Die politische Dimension in Aldous Huxleys Werken von Brave New World bis Brave New World Revisited - Die Kritik am totalen Kommunismus


Epreuve d'examen, 2001

78 Pages, Note: 2.0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung
Totaler Kommunismus

II Die Zeit um Brave New World: 1929-1933
1. Brave New World als Totaler Kommunismus
1.1. Philosophischer Hintergrund des Kommunismus
1.2. Umsetzung von EndgultigkeitsverheiBung und Weltanspruch des Kommunismus in Brave New World
1.3. Von der Planwirtschaft zum totalen Kommunismus
2. Figuren als Trager der Systeme
2.1. Die Kommunisten: Bernard Marx und Lenina Crowne
2.2. Die Kapitalisten: Mustapha Mond und die Gottheit Ford
2.3. Die Funktion der Figurenkonstellation in Brave New World
3. Gewalt
4. Vermeintliche Widerspruche zwischen Huxleys Essays und Brave New World
4.1. Kommunistische Planung und demokratisches Chaos
4.2. Politische Ersatzreligionen: Demokratie, Nationalismus, Idealismus
4.3. Pervertierung wissenschaftlichen Fortschritts, Diktatur und Gewalt
4.4. Bewertung

III Die Zeit um Ends and Means: 1934-1945
1. Fortgefuhrte Kritik am totalen Kommunismus - Philosophische Irrtumer
2. Politische Grundfehler
4. Planung
5. Gewalt
6. Vergleich zwischen Nationalsozialismus, Kommunismus und Brave New World
6.1. Parallelen
6.2. Unterschiede
7. Bewertung

IV Die Zeit um Brave New World Revisited: 1946-1963
1. Neues Problem: Uberbevolkerung
2. Durchgehaltene Grundsatze
3. Aufgegebene Prinzipien
4. Bewertung

V Zusammenfassung und Kritik
1. Starken
1.1. Zeitlose Aktualitat
1.2. Zutreffende wissenschaftliche Prognosen
1.3. Zutreffende politische Prognosen
2. Schwachen

VI Fazit

Literaturverzeichnis

I Einleitung

Die rund dreiBig Jahre, die zwischen Aldous Huxleys negativer Utopie Brave New World und seiner eigenen Rezension dieses Werkes, dem Essayband Brave New World Revisited, vergingen, spiegeln annahernd jene Zeit der Weltgeschichte wider, in der sich der Sowjetkommunismus zur weltweiten Supermacht mit zahlreichen kommunistischen Satellitenstaaten entwickelte. Der erstmalige Start von Weltraumsatelliten (Sputnik) in den Jahren 1957/58 markierte den Hohepunkt einer weltweiten Uberlegenheit des kommunistischen Gesellschaftssystems gegenuber den kapitalistischen Demokratien des Westens.

Wahrend dieser Zeit hat Aldous Huxley in vielen seiner fiktionalen und nicht- fiktionalen Werke direkt Bezug auf Entwicklungen und Ereignisse im kommunistischen Russland genommen. Huxleys Beobachtungen und Kritik sind jedoch nicht auf die Ideen und die praktische Umsetzung des Kommunismus russischer Denkart beschrankt, sondern seine Kritik ist von grundsatzlicher philosophischer Natur. Eine fur Huxley typische Vorgehensweise in seinen nicht- fiktionalen systemkritischen Texten ist die Erklarung tatsachlicher geschichtlicher Fehlentwicklungen aufgrund theoretischer Uberlegungen. Daher kommt es sehr haufig vor, dass Huxley seine Kritik, zum Beispiel die an Gesellschaftssystemen, gleichzeitig an mehrere „Adressaten“ (Kommunisten, Faschisten, Nationalisten) richtet.

Da Huxley sich nicht nur darauf beschrankt hat zu kritisieren, sondern, besonders in seinen spateren Werken, selbst eigenstandig immer wieder mogliche Iosungen der Probleme darstellt, ist es notwendig, seine Anmerkungen zu anderen gesellschaftlichen Systemen (Demokratie, Faschismus) in die Analyse mit einzubeziehen. Dies ist auBerdem unerlasslich, weil Huxley im Verlauf der Jahre aufgrund personlicher Erfahrung sowie aufgrund historischer Ereignisse seinen Standpunkt relativiert bzw. andert.

In seinen Analysen ist Huxley um Objektivitat bemuht. Er favorisiert wissenschaftliche Methoden der Problembewaltigung und lehnt das Beharren auf einmal gemachten Standpunkten und damit jeglichen Fanatismus als unwissen- schaftlich ab.

There is as we have seen, a great variety of fanatically entertained opinions regarding the best way of reaching the desired goal. We shall be well advised to consider them all. To exalt any single one of them into an orthodoxy is to commit the fault of oversimplification.[1]

The only large-scale experiments in history have been undertaken by men who had no intention of experimenting - men who were inspired [...] by a fanatical certainty of their own rightness.[2]

My own politics are, by nature a sturdy m’en ficheisme - with acquired sympathies for all creeds - the best system, I take it, for the merely theoretic politician - whose business it is to be universally and sunnily smiling, not ravenously focussed to a point as should be the active politician.[3]

Stattdessen verandert Huxley seine politischen Positionen, insbesondere die zu Kommunismus und Demokratie. Es lassen sich zeitliche Phasen feststellen, die mit wichtigen weltgeschichtlichen Ereignissen korrespondieren, in denen Huxley zum Teil gegensatzliche Ansichten vertritt. Die vorliegende Analyse ist nach diesen Phasen gegliedert.

Totaler Kommunismus

Das Gesellschaftssystem, das Huxley in Brave New World beschreibt, ist von den Gesellschaftssystemen der dreiBiger Jahre nicht vollig losgelost zu betrachten.

Huxley verlegt seinen Zukunftsstaat in dem 1932 veroffentlichen Buch in das Jahr 632 A. F. (= nach Ford): [...] Tendenzen, die Huxley [...] glaubt im gegenwartigen Zeitalter beobachten zu konnen, werden in einen fiktiven Raum hinein verlangert, in dem angeblich - mit Ausnahme einer Indianerreservation in Neu-Mexiko die ganze Menschheit existiert.[4]

Eine von diesen Tendenzen, die Huxley in den dreiBiger Jahren beobachtete und in Brave New World in die Zukunft extrapolierte, ist die der politischen Organisation von Gesellschaften. In der Zeit, als Huxley den Roman verfasste, standen sich die kapitalistischen parlamentarischen Demokratien des Westens, insbesondere England und die USA auf der einen Seite und das kommunistische Russland der beginnenden

Ara Stalins auf der anderen Seite, gegenuber. Der Faschismus hatte zu diesem Zeitpunkt lediglich in Italien FuB gefasst.

Unter den Hauptcharakteren von Brave New World finden sich die Namen der wichtigsten Vertreter des Kommunismus (Marx, Lenin[a], Engels als Nebenfigur) und Vertreter des westlichen Kapitalismus (Mond, Ford). In der Nebenfigur „Benito Hoover“ verbindet Huxley sogar den italienischen Faschismus mit der amerikanischen Demokratie, deren President zu jener Zeit Herbert Hoover war. An den Namen wird deutlich, dass Huxley die Botschaft von Brave New World, soweit es politische Systeme betrifft, an alle in den dreiBiger Jahren aktuellen politischen Organisationsformen richtet.

Diese aktuellen realen politischen Organisationsformen projiziert Huxley in Brave New World mehrere Jahrhunderte in die Zukunft. Am Ende dieser Entwicklung steht eine Gesellschaftsordnung wie die der schonen neuen Welt. Obwohl „Kapitalisten“ an der Spitze der Gesellschaft (Mond) stehen und sogar durch die „Gottheit“ (Ford) der schonen neuen Welt reprasentiert sind, sind die Parallelen zu kommunistischen Ideen deutlich.

Huxley prangert in Brave New World die Gesellschaftsordnung eines „totalen Kommunismus“ an.

Ausgehend von dieser These, Brave New World sei der totale Kommunismus, ergibt sich eine viel grundsatzlichere Kritik Huxleys an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die nicht nur den totalitaren Kommunismus in Russland verurteilt, sondern auch faschistoide, nationalistische und kommunistisch-totalitare Tendenzen in den politisch einflussreichsten Gesellschaften der dreiBiger Jahre bis hin zum weltweiten autoritar-dogmatischen Katholizismus kriti siert. Die Formulierung Jotaler Kommunismus“ im Titel dieser Arbeit soll andeuten, dass die Kritik Huxleys auf keinen Fall auf den gewalttatigen, totalitaren Kommunismus in Russland einzugrenzen ist.

Huxley war davon uberzeugt, dass alle historischen Realisierungen, ahnlich wie jene der schonen neuen Welt, negative Realisierungen waren.

[...] with regard to the roads [...] unanimity and certainty give place to utter confusion, to the clash of contradictory opinions, dogmatically held and acted upon with violence of fanaticism.

There are some who believe [...] that the royal road to a better world is the road of economic reform. For some, the short cut to Utopia is military conquest and the hegemony of one particular nation; for others, it is armed revolution and the dictatorship of a particular class (EM, 1).

Gerade deshalb richtet sich die Kritik in seinen spateren Werken grundsatzlich an alle diejenigen Gesellschaftssysteme, welche die Moglichkeit einer Entwicklung hin zur schonen neuen Welt nicht ausschlieBen oder sogar fordern.

II Die Zeit um Brave New World: 1929-1933

Brave New World wurde im Januar 1932 veroffentlicht. Um die Behauptung Brave New World sei eine negative Zukunftsvision einer totalen kommunistischen Gesellschaft zu belegen, ist es notwendig, die Phase vor der Veroffentlichung - die Schaffensphase - fur dieses Buch zu berucksichtigen. Huxleys Essays, die er wahrend dieser Zeit in verschiedenen Magazinen veroffentlichte, spielen dabei die entscheidende Rolle. Entgegen dem von anderen Autoren festgelegten Entstehungszeitraum (Mai-August 1931) setzt Meckier den Zeitraum, in dem Huxley Brave New World geschrieben habe, wesentlich fruher an.

Few students of utopianism recognize the name J. H. Burns. [His book,] published in London [...] four years before one of the century’s most famous dystopias, [gemeint ist Brave New World] this imaginary convocation deserves remembering for the “Preface” Aldous Huxley contributed. [The preface] amounts to a synopsis of the themes of breeding and education in Brave New World. In an unlikely place, one finds clues to the genesis of Huxley’s most popular novel. [...]

Huxley wrote Brave New World between May and August of 1931. [. ] But the advanced state of development Huxley’s ideas on breeding and education had attained by the 1929 introduction to Burn’s volume suggests that the actual writing may have begun much earlier. Planning for the novel certainly did.[5]

Bei der Analyse von Brave New World sollen auch die Essays berucksichtigt werden, die wahrend der Zeit der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Januar 1933 erschienen sind. Auf diesem Hintergrund wird Huxleys Schaffensphase ausreichend berucksichtigt. Die Zeit des deutschen Nationalsozialismus kann fur diese Phase auBer Acht gelassen werden, weil die Nationalsozialisten erst nach der Machtergreifung 1933 internationale politische Bedeutung erlangten. Hinweise auf den deutschen Nationalsozialismus finden sich in Brave New World nicht - es gibt keine Figur in Huxleys Werk, die Hitler oder Goebbels heiBt.

1. Brave New World als Totaler Kommunismus

1.1. Philosophischer Hintergrund des Kommunismus

Bis zum Zeitpunkt der Veroffentlichung von Brave New World hatte Huxley die Hauptschriften von Karl Marx studiert, wie aus dem Essay Ideals and the Machine Tool vom 28.09. 1931 zu schlieBen ist:

The Marxian theory of history is certainly not true. The course of human development has not been determined exclusively by economic causes (HE, 13, Ideals and the Machine Tool).

Den in dem Essay abgelehnten marxistischen Wirtschafts- und Geschichts- determinismus illustriert Huxley literarisch in Brave New World.

Die Gesellschaft in Brave New World hat die wichtigsten Ziele des marxistischen Kommunismus umgesetzt, die Marx in den Hauptwerken, dem mit Friedrich Engels zusammen verfassten Manifest der kommunistischen Partei (1847) und seiner Wirtschaftsanalyse Das Kapital (1867), dargestellt und begrundet hat.

Fur die Ausgangsthese der Analyse sind vor allem zwei Prinzipien des Marxismus heranzuziehen, wie Walther Theimer sie beschrieben hat:

Die eine zentrale Stellung einnehmende Axiome 3 [, historischer Determinismus,] und 4 [,Dialektik, entstammen] der Metaphysik Hegels.[6]

Aus dem historischen Determinismus - „die Geschichte verlauft gesetzmaBig in einer bestimmten Richtung“ (Der Marxismus, 28) - und dem „Entwicklungsgesetz der Geschichte“ (Der Marxismus, 28), der Dialektik, folgert Marx in Anlehnung an den Philosophen Hegel, dass nach dem Untergang des Kapitalismus notwendigerweise eine Revolution folgen wurde, die den Kommunismus als endgultige Gesellschaftsform hervorbrachte.

Die materialistische Geschichtsauffassung sagt einen Tag voraus, von dem an ihre eigenen Gesetze nicht mehr gelten werden. Das ist der Tag, an dem die klassenlose Gesellschaft erreicht ist. Zu diesem Ziel strebt die Dialektik der Geschichte, nur um sich dann selbst aufzuheben. Dann wird der Mensch nicht mehr gezwungen sein, den wirtschaftlichen Verhaltnissen zu gehorchen; er tut den Sprung „aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“. (Der Marxismus 134)

1.2. Umsetzung von EndgultigkeitsverheiBung und Weltanspruch des Kommunismus in Brave New World

Marx sah die gesamte Menschheitsgeschichte als Geschichte von Klassenkampfen.

(1) Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkampfen.[7]

Mit dem Kommunismus und seiner Planwirtschaft soll nicht nur der Verelendung des Proletariats, sondern jeglicher Verelendung und darauf auch dem Klassenkampf der Boden entzogen werden. Die Geschichte komme an einen Punkt, an dem sie nicht mehr die „Geschichte von Klassenkampfen“ weiterfuhre, sondern stehen bleibe und fur alle Zeiten endgultig wurde. In dieser Annahme liegt ein logischer Widerspruch der kommunistischen Lehre. Solange sich die Geschichte der Menschheit auf dem Weg zum einzigen moglichen Ziel, dem Kommunismus, bewegt, beharrt sie auf dem hegelianischen Geschichtsdeterminismus. Ist der Kommunismus dann erreicht, soll jener Geschichtsdeterminismus auf einmal uberholt sein, der fur die „Vorphase“ - der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte - noch zu Grunde gelegt wurde. Dieser Widerspruch wird nicht reflektiert, sondern lediglich dadurch, dass die klassenlose Gesellschaft das Axiom der geschichtlichen Dialektik aufhebe, nur scheinbar gelost.

In der schonen neuen Welt hat der Kommunismus das Ziel, die Herbeifuhrung einer endgultigen Gesellschaft, ungeachtet dieses nicht aufgelosten Widerspruchs, erreicht:

‘The Nine Years’ War, the great Economic Collapse. There was a choice between World Control and destruction.[8]

Der Krieg begann im Jahr 141 nach Ford[9]. Die Handlung von Brave New World spielt im Jahr 632 nach Ford, “[...] in this year of stability, A. F. [= After Ford] 632” (BNW, 2). Die „Zeitwende“ markiert das Jahr 1908 der herkommlichen Zeitrechnung, als Henry Ford das erste am FlieBband produzierte Auto, das Ford T- Model „Tin-Lizzy“ der Welt prasentierte. Nach der herkommlichen Zeitrechnung spielt Brave New World im Jahr 2540 - im 26. Jahrhundert.

Das nach dem neunjahrigen Krieg geschaffene Gesellschaftssystem ist rund funf Jahrhunderte unverandert geblieben. Von der Konzeption (Stabilitat ist die hochste Maxime[10] ) und bezogen auf das Selbstverstandnis (“History is bunk”[11] - Geschichte ist unsinnig/uberflussig) ist es endgultig entsprechend dem ans Ziel gelangten Kommunismus marxistischer Pragung.

Der Ausloser fur die Installation dieses endgultigen Gesellschaftssystems ist keine Revolution, kein gewalttatiger Umsturz der Regierung durch das Proletariat, so wie Marx es vorausgesehen hatte, sondern der neunjahrige Krieg und ein anschlieBender wirtschaftlicher Zusammenbruch. Die Anspielung auf den ersten Weltkrieg, der 1914 begann, und auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Wahrung in Deutschland[12], der 1923 - 9 Jahre spater - in Europa erhebliche politische Turbulenzen verursachte und die Welt in ein wirtschaftliches Chaos sturzte, ist unverkennbar.

Es gibt noch eine weitere wichtige Parallele zur marxistischen Theorie. Das Regierungssystem und damit das Gesellschaftssystem in der schonen neuen Welt, das aus einem Krieg und dem Zusammenbruch der Wirtschaft hervorgeht, ist weltweit angelegt, entsprechend dem Kommunismus marxistischer Denkart. So heiBt es am Ende des von Marx und Engels verfassten Manifest der kommunistischen Partei: „Proletarier aller Lander vereinigt euch“ (Manifest, 99, kursiv in der Quelle). Die Revolution erfolgt nicht nur national, sondern weltweit und dies fuhrt in der Konsequenz nicht zu einem nationalen, sondern zu einem weltweit einheitlichen kommunistischen Gesellschaftssystem.

Ein Gesellschaftssystem endgultig und weltweit zu konzipieren, darin zeigt sich eine Uberschneidung zwischen der marxistischen Theorie und der Fiktion Brave New World. In Marx’ Lehre, die er lange vor der Entstehung von Huxleys Brave New

World entwickelte, sind die Grundprinzipien (EngultigkeitsverheiBung und Weltherrschaftsanspruch) zentrale Bestandteile dieser Theorie. In Huxleys schoner neuen Welt des 26. Jahrhunderts ist diese Theorie in die historisch-gesellschaftliche Praxis umgesetzt worden. In den Essays aber, die Huxley wahrend der Zeit um Brave New World verfasste und die in einem spateren Kapitel untersucht werden, wird sich zeigen, dass diese beiden Punkte, Weltherrschaftsanspruch und Endgultigkeit, zumindest in der ersten Phase gerade nicht zu Huxleys Kritik am Kommunismus zahlen, sondern dass er von der Wirksamkeit beider Prinzipien fest uberzeugt ist und, im Gegensatz zu der in Brave New World implizierten Kritik, ihre gesellschaftspolitische Umsetzung vehement einfordert.

1.3. Von der Planwirtschaft zum totalen Kommunismus

Zum Kommunismus marxistischer Denkart gehort neben seiner philosophischen und historischen Konzipierung auch eine Volkswirtschaftslehre.[13]

Im Gegensatz zum Kapitalismus, der die Wirtschaft den freien Kraften des Marktes uberlasst, liegt dem Kommunismus ein „geplantes“ Wirtschaftssystem - die Planwirtschaft - zugrunde. In einer kommunistischen Planwirtschaft sind alle Produktionsmittel in zentraler staatlicher Verwaltung. Marx entwickelte das kommunistische Wirtschaftssystem aus den negativen Erfahrungen kapitalistischer Marktgesetze. Die Proletarier, die „Klasse“ der Fabrik- und Landarbeiter, waren wahrend der Industrialisierung im 19. Jahrhundert aufgrund der sich abwarts bewegenden Spirale kapitalistischer Marktgesetze zunehmend verelendet. Der Uberproduktion an Gutern, fur die es nicht mehr genugend Absatzmarkte gab, folgte ein Verfall der Preise, der gleichzeitig einen Verfall der Arbeitslohne nach sich zog. Da die Produktion dauerhaft deutlich uber dem Bedarf lag, kam es im Laufe der Zeit zu einem immer heftigeren Preis- und Lohnverfall. Nur durch die gewaltsame Revolution gegen das uber die Produktionsmittel verfugende Burgertum (Bourgeoisie) konnten, nach Marx’ Ansicht, die Proletarier ihrer eigenen Verelendung Einhalt gebieten. Nach der Revolution solle ein neues kommunistisches Gesellschaftssystem entstehen, das auf einem Wirtschaftssystem basiere, welches die „Fehler“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems von vorneherein ausschließe.

Konkurrenz, Uberproduktion, Preis- und Lohnschwankungen kommen in der kommunistischen Planwirtschaft nicht mehr vor. Marx dachte allein mit Hilfe einer Wirtschaftsreform, die das Privateigentum abschafft und alle Produktionsmittel in die Hande des Staates und damit in die Hande seiner Burger legt, das brennendste Problem - die Verelendung der Massen - zu losen. Das kommunistische Gesellschaftssystem, das Marx vorschwebte, betrachtet den Menschen vor allem hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Relevanz bzw. seiner Arbeitskraft - eine GroBe, mit der Marx rechnet. Fur die Zeit aber, in der der Mensch nicht arbeitet, die „Freizeit“, hatte Marx kein Konzept. An genau diesem Punkt unterscheidet sich die kommunistische Gesellschaft, wie Marx sie entwickelte, von der Huxleys in Brave New World.

Der Kommunismus nach Marx plant vorrangig die wirtschaftlichen Bereiche in der Gesellschaft. Marx’ Kommunismus basiert auf einer Planwirtschaft. Huxley hielt aber Marx’ Theorien fur unzureichend, weil sie die Planung nur auf die Wirtschaft reduzierten.

The Marxian interpretation of history in terms exclusively of economics is without question inadequate; it does not fit all the facts (HE, 153 Psychological Dividends).

Die Gesellschaft in Brave New World ist qualitativ etwas anderes als das, was eine kommunistische Planwirtschaft hervorbringen konnte. Huxley hat die auf wirtschaftliche Bereiche fixierte Theorie von Marx auf samtliche Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt.[14] Fur die negative Utopie Brave New World verlauft diese Ausweitung der Planbarkeit in ihrer radikalsten Variante, die Huxley sich vorstellen konnte. Der Roman Island, in dem Huxley dreiBig Jahre spater (1962) eine positive Variante einer kommunistischen Gesellschaft darstellt, ist ein Beleg dafur, dass Huxley zu keiner Zeit das Ziel der marxistischen Lehre als solches, sondern lediglich mogliche Pervertierungen der Wege zum Ziel anprangern wollte. An eine real umzusetzende positive Option dachte Huxley in den dreiBiger Jahren jedoch noch lange nicht.

Die marxistische Planwirtschaft bezog „nur“ die Arbeitskraft des Menschen in das ubergeordnete System mit ein. In Huxleys schoner neuen Welt werden die Menschen dagegen total vereinnahmt. Nicht nur die Arbeitskraft des Menschen ist eine „eingeplante“ GroBe im System, sondern alle Lebensvollzuge des Menschen vom Zeitpunkt der Zeugung bis zum Tod, jede Stunde wahrend der Arbeit und der Freizeit sind Teil der von auBen gestalteten Planung.

Die totale Vereinnahmung aller Menschen in das System der schonen neuen Welt unterscheidet es vom marxistischen Kommunismus und machen es deshalb zu einem totalen Kommunismus.

Das grundlegende Motto der kommunistischen Planwirtschaft „Alles gehort allen“ bezieht sich bei Marx lediglich auf materielle Dinge, namlich die Produktionsmittel und den Grund und Boden. In der schonen neuen Welt gilt dieses Motto fur den Menschen selbst, worin Huxley eine Fehlentwicklung deutlich machen will. “[...] everyone belongs to everyone else” (BNW, 35). Alle materiellen Dinge, Geld, Privatbesitz, Produktionsmittel und Grund und Boden spielen kaum eine Rolle. Stattdessen wird der Mensch zum materiellen Objekt degradiert - er selbst wird zur „Wahrung“.

Das zeigen die Gesprache zwischen Bernhard Marx und Helmholtz Watson, wenn fur sie die Anzahl der Frauen, die „man hatte“, analog etwa zu Geld und Reichtum in unserer heutigen Gesellschaft, Ansehen und Status einer Person heben und den Neid derjenigen, die weniger haben, provozieren.

‘These women!’ And [Helmholtz] shook his head, he frowned. ‘Too awful.’ Bernard hypocritically agreed, wishing, as he spoke the words, that he could have as many girls as Helmholtz did, and with as little trouble (BNW, 61).

‘And I had six girls last week,’ he confided to Helmholtz Watson. ‘One on Monday, two on Tuesday, two more on Friday, and one on Saturday. And if I’d had the time or the inclination, there were at least a dozen more who were only too anxious...’ (BNW, 141).

Bernhard Marx, der zu Beginn der Handlung ein AuBenseiter der Gesellschaft ist, wird im Bewusstsein der Frauen gleichsam zur Trophae, zum Statussymbol, nachdem er weltweite Beruhmtheit erlangt hat. Seine schlagartige Beliebtheit ist allein auf seine weltweite Beruhmtheit zuruckzufuhren, die er durch das Aufdecken der familiaren Herkunft von John, dem Jungen aus dem Reservat, erlangt hat. Diese Beruhmtheit zahlt sich fur Bernard Marx nicht in Form von Geld, sondern in Form von wechselnden Liebschaften aus, die wiederum sein Ansehen und seinen Status in der Gesellschaft, aber auch sein eigenes Selbstbewusstsein heben.

2. Figuren als Trager der Systeme

Alle wichtigen Protagonisten in Brave New World haben Namen von Personen, die wahrend oder vor der Veroffentlichung des Buches tatsachlich gelebt haben. Mit Ausnahme von Helmholtz Watson und eingeschrankt auch Bernard Marx (Vorname), die als einzige wichtige Charaktere Namen von Forschern[15] des 19. und 20. Jahrhunderts haben und die Wissenschaft reprasentieren, konnen alle anderen Namen mit Tragern wirtschaftlicher bzw. politischer Systeme in Verbindung gebracht werden. Neben Helmholtz Watson und Bernard Marx zahlen zu den fur die Handlung wichtigen Personen: Lenina, Mustapha Mond und die Gottheit der schonen neuen Welt “Our [Henry] Ford”.[16] John und Linda aus dem Indianerreservat sind in diesem Zusammenhang irrelevant.

2.1. Die Kommunisten: Bernard Marx und Lenina Crowne

Mit den Figuren Bernard Marx und Lenina ironisiert Huxley den historischen Karl Marx, den Begrunder des Marxismus/Kommunismus, und Wladimir Iljitsch Lenin, den „russischen revolutionare[n] Staatsmann“[17], der den Leninismus als seine eigene

Interpretation des Marxismus begrundete und Russland nach der gewaltsamen bolschewistischen Revolution von 1918 bis ca. 1922/23 regierte.

An den fiktiven Charakteren der beiden Romanfiguren lasst sich zwar Huxleys Kritik an den historischen Personen belegen, aber nicht auf eine grundsatzliche Ablehnung der kommunistischen Lehre schlieBen. Dabei ist die Kritik an Lenin deutlich starker.

Bernard Marx ist ein Alpha-Plus und deshalb aufgrund der genetischen Konditionierung der Menschen in der schonen neuen Welt schon von vorneherein „intelligenter“ als Lenina, die nur eine Beta-Frau ist. Huxley stufte demzufolge Karl Marx, den studierten Philosophen, intellektuell hoher als den Juristen Lenin ein.

Die Zweifel am gesellschaftlichen System plagen Bernhard Marx und nicht Lenina, die dessen Gedanken nicht versteht und sie deshalb fur ketzerisch und schrecklich halt.

Odd, odd, odd, was Lenina’s verdict on Bernard Marx. [...] Lenina was shocked by his blasphemy. ‘Bernard!’ she protested in a voice of amazed distress. ‘How can you?’ [.] ‘But, Bernard, you’re saying the most awful things.’ [.] ‘I don’t know what you mean’, [Lenina] repeated (BNW, 78ff).

Lenina ist ein perfekt konditioniertes Mitglied der Gesellschaft. Sie stellt keine systemkritischen Uberlegungen an, geschweige denn, dass sie sie auBert. Im Gegenteil, im Gesprach mit Bernard wiederholt sie standig die Phrasen, die ihr durch Konditionierung, Unterricht im Schlaf (“sleep-teaching”) und die sonstige intensive Schulung und Erziehung beigebracht wurden.

‘A gramme in time saves nine’ [...] ‘A gramme is always better than a damn’ [.] ‘After all, everyone works for everyone else’ [...] ‘Everybody is happy nowadays’ (BNW, 80f).

Bernard Marx hat dagegen das System der Versklavung durch Konditionierung und Vereinnahmung in der schonen neuen Welt erkannt. Er weiB, dass er nicht vollkommen frei ist.

‘[Silence] makes me feel as though...[...] as though I were more me, if you see what I mean. More on my own, not so completely a part of something else. Not just a cell in the social body. [.] How is it that I can’t , or rather - because, after all, I know quite well why I can’t - what would it be if I could, if I were free - not enslaved by my conditioning. [.] Wouldn’t you like to be free to be happy in some other way, Lenina? In your own way, for example; not in everybody else’s way’ (BNW, 81f).

Es ist Bernards Idee, das Indianerreservat zu besuchen. Lenina „folgt“ ihm lediglich. In der realen Geschichte „folgte“ Lenin Marx zeitlich und geistig. Analog zur Figur der Lenina in Brave New World hielt Lenin ahnlich verbissen und engstirnig an den „Glaubenssatzen“ einer radikal fundamentalistisch- kommunistischen Gesellschaftslehre fest.

[Die leninistische Schule] erklart alle anderen marxistischen Richtungen fur falsch und verraterisch, eigentlich unmarxistisch; nur der Leninist, d. h. Kommunist, ist der wahre Marxist. [...] Lenin glaubte buchstablich an jedes Wort, das Marx geschrieben hatte. Er gab sich als der orthodoxeste der orthodoxen Marxisten seiner Zeit (Der Marxismus, 167).

Die Lenina der schonen neuen Welt ist jedoch alles andere als eine geistig linientreue Gefolgsfrau von Bernard Marx. Bernard und Lenina haben grundsatzlich verschiedene Standpunkte hinsichtlich der Akzeptanz der schonen neuen Welt. Wahrend Lenina sich wohl fuhlt und vollstandig integriert ist, fristet Bernard Marx ein AuBenseiterdasein und ist gelegentlichen Anfeindungen anderer Gesellschafts- mitglieder ausgesetzt. Mit dieser speziellen Charakterisierung der Personen wollte Huxley zeigen, dass der historische Lenin den historischen Marx ebenso wenig verstanden hat wie sein weibliches fiktionales Gegenstuck Bernard Marx in der schonen neuen Welt versteht. Es zeigt zudem Huxleys Befurchtung, dass ein Philosoph wie Karl Marx sich in einer Welt, die vollkommen auf seinem gedanklichem Theoriegerust basiert, unverstanden fuhlen wurde. Seine vermeintlichen geistigen Gefolgsleute wurden weder ihn verstehen noch er sie. Aufgrund der speziellen Rollenverteilung von Bernard Marx und Lenina ist zu schlieBen, dass Huxley auf diese Weise Lenins fundamentalistisch-dogmatische Interpretation des Marxismus kritisieren wollte.

Die Figur des Bernard Marx dagegen und analog dazu der historische Marx erfahren eine Aufwertung. Die Darstellung von Bernard Marx ist zu diesem Zeitpunkt der Handlung von Brave New World nicht als Kritik zu lesen, denn Bernard Marx steht nicht an der Spitze des Staates und tragt keinerlei Verantwortung fur dessen Verbrechen an den Menschen. Seine Ideen, die gesellschaftskritisch und liberalistisch sind, mochte auBer Helmholtz Watson kein Mitglied der schonen neuen Welt horen.

Der Protagonist Bernard Marx ist zu diesem Zeitpunkt der Handlung der Held, der sich gegen das lebensfeindliche System stellt. Erst als er eine kurze Zeit weltweiten Ruhm genieBt, erliegt er den sexuellen Versuchungen der schonen neuen Welt und vergisst seine systemkritischen Zweifel.

Diese im ersten Teil positive Zeichnung der Figur des Bernard Marx in Brave New World macht Huxleys Sympathien fur den gebildeten Philosophen Marx deutlich. Im Gegensatz dazu erfahrt der fanatisch-„orthodoxe“ Revolutions und gewalttatige Tyrann Lenin in der Figur der Lenina eine Abwertung. Huxley waren die Verhaltnisse in Russland nach der bolschewistischen Revolution bekannt. Den Fanatismus Lenins und seiner Gefolgsleute kritisierte er explizit 1933 in dem Essay Hamlet in Russia:

It is seldom possible to believe with justifiable certainty that any particular hypothesis about [political] matters is correct. [...] Lenin and his lieutenants possessed this certainty and therefore felt no scruples about “liquidation” any institution or person they did not happen to like (HE, 151f, Hamlet in Russia).

2.2. Die Kapitalisten: Mustapha Mond und die „Gottheit“ Ford

Die Figur des Mustapha Mond ist Sir Alfred Mond, dem Besitzer der „Imperial Chemical Industries“ in Billingham in den dreiBiger Jahren nachempfunden[18] und ist im Gegensatz zu Marx und Lenin weniger bekannt. Die „Gottheit“ der schonen neuen Welt - “Our Ford” - ist nicht nur eine Anlehnung an eine reale Person, sondern mit ihr ist der reale Henry Ford, der Erfinder der FlieBbandproduktion und Namensgeber einer weltweit exportierten Automarke gemeint. Die Zeitrechnung in Brave New World bezieht sich allerdings nicht auf sein Geburtsdatum, sondern auf die Prasentation des ersten in seiner Fabrik am FlieBband gefertigten Automobils anno 1908.

Der Protagonist Mond und der zur „Gottheit“ stilisierte historische Ford reprasentieren das System des Kapitalismus, wie er in England (Mond) und den USA (Ford) in den dreiBiger Jahren realisiert wurde. Innerhalb der Handlung nehmen beide eine Sonderstellung ein. Mustapha Mond ist einer von zehn Weltregenten. Die anderen neun spielen in der Handlung jedoch keine Rolle. Wie ein unfehlbarer Papst

verkundet er die einzig wahre Heilslehre im Bewusstsein, dass es auch andere Interpretationen der Wahrheit gibt. Als einziger hat Mustapha Mond freien Zugang zu den Buchern aus der Zeit, bevor die schone neue Welt existierte. Er allein kennt die „ganze Wahrheit“ des Systems und ist sich bewusst, dass den Menschen die Freiheit, tatsachliche Wahrheit von Wissenschaft, Kunst und Religion zu kennen, vorenthalten werden muss, um so die Abwesenheit von Unruhe und Krieg - „Stabilitat“ - und somit „Gluck“ zu gewahrleisten.

‘You’ve got to choose between happiness and what people used to call high art.

We’ve sacrificed high art. [...] [Science is] another item in the cost of stability.

It isn’t only art that’s incompatible with happiness; it’s also science. Science is dangerous; we have to keep it most carefully chained and muzzled. [...] Anything for a quiet life. We’ve gone on controlling ever since [the Nine Years’ war]. It hasn’t been very good for truth, of course. But it’s been very good for happiness’ (BNW, 201ff).

Die apotheotische Uberhohung der Figur des Mustapha Mond als (Henry) Ford spielt zwar als eine Art Meta-Figur auf der Handlungsebene des Romans keine unmittelbar agierende Rolle, ist aber wegen ihrer abgehobenen Stellung als „Gottheit“ von besonderer Relevanz.

2.3. Die Funktion der Figurenkonstellation in Brave New World

In Bezug auf die vier angesprochenen wichtigsten Personen konnen zwei interessante Beobachtungen gemacht werden, die dazu beitragen, Huxleys Intention von Brave New World zu verdeutlichen. Marx und Lenin sind bei der Veroffentlichung von Brave New World bereits lange verstorben. Mond und Ford dagegen sind Zeitgenossen Huxleys. AuBerdem sind die Figuren, die stellvertretend fur die Kommunisten Marx und Lenin stehen, Teil der Gesellschaft. Die Figuren, die den Kapitalismus reprasentieren, sind im Gegensatz dazu nicht Teil der Gesellschaft, sondern sie beherrschen die schone neue Welt wie in der Rolle eines Papstes und seines Gottes.

Folgende Interpretationsansatze verkennen die Besonderheit der Namen und die Anordnung der Figuren in Bezug auf die Systeme, die sie symbolisieren. AuBerdem lassen sie Huxleys Essays, die wahrend der Zeit um Brave New World erschienen, auBer Acht und vergessen, dass Brave New World in erster Linie eine negative Utopie der Zukunft ist und sich nicht auf die damalige historische Situation bezieht.

Equally a denunciation of capitalism and communism, so far as they discourage man from thinking freely, Brave New World is one of the most important books to have been published since the war.[19]

In Brave New World, Huxley contrives to exploit the anxieties of his bourgeois audience about both Soviet Communism and Fordist American capitalism.[20]

Nur weil jeweils Vertreter beider Systeme in Huxleys negativer Utopie auftreten, schlieBen die zitierten Autoren auf eine gleichmaBig verteilte Kritik am (Sowjet-) Kommunismus und (US-) Kapitalismus. Diese Simplifizierung gibt Anlass zur Skepsis. Wie soll es moglich sein, zwei sich diametral gegenuber stehende Polit- und Wirtschaftssysteme in einem fiktionalen Werk gleichermaBen zu kritisieren? Zudem kann Marx, dessen Namen eine zentrale Figur in Brave New World tragt, nicht als Vertreter des historisch realen Kommunismus angesehen werden, weil er nicht mit der historischen sowjetischen Interpretation seiner Theorie identifiziert werden darf. Zudem war er Deutscher und bereits 1883 gestorben, lange vor der Revolution in Russland (1918).

Die Anordnung der Figuren, in der die „Kapitalisten“ die „Kommunisten“ regieren und letztere, sobald sie unbequem werden, wie z. B. Bernard Marx, in die Verbannung treiben, erfordert eine genauere Untersuchung.

In dem Essay Science and Civilisation, der ungefahr zur selben Zeit erschien wie Brave New World (Januar 1932), beschreibt Huxley eine ideale Gesellschaftsordnung aus der Sicht eines Okonomen. Diese „ideale“ Gesellschaft ist ein Abziehbild von Brave New World.

What is the economist’s ideal society? Briefly, it is one where there is the maximum of stability and uniformity. The economist wants stability because, once you set machinery going, it is hopelessly uneconomic to let it stop or run irregularly. Also industrialists and financiers must be able to look forward with confidence; [...] The aim of the economist will be to make the world safe for political economy - to train up a race, not of perfect human beings, but of perfect mass-producers and mass-consumers. One of the things the economist-rulers would be almost bound to do is to suppress science itself. Once stability has been attained, further scientific research could not be allowed. [...] For the economist- ruler, scientific propaganda will seem a heaven-sent instrument. [...] [It] may enable future rulers to do what the mediaeval Popes and Emperors tried but failed to achieve. They may actually succeed in creating a great world-wide community united by common beliefs and aspirations, common wants, tastes and thoughts. It will be a Holy Roman Empire minus the holiness, a Christendom, but without the Christianity [...]. It will be the kingdom of industry and the machine.[21]

Die Ablehnung von Wunschvorstellungen idealer Gesellschaftssysteme durch Okonomen („Konigreich der Industrie und der Maschinen“) wird deutlich, obwohl Sir Alfred Mond und Henry Ford in der Zeit des Entstehens von Brave New World als Vorzeigeokonomen[22] gelten, da ihre Betriebe aufgrund perfekter Planung und moderner Technologie (FlieBband) perfekt - nach Huxleys Ansicht zu perfekt - funktionieren.

In dem Essay Abroad in England schildert Huxley, nachdem er im Fruhjahr 1931 Bergarbeiterstadte in Nordengland besucht hatte, die Auswirkungen von Industrialisierung und Kapitalismus auf die Menschen und Stadtbilder.

[. ] the economic world was a world apart, unrelated to the rest of human life, obeying laws of its own. So long as they were committed in the name of Economics, the most unspeakable atrocities might be countenanced with a clear conscience. [. ] Dead men walking, walking from nowhere in particular to nowhere else, aimlessly and in silence.

I have never seen a ghost [...] but I am sure no ghost could be quite so terrifying as these spectres of flesh and blood who walk the streets of our northern cities (HH, 59f, Abroad in England).

Huxley erschrecken die realen gesellschaftlichen Zustande in den nordenglischen Stadten. Hinzu kommt die aktuelle wirtschaftlich und politisch prekare Lage in Europa, die Huxley Sorgen bereitet.

Brave New World was written during a period of unprecedented instability in modern British politics and at a time when Huxley daily expected the country to sink into bloody disorder (Bradshaw, xii).

By the time Huxley started to write Brave New World, the tremendous political, economic, and philosophical changes taking place in Europe and America contributed to his disillusionment. On the international political scene we have the Bolshevik Revolution in Russia, the dictatorship of Mussolini in Italy, and the

Nazi Party movement in Germany. Huxley had always been concerned about threats to man's freedom and independence. He realized that communism and fascism place the state above the individual and demand total allegiance to a cause. Recognizing the danger, he demonstrated the end result of this tendency in his fantasy.[23]

Nimmt man noch Huxleys grundsatzlich ablehnende, geradezu verabscheuende Einstellung gegenuber Erscheinungsformen kapitalistischer Wirtschaftssysteme (z. B. Borsenspekulation) mit hinzu, ergibt sich eine neue Akzentsetzung der Intention von Brave New World.

“Financial speculation [...] is probably the most pernicious game of chance ever invented” [Huxley] ranks stockbrokers and their clients far below dicers, card players, backers of horses, and buyers of lottery tickets. “Fifty casinos [...] will never do as much harm as a single bourse.”[24]

Nicht die Kommunisten haben die miserablen wirtschaftlichen und sozialen Verhaltnisse zu verantworten, die Huxley taglich das vollige Chaos erwarten lassen, sondern fur Huxley tragen die kapitalistischen Regierungen, die in Brave New World wie in der realen Welt durch die lebenden Zeitgenossen Henry Ford und Sir Alfred „Mustapha“ Mond reprasentiert werden, die Hauptschuld am aktuellen Niedergang. Brave New World ist in erster Linie als eine Warnung Huxleys zu verstehen, wie eine Gesellschaft der (fernen) Zukunft aussehen konnte, wenn Gesellschaftskonzeptionen pervertiert werden. Wiederum ist klar zu erkennen, dass Huxley nicht die Idee des Kommunismus kritisiert, denn Bernard Marx ist gerade nicht der Weltregent, sondern er ist eine von zwei Figuren, die der Gesellschaft der schonen neuen Welt zwar angehoren, aber das schreckliche System in Frage stellen und nach Freiheit rufen.

Der Grundidee des Kommunismus - eine gerechte Gesellschaft zu schaffen - bleibt Huxley treu und halt die Verwirklichung dieser Theorie wahrend des geschichtlichen Zeitraums der Entstehungsphase von Brave New World fur erstrebenswert. Am 3.12. 1932 schreibt er: “Theoretically, the most just system is obviously some form of communism” (HE, 135, The Problems of Property). Er war sich aber gleichzeitig bewusst, dass die kommunistische Idee besonders anfallig war fur eine missbrauchliche Anwendung. Als Tater einer solchen missbrauchliche Anwendung kamen fur Huxley in erster Linie die ihm zeitlich und raumlich naher stehenden Kapitalisten wie Sir Alfred Mond und Henry Ford in Frage. Beide hatten in ihren Betrieben in den dreiBiger Jahren bereits technische Neuerungen bzw. moderne Arbeitswelten geschaffen, die Ansatze von Brave New World zumindest auf Betriebsebene erkennen ließen.

Hier ist zu beachten, dass Brave New World die gefahrliche Symbiose von kommunistischen Ideen und radikaler kapitalistischer Herrschaft im Blick hat. Die Gesellschaft, die von kapitalistischen „Okonomen“ geplant und beherrscht wird, pervertiert dabei kommunistische Prinzipien. Es entsteht der totale Kommunismus.

3. Gewalt

Viele Interpretationen vergleichen Brave New World mit George Orwells Science Fiction Roman 1984. Als ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden negativen Utopien wird die Darstellung von Gewalt gesehen. In Huxleys Brave New World ist der Krieg ein Anachronismus - der letzte liegt uber funf Jahrhunderte zuruck. In 1984 befindet sich die Welt standig im Krieg, um die Wirtschaft in Gang zu halten.

Auf der inneren Ebene der Gesellschaft von 1984 ist der Uberwachungsapparat des Staates standig prasent. Alle Mitglieder der Gesellschaft werden per Videokamera in ihren privaten Zimmern beobachtet und mussen physische Repressalien befurchten, wenn sie sich nicht an die diktierten Vorschriften der Regierung halten.

In Brave New World gibt es keine standig prasenten Uberwachungsinstanzen. Oberflachlich betrachtet scheint die schone neue Welt gewaltfrei zu sein.

Brave New World is a benevolent dictatorship: a static, efficient, totalitarian welfare-state (Pearce, WWW).

The most striking difference between Brave New World and 1984, with which it has so often been compared, is the absence of violence and overt repression.[25]

Insofern staatliche Gewalt als jene „stumpfe“ Gewalt definiert wird, wie sie beispielsweise Lenin ausubte, als er Systemgegner liquidieren lieB, oder wie sie kommunistische Herrscher uberall auf der Welt in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts anwandten, indem sie Panzer und Geheimpolizei gegen das Volk einsetzten und Verbannung und Zuchthaus gegen Dissidenten verhangten, stimmt die Aussage, Brave New World sei ein „wohlwollender, diktatorischer Sozialstaat“ (siehe Pearce).

Es ist jedoch eine abwegige Interpretation, in Brave New World sei eine Welt dargestellt, in der Gewalt nicht vorhanden sei, wie bei Woodcock nachzulesen ist. Eine vollig gewaltfreie Welt ist das unerreichbare - vollig friedliche - Utopia und gerade dies ist Brave New World nicht. In der neueren Sekundarliteratur wird Brave New World richtigerweise mit Dystopie, im englischen mit “dystopia” bezeichnet, was wortlich ubersetzt „negatives Utopia“ oder „Anti-Utopia“ bedeutet. Diesen Begriff verwendet Woodcock 1972 noch nicht, sondern er spricht von der Utopie Brave New World, was darauf schlieBen lasst, dass er Brave New World missverstanden hat, wenn er sie als gewaltfreie Utopie versteht.[26]

Die „stumpfe“ Gewalt, die Woodcock in 1984 konstatiert, aber fur Brave New World ausschlieBt, kommt dennoch in Brave New World zum Vorschein, wenn auch nur am Rande. So kommt zumindest einmal Polizei zum Einsatz. Als John die Verteilung der Glucksdroge „Soma“ behindert, indem er die Pillen aus dem Fenster wirft und damit fur einen allgemeinen Aufruhr sorgt, bespruhen die Polizisten die Menge mit Betaubungsmitteln aus Wasserpistolen.

The policemen pushed him out of the way and got on with their work. Three men with spraying machines buckled to their shoulders pumped thick clouds of soma vapour into the air. Two more were busy round the charged with a powerful anaesthetic, four others had pushed their way into the crowd and were methodically laying out, squirt by squirt, the more ferocious of the fighters (BNW, 195).

Dieser Vorfall fuhrt dazu, dass neben John, Helmholtz und Bernard ebenfalls von der Polizei aufgegriffen und dem Weltregenten Mustapha Mond vorgefuhrt werden. In dem Dialog zwischen Helmholtz und Mond deutet der Weltregent eine „stumpfe“ brutale Gewalt an, die notwendigerweise eingesetzt werden wurde, wenn es nicht so viele Inseln auf der Welt gabe, auf die man „zu sehr interessierte“ Mitglieder der Gesellschaft verbannen konne.

[...]


[1] Huxley, Aldous, Ends and Means, Chatto & Windus, London, 1937, S. 15 (nachfolgend: EM [Seitenzahl])

[2] Sexton, James (Hrsg.), Aldous Huxley’s Hearst Essays, New York und London, 1994, S. 160 (nachfolgend: HE [Seitenzahl, Essaytitel])

[3] Letter to Frances Peterson, Department of Special Collections, University Research Library, University of California at Los Angeles (UCLA), n. d. [early August 1915] zitiert aus Bradshaw, David, “Introduction”, The Hidden Huxley — Contempt and Compassion for the Masses 1920-1936. Ed. David Bradshaw. London: Faber & Faber, 1994, vii-xxvi., S.viii (nachfolgend: Bradshaw [Seitenzahl]).

[4] Erzgraber, Willi, Aldous Huxley: Brave New World. Utopie und Anti-Utopie, Munchen: Fink, 1980, S. 134-162.

[5] Meckier, Jerome, A Neglected Huxley ‘Preface ’: His Earliest Synopsis of Brave New World. Twentieth Century Literature, 25, 1979, S. 1-20

[6] Theimer, Walter, Der Marxismus - Lehre - Wirkung - Kritik, Tubingen, 1985 (nachfolgend: Der Marxismus [Seitenzahl])

[7] Marx, Karl, Manifest der kommunistischen Partei, Wilhelm Fink Verlag, Munchen, 1978, S. 70, nachfolgend (Manifest, [Seitenzahl])

[8] Huxley, Aldous, Brave New World, Flamingo Modern Classic, London, 1994 S. 43 (nachfolgend: BNW [Seitenzahl])

[9] Vgl. BNW S. 42

[10] Vgl. BNW S. 38, “‘Stability. The primal and the ultimate need. Stability. Hence all this.’”

[11] Vgl. BNW S. 30

[12] Der Hohepunkt der Hyperinflation in Deutschland wurde im Sommer 1923 erreicht, vgl. Moller, Dahm, Mehringer, Die todliche Utopie — Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich, Institut fur Zeitgeschichte, Munchen - Berlin, 1999, S. 449

[13] Vgl. Der Marxismus, 12

[14] Huxley bestatigt diese Feststellung in dem Essay Brave New World Revisited Part I 34 Jahre spater: “I was writing a fable about a totally planned Utopia.” Vgl. Huxley, Aldous, Brave New World Revisited Part I in The Sunday Times, 27. Mai 1956.

[15] Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821-1894) war Professor der Physiologie in Konigsberg. Ab 1871 Professor der Physik in Berlin. Er entdeckte 1842 den Ursprung der Nervenfasern aus den Ganglienzellen und mafl 1850 erstmals die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenerregung. Schrieb 1863 Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage fur die Theorie der Musik und wurde durch dieses Werk zum Begrunder der modernen musikalisch-akustischen Forschung. John Broadus Watson (1878-1958) war amerikanischer Psychologe. Von 1908-1920 war er Professor fur experimentelle und vergleichende Psychologie. Von 1921-1946 arbeitete er erfolgreich in der Werbebranche. Watson gilt als Begrunder des Behaviorismus. Watson ubertrug die Methoden seiner rein tierpsychologischen Experimente auf den Menschen. Bekannt wurde sein umstrittenes Konditionierungsexperiment mit „Little Albert“, einem 11 Monate alten Kleinkind, das er gemeinsam mit seiner spateren Frau Rosalie Rayner 1919 durchfuhrte. Claude Bernard (1813-1878) war franzosischer Physiologe. Er war seit 1855 Professor am College de France und Mitglied der Academie des sciences und der Academie frangaise. Er war einer der ersten Physiologen, die experimented forschten. (vgl. Brockhaus Enzyklopadie, Mannheim, 1987-1994, Band 3 S. 160, Band 9 S. 666, Band 23, S. 650) Alle drei Wissenschaftler stehen in Bezug zur Physiologie und Psychologie des Menschen. Der Bezug zu den Figuren des Romans, besonders zur Figur des Helmholtz Watson, der fur die Textgestaltung der „Lehrsatze“ in der schonen neuen Welt verantwortlich ist, ist eindeutig.

[16] Vgl. BNW, S. 21

[17] Brockhaus Enzyklopadie, Band 13, Mannheim, 1990, S. 265

[18] Vgl. Meckier, Jerome, Aldous Huxley: Dystopian Essayist of the 1930s in Utopian Studies: Journal of the Society for Utopian Studies, 7, 1996, S. 204 (nachfolgend Meckier, [Seitenzahl])

[19] Daily Telegraph, zitiert vom Ruckumschlag von Huxley, Aldous, Brave New World, Flamingo Modern Classic, London, 1994

[20] Pearce, David, Brave New World? A Defence Of Paradise-Engineering, BLTC RESEARCH, Brighton, 1998, http://www.huxley.net/ (nachfolgend: Pearce, WWW)

[21] Bradshaw, David, The Hidden Huxley — Contempt and Compassion for the Masses 1920-1936, London, 1994 (nachfolgend: HH, [Seitenzahl, Essaytitel])

[22] Vgl. Sexton, James, “Introduction”, Aldous Huxley’s Hearst Essays, Ed. James Sexton, New York & London: Garland, 1994, xiii-xxiv (nachfolgend: Sexton, [Seitenzahl]): Sexton beschreibt Sir Alfred Mond als den vielleicht beruhmtesten “Rationalisierer” der Industrie

[23] Bureau of Electronic Publishing, Inc. Brave New World - Monarch Notes, 1993, http://www.primenet.com/~matthew/huxley/sub/BNW_MonarchNotes.html

[24] Huxley, Aldous, „Casino and Bourse“, Everyman 22, 1935, S. 525-26 zitiert aus Meckier, Jerome, Aldous Huxley: Dystopian Essayist of the 1930s in Utopian Studies: Journal of the Society for Utopian Studies, 7, 1996, S. 205

[25] Woodcock, George, Dawn and the Darkest Hour - A Study of Aldous Huxley, Faber & Faber, London, 1972, S.178 (nachfolgend: Woodcock, [Seitenzahl])

[26] Vgl. Woodcock, 173f

Fin de l'extrait de 78 pages

Résumé des informations

Titre
Die politische Dimension in Aldous Huxleys Werken von Brave New World bis Brave New World Revisited - Die Kritik am totalen Kommunismus
Université
University of Münster  (Staatliches Prüfungsamt, Münster)
Note
2.0
Auteur
Année
2001
Pages
78
N° de catalogue
V8403
ISBN (ebook)
9783638153805
Taille d'un fichier
683 KB
Langue
allemand
Mots clés
Aldous Huxley, Politik, Kommunismus
Citation du texte
Dominik Arens (Auteur), 2001, Die politische Dimension in Aldous Huxleys Werken von Brave New World bis Brave New World Revisited - Die Kritik am totalen Kommunismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8403

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Die politische Dimension in Aldous Huxleys Werken von Brave New World bis Brave New World Revisited - Die Kritik am totalen Kommunismus



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur