Stellen vielleicht die vom Pardoner vorgebrachten, detailgetreu und in akribischer Kausalität geschilderten eigenen Sünden in ihrer perfekten Grellheit ein Ablenkungsmanöver dar? Die Entrüstung heischenden Schilderungen seiner Habsucht, die keine Grenzen und Skrupel kennt – sie scheinen so bunt, so unzweifelhaft lasterhaft, dass sich die Vermutung aufdrängt, der Pardoner wolle eine ihm selbst und auch im mittelalterlichen Kirchenkontext schwerer wiegende Sünde verbergen. Vieles deutet dabei auf eine uneingestandene oder unterdrückte Homosexualität hin. Dies könnte auch Aufschluss darüber geben, warum der Erzähler im General Prologue ihn nicht einschätzen kann, auch, wenn er die Ambiguität des Pardoners geschlechtlich konnotiert. Die Verworfenheit des Pardoners manifestiert sich aber nicht durch der Sünde der Sodomie; die geradezu überzeichnete Darstellung seiner Habgier könnte derart gelesen werden, dass der Pardoner sich der Schwere seiner verschwiegenen Sünde derart bewusst ist, dass er ein literarisches Ablenkungsmanöver inszeniert.
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Homosexualität im Mittelalter
II.1 Begrifflichkeit und Entwicklung
II.2 Homosexualität im Hoch- und Spätmittelalter
II.3 (Homo)Sexualität als Identitätssdispositiv im 20. und 21. Jahrhundert
III Der Pardoner auf der Suche nach Erlösung
IV Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
I Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht, ob sich der Begriff der Homosexualität auf Chaucers Pardoner, den Ablasskrämer, anwenden lässt. Diese Frage wird vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Canterbury Tales gestellt und ist insofern relevant, als ihr Ergebnis Aufschluss auch über den Grund der stumm-wütenden Reaktion des Pardoners am Ende seiner Erzählung gibt. Jene Reaktion, die auf die groben und diskriminierenden Worte Harry Baillys, des Wirtes, folgt, soll im Folgenden Mittelpunkt der Untersuchung sein.
An den Anfang der Arbeit stelle ich eine eingehendere Analyse des Begriffes der Homosexualität und seines Bedeutungswandels vom Früh- bis zum Spätmittelalter, in dessen Zeitrahmen die Handlung der Canterbury Tales liegt und aus dessen Entwicklung Chaucers eigenes Wissen resultiert.
Dagegen werde ich in Kapitel II.3 die Sichtweise des 20.bis 21.Jh. Foucaults sowie der weitertreibenden Begriffsdifferenzierung Judith Butlers in den literaturtheoretischen Kontext setzen, um damit der Analyse des Pardoners einen möglichst weitgefassten Rahmen zu stecken innerhalb dessen entschieden werden soll, ob und inwiefern eine homosexuelle Neigung existent und ausschlaggebend für seine wütende Reaktion ist.
In Kapitel III gehe ich weiterhin auf die literarische (Selbst)- Darstellung und die Erzählweise des Pardoners ein und werde sie in Zusammenhang mit dem Ende der Erzählung und der gegenseitigen Provokation von Pardoner und Host bringen.
Der folgende Beitrag widmet sich weniger der Problematik seiner (amtlichen) Glaubwürdigkeit noch so sehr der durch ihn selbst vorgebrachten drastischen Darstellungsweise seiner Sündhaftigkeit, sondern wird sich mit dem Komplex seines spirituellen/ theologischen Problems unter besonderer Berücksichtigung seiner nicht der Norm entsprechenden Sexualität auseinandersetzen.
II Homosexualität im Mittelalter
II.1 Begrifflichkeit und Entwicklung
Anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts unternommene Untersuchungen Hubertus Lutterbachs1 lassen sich die Entwicklungen unterschiedlicher Bewertungen von Homosexualität nachvollziehen, die anscheinend keineswegs gradlinig verliefen. So finden wir im frühen Mittelalter homosexuelle Akte unter dem Begriff der Sodomie auf sünderisch gleicher Ebene mit sogenannter Bestialität (Geschlechtsverkehr mit Tieren) sowie mit gegengeschlechtlichem Analverkehr zusammengefasst.2 Das kultisch geprägte Reinheitsdenken der Bußbücher des frühen Mittelalters entspringt der Vorstellung, jeder Mensch sei als imago Dei geschaffen und daher der an Noah ergangenen Mahnung Jahwes verpflichtet: „Ich erforsche euer Blut und ziehe Nachricht von euren Seelen“ (Gen 9,5)3
In der Antike, die zwar bereits über eine breitgefächerte öffentliche Kulturpolitik verfügte, waren die Rechte zum Schutz der Frau gegen konkubinale Beziehungen, die der Mann mit anderen Männern oder Frauen unterhielt, oder auch der Schutz ungeborenen Lebens praktisch inexistent. Durch die Reinheitsgesetze des Frühmittelalters wurden (Ehe-)Frauen zwar sozial besser geschützt, es wurden aber jegliche sexuellen Praktiken als unrein bezeichnet, die nicht unmittelbar einer praktisch möglichen Fortpflanzung diente. Dabei wurde im Falle der Sünde unterschieden zwischen peccata intra naturam und peccata contra naturam – wobei als „Sünde gegen die Natur“ zunächst und am ausführlichsten die der „Selbstbefleckung“ (mollities, pollutio) behandelt wird. Die Schwere ihrer Sündhaftigkeit besteht darin, dass sie neben der Sünde der unerlaubten Geschlechtslust zusätzlich einen Missbrauch der zur Fortpflanzung bestimmten Lebenskräfte vollzieht.
Die göttliche Schöpferordnung begrenzt die fleischliche Einheit von zwei Menschen auf Mann und Frau, die den Geschlechtsverkehr allein um der Zeugung willen ausüben dürfen. Da der gleichgeschlechtliche sexuelle Akt der gottgewollten Zeugung durch ein gegengeschlechtliches Paar in seiner Zeugungsuntauglichkeit zuwider läuft, stellt er eine besonders drastische Form der iniquitas, der pollutio und der fornicatio dar. Diese Sünden werden in manchen Bußbüchern kompromisslos als menschenunwürdig, ja als tierisch eingestuft.5 So liest sich der altkirchliche Konzilsbeschluss von Paris 829 mit seinen Bestrafungen nach dem Titel 15 des Konzils von Ancyra4 folgendermaßen:
„Diejenigen, die sich durch ein irrationales Delikt der Unzucht [ fornicatio ] befleckt haben [ polluere ] , d. h. mit Tieren Geschlechtsverkehr praktiziert [ commiscere ] oder Inzest mit dem Blut des Verwandten begangen oder sich mit Männern befleckt haben [ contaminare ] “6 , sollen folgende Buße erhalten: Wenn sie unter 20 Jahre alt sind und ein derartiges Delikt begangen haben, tun sie 15 Jahre Buße. Wenn sie über 20 Jahre alt sind und Ehefrauen haben und in eine derartige Sünde gefallen sind, tun sie 25 Jahre Buße. Wenn sie jedoch Ehefrauen haben und zum Zeitpunkt der Tat älter als 50 Jahre sind, erhalten sie die Gnade des Lebens in Gemeinschaft erst am Ende ihres Lebens wieder.7
Wenn Jonas von Orléans (818 – 843) sich auf die Delikte bezieht, die er als maximum peccatum bezeichnet, weil sie sich contra naturam8 richteten, erinnert er an das Unheil, das die Stadt Sodom einst traf und das nun auch derjenige heraufbeschwört, der sich dieser Vergehen nicht enthält. Dabei greift er auf die im 3. Buch Mose im Dienste der kultischen Reinheit stehenden Warnungen vor gleichgeschlechtlichem und bestialischem Verhalten zurück (Leviticus 20, 13 ff.) sowie auf Röm 1, 26, 32, um auch anhand neutestamentarischer Traditionen zu zeigen, dass auf denjenigen, der mit Männern oder Tieren sexuell verkehrt, schließlich sein eigenes Blut kommt9. Derjenige, welcher sich der Bekenntnis und der Buße entzieht, wird durch immerwährendes Feuer für ewige Zeiten gestraft10. Trotz aller irdischen Bemühungen des Sünders bleibt bestehen: Dieses Vergehen ragt bei der göttlichen Majestät hervor11.
Im Unterschied dazu differiert das Verständnis von Reinheit und Unreinheit in den sogenannten Hochreligionen Chinas, Persiens, Griechenlands und Israels (ab ca. 800 v. Chr.) von dem des frühmittelalterlichen Klerus in der wesentlichen Unterscheidung, dass dort vor dem Hintergrund der Reinheit des innersten Zentrums des Menschen, nämlich seines Herzens oder seines Gewissens, die physische Verunreinigung – im frühmittelalterlichen Verständnis durch Berührung von körperlichen Absonderungen vollzogen – als sekundär, wenn nicht als bedeutungslos erachtet wird.12
II.2 Homosexualität im Hoch- und Spätmittelalter
„Tatsächlich wirft die Bekanntschaft mit der Literatur der Antike ein äußerst verblüffendes Problem für den Geisteswissenschaftler auf, das den meisten Personen, die unvertraut mit den Klassikern sind, nicht in den Sinn käme: ob die Dichotomie, die durch die Termini »homosexuell« und »heterosexuell« unterstellt wird, überhaupt mit irgendeiner Realität korrespondiert. […] Das Bewusstsein über Gründe der Unterscheidung folgt auf das Verlangen zu unterscheiden. Die Frage, wer »schwarz«, »farbig« oder »Mulatte« ist, beunruhigt nur Gesellschaften, die von rassistischen Vorurteilen beeinträchtigt sind […]. In der antiken Welt kümmerten sich so wenige Menschen darum, ihre Zeitgenossen auf der Basis des Geschlechts zu kategorisieren, zu dem sie sich erotisch hingezogen fühlten, dass keine Dichotomie gebräuchlich war, um diese Unterscheidung auszudrücken.“13
John Boswell sieht in seiner Studie14 eine erwiesene Parallelität des Entwicklungsverlaufes zweier Strömungen zwischen 1100 und 1250: ökonomische, politische und soziale Sicherheiten, florierender Handel, Bevölkerungswachstum, damit einhergehende Urbanisierung und gleichzeitige homosexuelle Subkultur findet sich in zahlreichen literarischen Überlieferungen. Der Topos der Courtly Love, der höfischen Liebe, wird keineswegs nur zwischen gegengeschlechtlichen Partnern literarisch inszeniert, sondern feiert im 12. Jh. ein regelrechtes „rivival“ of love, [that] included gay people and their passions no less than others15.
In England wurden erst 1102 explizite Bestimmungen durch Kirchengesetzgebungen erlassen, die homosexuelle Handlungen als Sünde statuierten. Das Londoner Konzil bestimmte, dass „Sodomie“ künftig als Sünde gebüßt werden müsse – doch Saint Anselm, der Erzbischof von Canterbury, verbot umgehend die Publikation jenes Dekrets mit der Feststellung, [that] this sin has hitherto been so public, that hardly anyone is embarrassed by it, and many have therefore fallen into it because they were unaware of ist seriousness.“16
Laut Boswells Studie ist homosexuell gefärbte Literatur reichhaltig in Manuskripten des 12. Jh. zu finden. Dabei stellt er fest: Attitudes in this literature range from absolute indifference to vituperative hostility, but it is notable tha the latter almost never seems to be prompted by purely religious concern.17
[...]
1 Lutterbach: Sexualität im Mittelalter
2 Die erste Nennung des Wortes homosexual erfolgt 1868 in einem Brief des österreichisch-ungarischen
Schriftstellers Karl Maria Kertbeny. Vgl.: http://de.wikipedia.org/homosexualität (4.09.07)
3 Paenitenziale Oxoniense II 6 (KOTJE 192), zitiert in: Lutterbach, S I M, S. 258, Anm.78
5 Lutterbach, Sexualität im Mittelalter, S.160
4 Conc. Ancyranum (a. 314) 15/ 16, in: Lutterbach, S I M, S. 231, Anm. 73.
6 Jonas von Orléans, Conc. Parisienese (a. 829), zitiert nach: Lutterbach, S I M, S. 231, Anm. 72.
7 Conc. Ancyranum (a. 314) 15/ 16, zitiert nach: Lutterbach, S I M, S. 231, Anm. 73.
8 In: Lutterbach, Anm. 72.
9 Conc. Parisienese (a. 829) 34, in: Lutterbach, S I M, S. 232, Anm. 75.
10 Ebd.
11 Ebd.: Anm. 77.
12 Lutterbach, Gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten im Mittelalter, S. 284, Anm. 11 u.12
13 Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, S. 58 ff., aus:
de.wikipedia.org/wiki/homosexualität (6.09.07)
14 Boswell , Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality
15 Ebd.: S. 209
16 Ebd.: S. 215, Anm. 26
17 Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, S. 235, siehe Anm. 97
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