Soziale Exklusion und Staatsbürgerrechte - Das gegenwärtige Ausgrenzungsproblem in der westeuropäischen Gesellschaft


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

19 Seiten, Note: 2


Leseprobe


INHALT

I. Einführung

II. Wohlfahrtstaat und soziale Staatsbürgerrechte

III. Das Phänomen der sozialen Exklusion

IV. Soziale Exklusion, Staatsbürgerrechte und Demokratie
1. Problematik auf der theoretischen Ebene
Problematik der Staatsbürgerrechte
Problematik des demokratischen Mehrheitsprinzips
Problematik der Demokratie und des Individualismus
Problematik des sozialen Rechtsstaats
Problematik des formalen Rechts
2. Mögliche Krise der bestehenden, demokratischen Gesellschaft
3. Lösungserwägung

Literatur

I. Einführung

Diese Hausarbeit widmet sich dem gegenwärtigen Phänomen der sozialen Ausgrenzung im Zusammenhang mit Staatsbürgerrechten. Seit dem Ende der 80er Jahren haben die Sozialwissenschaftler dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung in den modernen, westlichen Gesellschaften, wie in Frankreich, den USA und später auch Deutschland erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Die zentralen Begriffe bei der Debatte sind „Exklusion“ und „Underclass“. Der erste Begriff wurde zuerst hauptsächlich in der französischen Forschung geprägt. Die Forschung der Exklusion setzt sich gegenwärtig in Europa in bezug auf andere Gesellschaften fort, weil deren soziale Form je nach den einzelnen nationalen Verhältnissen unterschiedlich entwickelt ist. Der zweite Terminus wurde demgegenüber in der amerikanischen Wissenschaft für das Gesellschaftsverhältnis der USA geprägt. Beide Begriffe behandeln gleichwohl das Problem der von der Gesellschaft ausgegrenzten, benachteiligten Sozialen Gruppen und haben in der Forschung viele Gemeinsamkeiten.

Im Zentrum dieser Debatten stehen besonders die Fragen über die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und die drohende Krise der Demokratie. Da dies gegenwärtig ein sehr relevantes Thema für unsere westeuropäische Gesellschaft darstellt, analysiere ich in dieser Hausarbeit das Phänomen und die Entstehungsgeschichte der Exklusion und den Zusammenhang mit dem Aspekt der sozialen Staatsbürgerrechte. Dabei stütze ich mich vor allem auf die Schriften von Martin Kronauer (Da der Rahmen dieser Arbeit begrenzt ist, werde ich auf die speziellen Aspekte der „Underclass“-Debatte nicht eingehen.)

II. Wohlfahrtstaat und soziale Staatsbürgerrechte

Im Zuge der Gesellschaftsrestauration nach dem zweiten Weltkrieg hatten die westlichen Gesellschaften in Europa durch ihre kapitalistische Produktionsweise der neuen Industrialisierung einen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Das ‚Wirtschaftswunder’ bescherte der gesamten Bevölkerung Arbeitsplätze und somit ausreichend finanzielle Mittel. Dementsprechend wurde die Gesellschaft in sozialer Hinsicht nach und nach reicher. Dadurch konnten – der konjunkturellen Situation folgend – die einzelnen Staaten bis in die 70er Jahre hinein mit dem Ausbau von politisch erkämpften sozialen Rechten, die im Staat im Rahmen der Sozialpolitik als soziale Staatsbürgerrechte Anerkennung fanden und wirtschaftlich als tragbar galten, jeweils das aufbauen‚ was uns heute als ‚Wohlfahrtsstaat’ bekannt ist.

Zur Soziologie der Staatsbürgerschaft gibt es eine bekannte Schrift von T.H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Hier analysiert Marshall die Entwicklungsgeschichte von drei Rechten des Staatsbürgers in Großbritannien: das bürgerliche, politische und soziale Recht. Diese Entstehungsanalyse unterliegt zwar im Ursprung den Ideen des englischen Liberalismus Marshalls und ist zur Erklärung der anderen westeuropäischen Gesellschaften nicht unbedingt angemessen. Dennoch spielt sie eine große Rolle in der sozialwissenschaftlichen Forschung der Staatbürgerschaft.

Marshalls Ansatz sei, so B. Turner, die Widersprüchlichkeit zwischen der formalen politischen Gleichheit des Wahlrechts und dem Fortbestehen enormer sozialer und ökonomischer Ungleichheit, die letztlich im Charakter des kapitalistischen Marktes gründete.[1] Laut der Analyse heißt es, dass es in Großbritannien zuerst im 18. Jh. zur Entwicklung bürgerlicher Rechte kam, um Probleme der Redefreiheit, des fairen Gerichtsverfahrens, des gleichen Zugangs zum Rechtssystem unter Anderem zu lösen. Zur Ausdehnung dieser politischen Rechte kam es im 19. Jh. durch Kämpfe der Arbeiterklasse um politische Gleichheit. Es wurden Wahlrechte sowie freier Zugang zu politischen Institutionen formuliert und politische Parteien gebildet. Schließlich entwickelten sich die sozialen Rechte des 20. Jh.s. Ihre Ansatzform war zuerst als humanistisch gerichtetes Mittel zur Minderung des Übels der Armut gedacht. Unter dem für die untere Klasse angestrebten, egalitären Prinzip wurden sie letztendlich zum Teil der Staatsbürgerrechte neben anderen Rechten.[2] Den Staatsbürgern wird demnach soziale Sicherheit in Phasen der Arbeitslosigkeit, Krankheit und Notlage gewährleistet, so dass sie dadurch ihre anderen Rechte wahrnehmen können. Diese rechtlichen Maximen waren historisch stets ein großes Ziel des demokratischen Wohlfahrtstaates.

Diese Entwicklung der Staatsbürgerrechte hat laut Marshall jedoch in der Realität der freidemokratischen Gesellschaft nicht unbedingt zur Verringerung der Ungleichheit der Bürger beigetragen. Vielmehr hat sie eine neue Form der Ungleichheit produziert:

Um die Klassenungleichheit durch soziale Rechte der Staatsbürgerschaft zurückzudrängen und die formale Gleichheit der Bürger so gut wie möglich zu realisieren, war es notwendig, einen möglichst gleichen Status aller Bürger durch Chancengleichheit, vor allem im Zugang zur Bildung, zu erreichen (Es kommt in der freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaft nicht in Frage, das Realeinkommen jedes Einzelnen gleich zu stellen.) Somit sollten zunächst die vererbbaren Privilegien eliminiert werden.

Da die Berufswelt jedoch nach wie vor hierarchisch gegliedert war (und ist), wurde die schulische und berufliche Qualifizierung im Laufe der Zeit immer wichtiger, da sie die künftige, berufliche Rankordnung und das entsprechende Einkommen des Bürgers bestimmte. Die Entwicklung führte also zu einer Leistungswettbewerbssituation der Schule. Die Schulen werden nach „guten“ und „schlechten“ Leistungen der Schüler gestuft. Die Chancengleichheit heißt nunmehr, dass sich die Tür für gute Schulen zwar prinzipiell für jeden öffnet, man aber das dazu nötige kulturelle bzw. geistige Kapital mitbringen muss. Wenn Kinder beispielsweise vom Elternhaus aus mit geringem kulturellem Kapital ausgestattet sind bzw. individuell nur in bestimmten Richtungen begabt sind, die nicht mit schulischen Leistungen vereinbar sind, sind sie benachteiligt.[3] Die Probleme der Einkommens- und Statusungleichheiten verschärfen sich. Marshall selbst gibt die tatsächlich immer vorkommenden, binären Tendenzen zur Statusgleichheit und –ungleichheit offen zu. Er weist auf dieses Problem mit dem Beispiel der Gliederung des Bildungssystems in Volksschulbildung und höhere Bildungswege hin. Während diese Gliederung die unteren Klassen auf die Volksschulbildung beschränkte, reproduzierte sie so die soziale Klassenbildung. Erst mit der Schaffung von Übergängen zwischen den Bildungsstufen gab es eine Tendenz zur Statusgleichheit.[4]

Marshall hielt die Statusgleichheit der Bürger vor dem Gesetz trotz der Einkommensungleichheit angesichts des egalitären Prinzips des gerechten staatsbürgerschaftlichen Ideals für entscheidend.[5] Er vermutete, dass langfristig die Statusungleichheit durch soziale Staatsbürgerrechte immer kleiner wird, und bezeichnete dafür die Hilfe von öffentlichen Institutionen und ihren Maßnahmen als bedeutend.

Marshall leitete diese Vermutung entsprechend seiner Zeit mit der Voraussetzung der Erwerbsarbeit als Pflicht des Bürgers ab – im Gegensatz zu sozialen Rechten. Das Aktionsprogramm - die Chancengleichheit - ist erst mit der für die Bürger gegebenen Möglichkeit der Erwerbsarbeit denkbar. In seiner Zeit gab es im Vergleich zu Heute keinen Mangel an Arbeit. Die Bürger konnten dieser Pflicht im Tausch mit ihren Rechten, die ihrerseits ihr Arbeitsleben unterstützten, nachkommen.

In der Gegenwart tauchte eine neue Problematik der sozialen Staatsbürgerrechte auf. Die seit den 80er Jahren herrschende, neue Beschäftigungskrise führte die entwickelten westlichen Gesellschaften trotz ihrer rechtlichen Aufrüstung als Wohlfahrtstaaten zum Problem der hohen Arbeitslosigkeit und der wachsenden Armut, das in der Aufschwungszeit kaum zu denken gewesen war. Dieser Beschäftigungskrise liegt eine historisch neue Qualität der kapitalistischen Wirtschaftsweise zugrunde. Die Beschäftigungssegmente der herkömmlichen, produzierenden Industrie schrumpften mehr und mehr. Die Entwicklung und der Einsatz modernster Technologien brachten das neue Zeitalter, in dem Maschinenprogramme und Software die Arbeitskraft von Menschen ersetzen. Durch die Globalisierung verstärkt sich die Tendenz, die Produktionsstätten in die dritte Welt zu verlagern, um Ausgaben einzusparen. Für das „Wirtschaftswachstum“ ist dazu noch die Bilanz von Konzernen entscheidend geworden, was ein Ergebnis der im Finanzsektor bestrebten Profitmaximierung ist, während auf die Arbeitsplatzerhaltung der Bürger keine Rücksicht genommen wird. Die Arbeitskraft ist nunmehr nicht nur unnötig, sondern unerwünscht.

Diese Lage führte dazu, dass besonders an- und ungelernte Arbeitsnehmer und Frauen häufig langzeitarbeitslos werden. In vielen westlichen Gesellschaften ist die Arbeitslosigkeit ein großes Problem. Der Wohlfahrtstaat steht dadurch auf einer harten Probe. Denn die Gesellschaft tendiert zugleich zum Phänomen der Exklusion durch die Statusungleichheit zwischen der Gruppe der Langzeitarbeitslosen und der wohlhabenden, arbeitenden Gruppe in der Gesellschaft.

Bezüglich dieser aktuellen Tendenz müsste man die Rolle der sozialen Staatsbürgerrechte neu bewerten. Wie verhält es sich unter diesen Umständen mit den sozialen Rechten als Staatsbürger? In dem nächsten Kapitel III stelle ich die soziale Exklusion als die gegenwärtige, gesellschaftliche Situation dar, um später zur Problematisierung der sozialen Staatsbürgerrechte und der demokratischen Gesellschaft zu kommen (Kap. IV).

[...]


[1] vgl. Turner (2000), S. 231

[2] vgl. Marshall (2000), S. 75

[3] Für Chancengleichheit müssten alle Schüler - unabhängig von individuellen Neigungen und Vorlieben – den gleichen Stoff in gleichem Maße lernen.

[4] vgl. ebd. S. 82f., Kronauer (2002), S. 92

[5] vgl. ebd. S. 82  Marshall schreibt, „In seinem Kern [ des Rechts auf Chancengleichheit des Bürgers] ist das für jeden gleiche Recht, Verschiedenartigkeit oder Ungleichheit zu zeigen und zu entwickeln; das für jeden gleiche Recht, als ungleich anerkannt zu werden.“ ebd. S. 88

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Details

Titel
Soziale Exklusion und Staatsbürgerrechte - Das gegenwärtige Ausgrenzungsproblem in der westeuropäischen Gesellschaft
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltung
Soziologie der Staatsbürgerschaft
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V84565
ISBN (eBook)
9783638008631
Dateigröße
721 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale, Exklusion, Staatsbürgerrechte, Ausgrenzungsproblem, Gesellschaft, Soziologie, Staatsbürgerschaft
Arbeit zitieren
Chise Onuki (Autor:in), 2004, Soziale Exklusion und Staatsbürgerrechte - Das gegenwärtige Ausgrenzungsproblem in der westeuropäischen Gesellschaft , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84565

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