesen und ohne eine gerichtliche Prozedur von Weib und Kind gerissen hatte, empfand ich als eine tödliche Beleidigung, für die ich Vergeltung geübt, hätte ich die Macht gehabt. Kein Prozeß, keine Verurteilung hat je bei mir ähnliche Gefühle des Hasses, der Er- und Verbitterung hervorgerufen, als jene sich von Jahr zu Jahr erneuernden Ausweisungen, bis endlich der Fall des unhaltbar gewordenen Gesetzes dem grausamen Spiel mit menschlichen Existenzen ein Ende machte“[1]. Diese Empfindung äußerte August Bebel, zeitgenössischer und sehr einflussreicher Führer der Arbeiterbewegung und seines Zeichens Sozialdemokrat der ersten Stunde, in Bezug auf die Behandlung, die ihm selbst und den Anhängern sozialdemokratischer Grundsätze während der Zeit der Geltung des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ – gemeinhin als „Sozialistengesetz“ bekannt – widerfuhr.

Die Sozialdemokratische Partei ist heute die mit Abstand älteste und wohl auch traditionsreichste Partei in der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt sie eine von zwei großen Volksparteien und hat sich als beständiger Faktor der deutschen Politik etabliert. Dies war in der aus Sicht moderner rechtsstaatlicher Prinzipien eher selten ruhmreichen Vergangenheit Deutschlands vor 1945 bei Weitem nicht immer der Fall. Im autoritär geprägten Kaiserreich Wilhelm I. und seines Kanzlers Otto von Bismarck wurde die noch in den Kinderschuhen steckende sozialdemokratische Bewegung nicht nur mit großem Argwohn, sondern als Gefahr für das bestehende System betrachtet, die mit höchst restriktiven Maßnahmen im Zaum zu halten war. Das Sozialistengesetz, welches in den zwölf Jahren von 1878 bis 1890 Bestand hatte, bildete den Höhepunkt dieser Repressionen. Gleichzeitig initiierte die Regierung Bismarck mehrere Sozialreformen, die den Arbeitern auf den ersten Blick zugute kamen und der Erwartung nach ihre Protestbereitschaft senken sollten. Dennoch wurden Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung nicht zerschlagen; man erlebte im Gegenteil einen bis zu diesem Zeitpunkt nie gesehenen Aufschwung, der sich vor allem in den Wahlergebnissen der Sozialdemokraten und letztendlich im Ende des Sozialistengesetzes widerspiegelte.

Mit diesem Umstand beschäftigt sich diese Arbeit. Aufgrund welcher Tatsachen konnte eine Partei und das dazugehörige Klientel ihre Strukturen aufrechterhalten bzw. noch festigen und ausbauen, obwohl die gegebenen politischen Rahmenbedingungen eines ihr feindselig gesinnten autoritären Staates für sie in Gänze ungünstig erschienen? Wie konnte die Sozialdemokratie ein gezielt gegen sie gerichtetes Gesetz und die gleichzeitig staatlich initiierten Sozialreformen entgegen aller Erwartungen als Bewegung überstehen und gestärkt die politischen Auseinandersetzungen der Folgejahre führen?

Die Gründe hierfür setzen sich – wie bei nahezu allen historischen Vorgängen – aus einem komplexen Ursachengeflecht zusammen. Sie scheinen allerdings vordergründig wirtschafts- und vor allem sozialhistorischer Art zu sein. Die politischen Möglichkeiten der Sozialdemokraten waren in der Zeit der Gültigkeit des Ausnahmegesetzes in derart starkem Maße eingeschränkt, das eine dezidiert diesbezügliche Analyse lediglich sehr mangelhafte Erklärungsansätze zum Ergebnis haben dürfte. Demgemäß erscheinen die detaillierten Rahmenbedingungen des zeitgenössischen politischen Systems und die Programmatik der Sozialdemokratie – wenngleich ihrer Natur nach niemals unwichtig – in diesem Kontext nebensächlich und werden in der Folge, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

Entsprechend behandelt der erste Teil der Arbeit die grundlegenden Voraussetzungen, welche den Reichskanzler Bismarck veranlassten, im angesprochenen Sinne gegen die Sozialdemokraten vorzugehen sowie seine daraus resultierenden Motive und Maßnahmen. Da es den Fixpunkt der gesamten Abhandlung darstellt, ist anschließend die Schilderung des Anlasses, konkreten Inhalts und der unmittelbaren Folgen des Sozialistengesetzes unverzichtbar – obgleich dieser Abschnitt vergleichsweise kurz gehalten ist, da die folgenden Kapitel den eigentlichen Kern der Arbeit enthalten. Darin fügen sich die einzelnen Faktoren, die letztendlich ausschlaggebend für die stichhaltige Begründung der aufgeworfenen Fragen sind, zu einem Bild zusammen, welches das Erstarken der Sozialdemokratie hinreichend erklärt. Hierzu gehören die Auswirkungen der Wirtschaftskrise Anfang der 1870er Jahre und die spätere Schutzzollpolitik Bismarcks sowie die Fähigkeit der Sozialdemokraten, ihre Tätigkeiten den Verhältnissen angepasst zu koordinieren und zu organisieren. Dazu kommt das verstärkte (Selbst-)Bewusstsein der Arbeiter, eine eigenständige Klasse innerhalb der Gesellschaft zu bilden und in dieser Form auch wirkungsvoll agieren zu können. Nicht zu unterschätzen sind außerdem die Wirkung der innerparteilichen Ausrichtung, die Presse der Sozialdemokratie während des Ausnahmegesetztes und formale juristische Bedingungen, die ihre Agitation erleichtern konnten. Selbiges kommt in den folgenden Abschnitten zur Sprache.

Hervorzuheben sind bei der Untersuchung dieses Kontextes die Werke Helga Grebings[2] und mit Abstrichen Peter Scherers[3], welche ausführlicher die Gründe für das Erstarken der Sozialdemokratie beleuchten. Bei sämtlichen anderen Autoren werden diese – absichtlich oder unabsichtlich – nur marginal dargestellt oder lediglich auf einen Teilaspekt beschränkt, der das Phänomen nicht in vollem Umfang plausibel erklären kann, obwohl es für die umfassende Beantwortung der jeweiligen Forschungsfragen von Nöten wäre. So bezieht sich beispielsweise Rosenberg vordergründig auf die Wirtschaftskrise als Auslöser einer erstarkenden Arbeiterbewegung[4], Ritter erkennt vergleichsweise günstige juristische Bedingungen als Hauptursache[5]. In der Fülle der Literatur, welche die Vorgänge des zu untersuchenden Zeitabschnitts zum Thema hat, finden sich außerdem eine Vielzahl an Werken, die den Gegenstand einer paradoxerweise erstarkenden sozialdemokratischen Bewegung zwar anschneiden bzw. nennen, aber in keinster Weise begründen. Die Tatsache, dass eine politische und soziale Bewegung trotz restriktivster Maßnahmen von staatlicher Seite ihr Überleben sichern konnte, scheint demnach auf den ersten Blick vollkommen selbstverständlich. Dies entbehrt allerdings jeglicher Logik.

2 Der historische Hintergrund des Sozialistengesetztes

2.1 Die Motive und Maßnahmen Bismarcks

Am 9. Mai 1873 brach die Börse in Wien zusammen. Der „große Krach“ hatte schwerwie­gende Folgen für die gesamte europäische Wirtschaft, seine Auswirkungen trafen das Deut­sche Reich allerdings besonders stark. Infolge des 1870/71 gewonnenen Krieges gegen Frankreich flossen insgesamt fünf Milliarden Francs an Reparationen in deutsche Kassen, durch die sich in den beiden Jahren nach Kriegsende eine Sonderkonjunktur angeheizt hatte. In dieser Zeit wurden Aktiengesellschaften, Aktienbanken, Eisenbahngesellschaften oder Bau- und Montanunternehmen in großer Zahl neu gegründet, häufig jedoch auf rein spekula­tiver und somit höchst unsolider finanzieller Grundlage.[6]

Die sozialpolitischen Folgen der völlig unerwarteten Wirtschaftskrise waren in den 1870er und 1880er Jahren weit reichend: Ein Wandel in der Bewusstseinslage und den Reaktions­weise rief einen vorwiegend sorgenvoll und pessimistisch gestimmten, zu ständiger Klage neigenden Wirtschaftsgeist hervor, soziale Unzufriedenheit und Unruhe wurden chronisch und massenhaft, ideologische Dynamik und Aggressivität nahmen zu. Die erschwerte Steige­rung der nationalen Realeinkommen rief einen unablässigen, oft sehr hitzig werdenden und vielfach mit politischen Mitteln ausgetragenen Streit über ihre Verteilung hervor.[7] Diese Phänomene begünstigten das Klima für einen Aufschwung der noch jungen deutschen Sozial­demokratie.

Den offiziellen Beweggründen des Reichskanzlers Bismarck als hauptsächlichem Ini­tiator nach war das Sozialistengesetz in erster Linie eine konjunkturpolitische Kampfmaßnahme, die die Macht der Agitatoren brechen sollte, welche der Überwindung der Wirtschaftskrise und des Wirtschaftspessimismus im Wege gestanden hätten. Die Sozialdemokraten wurden für die Vertiefung der Depression verantwortlich gemacht. Indem sie Vertrauen untergrabe würde sie Arbeitslosigkeit verewigt und ausgedehnt, Investitionen abgeschreckt, das Kapital zum Ausstand getrieben und eine allgemeine Atmosphäre entmutigender Unbeständigkeit und Ungewissheit geschaffen haben.[8] Die wirtschaftskonjunkturellen Argumente erwiesen sich bei der Überwindung des parlamentarischen Widerstandes gegen das Ausnahmegesetz als durchaus wirksam. Die Sozialdemokratie sowie die Gewerkschafts- und Streikbewegung dienten hierbei gewissermaßen als Sündenböcke für die wirtschaftliche Krise, für die es zu diesem Zeitpunkt noch keine ökonomisch-funktionale Erklärung gab. Eine tiefgreifendere Vereinheitlichung, Zentralisierung und Fusion ihrer Organisationen sollte verhindert werden, da ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ökonomischer Krise und sozialistischer Agitation hergestellt wurde.[9]

In der Realität hatte die von Bismarck anvisierte Behandlung der sozialen Frage vordergründig eine macht- und gesellschaftspolitische Dimension, nur zum weit geringeren Teil eine ökonomische oder moralische. Die in dieser Epoche verfolgte Arbeiterpolitik der „festen Hand“ war mit einem positiven Bekenntnis zu einer grundsätzlichen Sozialreform verbunden.[10] Neben der „negativen“ Maßnahme des Sozialistengesetzes veranlassten ihn die Erfolge der Sozialdemokratie zu Versuchen, der Arbeiterbewegung ihren sozialpolitischen Alleinvertretungsanspruch mittels „positiver“ Gesetzgebung abzusprechen. Das Krankenversicherungsgesetz von 1883 versicherte alle Arbeiter – ausgenommen die Landarbeiter – gegen Krankheit, wobei zwei Drittel der Versicherungsbeiträge vom Arbeitnehmer selbst und ein Drittel vom Unternehmer zu leisten waren. Das 1884 eingeführte Unfallversicherungsgesetz sicherte einem verunglückten Arbeiter Versicherungsschutz zu Lasten des Unternehmers zu. Die Alters- und Invalidenversicherung von 1889 bestimmte die Versicherungspflicht für Arbeiter und untere Beamte, wobei die Hälfte der Beiträge von den Arbeitnehmern aufzubringen war. Zahlungen aus der Altersversicherung wurden allerdings nur ab einem Alter von 70 Jahren und einer Beitragseinzahlung von mindestens 30 Jahren getätigt.[11]

Zweck des Sozialistengesetztes und der Sozialreformen war in der Gesamtheit betrachtet die Durchführung lediglich einen Ziels: In erster Linie sollten die bestehende Machtordnung und ihre Träger vor den politischen Agitatoren der Sozialdemokratie und einem drohenden Umsturz geschützt werden, demgemäß auch die besitzenden Klassen vor aufgewiegelten Arbeitern und die große Masse der Industriearbeiterschaft vor der Beeinflussung durch die „rote Gefahr“ – um letztere gleichzeitig mit materiellen Hilfeleistungen zu besänftigen und vor einer erneuten Stimmenabgabe zugunsten der Sozialdemokraten abzuhalten.[12] Bismarck selbst begründete seine Antriebe punktgenau: „Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren.“[13]

[...]


[1] Bebel, August (vorbereitet von Herrmann, Ursula unter Mitarb. von Henze, Wilfried/Rüdiger, Ruth): Aus meinem Leben, Berlin 1988, S. 183.

[2] Grebing, Helga: Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 1987.

[3] Scherer, Peter: Der Kampf gegen das Sozialistengesetz 1878-1890, Frankfurt/Main 1978.

[4] Rosenberg, Hans: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967.

[5] Ritter, Gerhard A.: Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin u.a. 1980.

[6] Vgl. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 226.

[7] Vgl. ebenda, S. 226f.

[8] Vgl. Bismarck, Otto von (bearb. von Schüßler, Wilhelm): Die gesammelten Werke, Bd. 12: Reden, Berlin 1929, S. 1-15.

[9] Vgl. Grebing, Arbeiterbewegung, S. 70f.

[10] Vgl. Rosenberg, Große Depression, S. 208f.

[11] Vgl. Rovan, Joseph: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/Main 1980, S. 48f.

[12] Vgl. Rosenberg, Große Depression, S. 209.

[13] Bismarcks Rede im Reichstag vom 26.11.1884, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VI. Legislaturperiode, I. Session 1884/88, Bd. 1, Berlin 1885, S. 25.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz - Die Gründe für das paradoxe Erstarken einer politischen und sozialen Bewegung 1878-1890
Université
Dresden Technical University  (Institut für Geschichte)
Cours
Industrialisierung und soziale Frage in Deutschland
Note
1,0
Auteur
Année
2007
Pages
24
N° de catalogue
V83673
ISBN (ebook)
9783638908696
ISBN (Livre)
9783638908771
Taille d'un fichier
461 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sozialdemokratie, Sozialistengesetz, Gründe, Erstarken, Bewegung, Industrialisierung, Frage, Deutschland
Citation du texte
Jens Wittig (Auteur), 2007, Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz - Die Gründe für das paradoxe Erstarken einer politischen und sozialen Bewegung 1878-1890, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83673

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