Wahlbeteiligung in Deutschland. Auswirkungen soziokultureller und ökonomischer Faktoren

Am Beispiel der Bundestagswahl 2013


Bachelorarbeit, 2018

70 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

2 Einleitung

3 Literaturdiskussion
3.1 Entwicklung der Wahlbeteiligung in Deutschland
3.2 Einflussfaktoren
3.3 Soziale Lage
3.4 Alter
3.5 Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland

4 Theoretischer Rahmen
4.1 Forschungsansatz
4.2 Alter der Bevölkerung
4.3 Arbeitslosigkeit
4.4 Wohnsituation
4.5 Untersuchungsebene und Untersuchungszeitraum
4.6 Hypothesenbildung

5 Operationalisierung und Analysemethode
5.1 Analyseziel
5.2 Datengrundlage
5.3 Variablen
5.3.1 Abhängige Variable - Wahlbeteiligung
5.3.2 Unabhängige Variablen und Kontrollvariablen
5.4 Analysemethode

6 Empirische Analyse
6.1 Analyse, Ergebnisse und Hypothesentests
6.2 Bedeutung für Forschungsfrage und theoretische Rückanbindung

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

9 Anlagen: Abbildungen/Tabellen

Abstract/Zusammenfassung

Abstract – „Socio-economic conditions and voter turnout“

In this study the research topic is to find out, in what way economic and socio-structural factors affect the voter turnout in Germany. In the process the effects of unemployment, housing situation and age on a spatial level are considered in an analysis of 929 townships in 19 cities. I also tried to find differences in Eastern and Western Germany. The voter turnout of the Bundestag election 2013 is being testet by the use of OLS-regressions the influence and should be explained by the unemployment rate, the amount of detached and semi-detached houses and by two age-sets (50 to 64 years old and minimum 65 years old people) by the use of OLS-regressions. The results show, that unemployment is a negative and the housing development is minimal positive factor in terms of voter turnout. The influence of unemployment has an stronger impact on the voter turnout in Eastern Germany than in Western Germany. There are no significant results for the positive impact of one age classes on the voter turnout.

Zusammenfassung – „Sozioökonomische Bedingungen und Wahlbeteiligung“

Die Arbeit untersucht auf, inwiefern sich ökonomische und soziostrukturelle Faktoren auf die Wahlbeteiligung in Deutschland auswirken. Dabei werden die Effekte der Arbeitslosigkeit, der Wohnsituation und des Alters auf der räumlichen Ebene durch die Analyse von 929 Stadtbezirken in 19 Städten, auch mit Blick auf Ost-West-Unterschiede betrachtet. Dazu wird der Einfluss auf die Wahlbeteiligung zur Bundestagswahl 2013 versucht durch die Arbeitslosenquote, den Anteil der Ein- und Mehrfamilienhäuser sowie den Anteil der Altersgruppen der 50- bis 64-Jährigen und mindestens-65-Jährigen an der Bevölkerung mittels OLS-Regressionen zu erklären. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Arbeitslosigkeit als negativer Einflussfaktor und die Wohnbebauung als positiver Einflussfaktor (wenn auch schwächer als erwartet) bestätigen lassen und in Ostdeutschland ein stärkerer Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die Wahlteilnahme zu erkennen ist. Die beiden Altersfaktoren lassen sich in dieser Arbeit nicht hinsichtlich positiver erwarteter Einflussstärken bestätigen.

1 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungen

Abbildung 1: Wahlbeteiligung (Wahl) - Boxplot

Abbildung 2: Wahlbeteiligung (Wahl) – Histogramm

Abbildung 3: Mittlere Altersgruppe (Alter_1) - Boxplot

Abbildung 4: Ältere Altersgruppe (Alter_2) - Boxplot

Abbildung 5: Arbeitslosenquote (Arbeit) - Boxplot

Abbildung 6: Bivariate Zusammenhänge zwischen der Wahlbeteiligung und den unabhängigen Variablen

Tabellen

Tabelle 1: Variablenliste

Tabelle 2: Variable „Wahlbeteiligung“ (Wahl)

Tabelle 3: Variable „Wahlbeteiligung“ (Wahl) - Konfidenzintervall

Tabelle 4: Variable „Mittlere Altersgruppe“ (Alter_1)

Tabelle 5: Variable „Ältere Altersgruppe “ (Alter_2)

Tabelle 6: Variablen „Mittlere Altersgruppe“ (Alter_1) und „Ältere Altersgruppe“ (Alter_2) in Westdeutschland

Tabelle 7: Variablen „Mittlere Altersgruppe“ (Alter_1) und „Ältere Altersgruppe“ (Alter_2) in Ostdeutschland)

Tabelle 8: Variable „Arbeitslosenquote“ (Arbeit)

Tabelle 9: Variable „Arbeitslosenquote“ (Arbeit) in Westdeutschland

Tabelle 10: Variable „Arbeitslosenquote“ (Arbeit) in Ostdeutschland

Tabelle 11: Variable „Wohnbebauung“ (Wohnen)

Tabelle 12: Korrelationsanalyse Wahlbeteiligung (Wahl) und Arbeitslosenquote (Arbeit)

Tabelle 13: Bivariate Regressionsanalyse – Wahlbeteiligung (Wahl) und Arbeitslosigkeit (Arbeit)

Tabelle 14: Bivariate Regressionsanalyse – Wahlbeteiligung (Wahl) und Wohnbebauung (Wohnen)

Tabelle 15: Bivariate Regressionsanalyse – Wahlbeteiligung (Wahl) und mittlere Altersgruppe (Alter_1)

Tabelle 16: Bivariate Regressionsanalyse – Wahlbeteiligung (Wahl) und ältere Altersgruppe (Alter_2)

Tabelle 17: Modell 1 – Multivariate Regression Wahlbeteiligung (Wahl), Arbeitslosenquote (Arbeit) und Woh nbebauung (Wohnen)

Tabelle 18: Modell 2 – Multivariate Regression Wahlbeteiligung (Wahl), Arbeitslosenquote (Arbeit), mittlere Altersgruppe (Alter_1) und ältere Altersgruppe (Alter_2)

Tabelle 19: Modell 3 – Multivariate Regression Wahlbeteiligung (Wahl), Arbeitslosenquote (Arbeit), Wohnbebauung (Wohnen), mittlere Alter sgruppe (Alter_1) und ältere Alt ersgruppe (Alter_2)

Tabelle 20: Modell 4 – Multivariate Regression Wahlbeteiligung (Wahl), Arbeitslosenquote (Arbeit), Wohnbebauung (Wohnen), ältere Altersgruppe (Alter_2) und Dummy (West_Dummy)

Tabelle 21: Korrelationsmatrix

Tabelle 22: Regressionstabelle für alle Modelle (Modell 1 bis Modell 4)

2 Einleitung

Das Recht seine Volksvertreter in freien Wahlen selbst bestimmen zu dürfen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzenten als eines der wesentlichsten Merk-male in demokratisch aufgebauten Staaten etabliert. Auf vielen Ebenen ist es mittler-weile möglich, auf Personalentscheidungen sowie die Zusammensetzung der Parla-mente, folglich auf die bestimmenden Mehrheiten durch seine Stimmabgaben konkret Einfluss zu nehmen. Neben dem Progress, die Bürger über ihre Vertreter entscheiden lassen zu dürfen, haben sich auch bei der Wahrnehmung des Wahlrechts unterschied-liche Entwicklungen international und in Deutschland beobachten lassen.

Innerhalb der politikwissenschaftlichen Forschung nimmt die Untersuchung von Wahlabsichten und Gründen, sich einer Stimmabgabe zu entziehen, einen festen Platz ein. Vor dem Hintergrund sinkender Wahlbeteiligungen zu öffentlichen Wahlen auf fast allen Systemebenen sowie vermeintlich zunehmender Politikverdrossenheit und sinkenden Interesses am politischen Geschehen (Gabriel/Neller 2010: 101) wird dabei unter anderem untersucht, worauf diese Entwicklungen zurückzuführen sind. Beson-ders die Identifikation und Zuordnung von Nichtwählern zu bestimmten sozialen Mi­lieus und die Zurückführung der Wahlentscheidung auf das direkte Umfeld der Per-sonen stellt einen wesentlichen Bestandteil der Wahlforschung dar. Gehen Personen mit einem höheren Bildungsgrad häufiger zur Wahl? Wie ist der Zusammenhang zwi-schen der Erwerbstätigkeit und der Wahlabsicht? Wirkt sich die Wohnsituation eines Menschen auf den möglichen Urnengang aus?

Mit den historischen Zäsuren der Gründung zweier deutscher Staaten, der Bundesre-publik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik1 im Jahr 1949 so-wie der Wiedereinführung der ostdeutschen Bundesländer im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 liegen zwei zentrale Ereignisse mit Einfluss auf das gesamte gesellschaftliche, aber auch das politische Leben in Deutschland vor. Aus Sicht der politischen Soziologie bietet sich hier die Chance, diese Einflüsse auch im Hinblick auf das Wahlverhalten der Bürger in den „alten“ und „neuen“ Ländern2 zu untersuchen und mögliche Unterschiede näher zu beleuchten. Vor diesem Hinter-grund widme ich mich der folgenden Fragestellung: Welchen Einfluss haben sozio-ökonomische Bedingungen auf die Wahlbeteiligung?

Diese Frage kann anhand meiner Ergebnisse so beantwortet werden, dass es entspre-chende Faktoren gibt, die einen Einfluss auf die Teilnahme beziehungsweise Nicht-teilnahme an einer Wahl haben, aber nicht in Gänze in dieser Arbeit zum Ausdruck kommen. Ebenfalls lässt sich auch in Teilen bestätigen, dass es hierbei auch Unter-schiede zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern gibt. In Ostdeutschland lässt sich beobachten, dass sich der Einfluss der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den alten Bundesländern stärker entfaltet. Für untersuchte Altersfaktoren finden sich keine robusten Ergebnisse.

In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit dem Einfluss ausgewählter sozioökonomi-scher Faktoren, dem Alter der Bevölkerung, der Arbeitslosigkeit und der Wohnsitua-tion, auf die Beteiligung an Wahlen. Dabei werden die einzelnen Stadtbezirke in 19 ausgewählten Städten Deutschlands im Rahmen einer Aggregatdatenanalyse3 unter-sucht. Ich beschränke mich bei dieser Arbeit auf die Untersuchung der Ergebnisse der Bundestagswahl 2013.

Meine Arbeit beginnt mit einem Literaturüberblick zum aktuellen Stand der Wahlfor-schung im Hinblick auf die Themen Wahlbeteiligung, möglicher Einflussfaktoren und Ost-West-Differenzen. Danach werde ich den theoretischen Rahmen, der für diese Forschungsarbeit zu Grunde liegenden Hypothesen näher erläutern. Ebenfalls erkläre ich meine Entscheidung, keine Individualdaten zu verwenden, sondern mich in dieser Arbeit einer Datenanalyse auf der räumlichen Ebene zu widmen. Anschließend gehe ich konkret auf die Operationalisierung und Analysemethode ein, wobei ich mich ex-plizit mit dem Analyseziel, der Datengrundlage und der Variablenauswahl befasse.

Im Anschluss werden die Ergebnisse der empirischen Analyse näher erläutert und ihre Aussagekraft hinsichtlich der zugrundeliegenden Theorie untersucht. Im letzten Ab-schnitt der Arbeit wird ein Fazit über die Resultate gezogen.

3 Literaturdiskussion

Die nachfolgende Literaturdiskussion soll den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Wahlbeteiligung, vor allem unter Bezugnahme der Einflussfaktoren und des diesbezüglichen Ost-West-Kontextes abbilden. Hierbei soll erläutert werden, worauf in der aktuellen Literatur die Gründe für die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an Wah-len zurückgeführt werden, und zudem näher aufgezeigt werden, wieso es relevant er-scheint, sich in dieser Arbeit auf die eingangs erwähnte Art und Weise den dargestell-ten Lücken in der Literatur zu nähern. Zuerst gehe ich allgemeine Entwicklung von Wahlbeteiligungen ein, der eine nähere Betrachtung ausgewählter Faktoren folgt und mit einem Überblick über Ost-West-Beobachtungen abschließt.

3.1 Entwicklung der Wahlbeteiligung in Deutschland

In der politikwissenschaftlichen Wahlforschung und in der allgemeinen Meinungsfor-schung ist neben den Fragen, welche Partei der einzelne Bürger bei einer hypotheti-schen Landtags- oder Bundestagswahl wählen würde und welche Parteien bei der Sonntagsfrage mit welchen Verhältnissen insgesamt dastehen würden, von wachsen-dem Interesse, warum sich Bürger dazu entschließen, keiner Partei oder keinem Kan-didaten ihre Stimme zu geben. So sind in den Sozialwissenschaften allgemeine Be-völkerungsumfragen, wie sie beispielsweise von GESIS4 durchgeführt werden, so be-schaffen, dass sie sowohl Wahlabsichten als auch sehr allgemeine Informationen der Umfrageteilnehmer, wie zum Beispiel der persönlichen sozialen Situation oder der wirtschaftlichen Lage, konkret abfragen und erfassen. Das erlaubt es, unter Berück-sichtigung möglicher falscher Angaben, Verbindungen zwischen den einzelnen Daten, wie den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer Nichtwahl, zu untersuchen und herzustellen.

Zum genaueren Verständnis ist es notwendig, die Entwicklung der Wahlbeteiligungen in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick zu nehmen5. In Westdeutschland lässt sich dabei beobachten, dass nach der ersten Wahl 1949 mit 78,5% bis zur Bundes-tagswahl 1983 eine fast konstante Steigerung zu einer beinahe neunzigprozentigen Beteiligung stattfand, die erst 1987 einen ersten deutlichen Rückgang mit 84,3% ver-zeichnen musste und sich bis zur Wahl 2013 weiter negativ entwickelte. Die durch-schnittliche Beteiligung bei der ersten gesamtdeutschen Wahl6 im Jahr 1990 lag ins-gesamt bei 77,8%, wobei sie im Westen mit 79,1% deutlich über der Wahlbeteiligung im Osten mit 73,9% lag. Bei den Folgewahlen war sowohl in West- als auch in Ost-deutschland, mit Ausnahme der Wahl im Jahr 1998, ein weiterhin konstanter Rück-gang zu verzeichnen, der sich darin äußerte, dass nur noch etwa 64% der Bürger im Osten und 72,2% der Bürger im Westen 2009 zur Wahlurne gingen.

Zu den Landtagswahlen7 in Deutschland lassen sich im Vergleich zu den Wahlen zum Bundestag abweichende Beobachtungen mit deutlich größeren Schwankungen bei den Wahlbeteiligungen in den verschiedenen Bundesländern machen. Während die größte Differenz bei Bundestagswahlen mit 60,5% in Sachsen-Anhalt im Jahr 2009 und 92,2% im Saarland im Jahr 1972 bei knapp über 30% liegt, ist der größte Unter-schied bei Landtagswahlen mit einer Differenz von 51,3% beim Vergleich der Land-tagswahl 1947 im Saarland8 mit 95,7% und der Landtagswahl 2006 in Sachsen-Anhalt mit 44,4% auszumachen. Es ist damit festzuhalten, dass sich sowohl bei Bundestags-als auch bei Landtagswahlen über den Zeitraum von 1946 bis jetzt eine klar negative Entwicklung bei der Wahlbeteiligung in Deutschland vollzogen hat. Nahmen in den Anfangsjahren nach dem Ende des zweiten Weltkriegs noch bis zu 85% der wahlbe-rechtigten Bevölkerung an den Wahlen teil, so fiel dieser Wert nach einem zeitweisen Aufwärtstrend in den 1970er Jahren wieder ab und brach schließlich mit Beginn des letzten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert deutlich ein, sodass aktuell beispielsweise zur Bürgerschaftswahl in Bremen 2015 nur noch die Hälfte der Bürger zu Wahl ging. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in allen Bundesländern bei den Wahlen zu den Landesparlamenten feststellen, wobei auch hier teils deutliche Unterschiede in den Verhältnissen zu nennen sind. So lässt sich zum Beispiel an Hand des Bundesandes Baden-Württemberg beobachten, dass die Beteiligung innerhalb von zwei Wahlzyk-len von 2006 bis 2016 um beinahe 20% variiert und zu den letzten Wahlen jeweils angestiegen ist. Es ist folglich festzuhalten, dass bereits zu Wahlen zwischen den bei-den Systemebenen Land und Bund im Durchschnitt zehn bis zwanzig Prozentpunkte Unterschied zu erkennen sind. Diese Beobachtungen lassen sich ebenfalls für Ge-meinderatswahlen machen, die die großen Unterschiede zu den Bundestagswahlen bestätigen. Die niedrigste Beteiligung ist bei den Europawahlen, demnach den Wah-len zum Europäischen Parlament festzustellen, die im Vergleich zu Bundestagswah-len bis zu 30 Prozentpunkte geringer ausfallen (Vetter/Remer-Bollow 2017: 195).

Diese massiven Unterschiede in der Beteiligung zeigen auf, dass in der Bevölkerung zwischen den Bedeutungen der verschiedenen Systemebenen unterschieden wird, welche sich auf das Interesse und die daraus folgende Wahlentscheidung auswirken. Mit ihrer First- und Second-Order-These kommen Reif und Schmitt zu dem Ergebnis, dass die unterschiedlichen Wahlbeteiligungsquoten auf eine Differenzierung zwi-schen sogenannten Haupt- und Nebenwahlen zurückzuführen sind, die den starken Einfluss auf die Teilnahme erklären (ebd.: 197). Mit dieser Theorie lässt sich die Wahlbeteiligung auf den unterschiedlichen Systemebenen gut erklären, beantwortet jedoch nicht den gleichzeitigen, starken Rückgang seit den 1980er-Jahren, die regio-nalen Unterschiede oder die individuellen Ursachen für die Wahlteilnahme.

3.2 Einflussfaktoren

Die Ursachensuche bei der Frage, warum wir teils sehr geringe Beteiligungen bei öf-fentlichen Wahlen haben, lässt sich nur sehr differenziert ausgestalten. Es kann hier zwischen strukturellen Faktoren, die teils über längere Zeiträume auf den Bürger ein-wirken und mittel- bis langfristig konstant bleiben, und situativen, zeitlich verkürzten Ursachen differenziert werden, die sich auf die Wahlentscheidung des Bürgers aus-wirken (Arzheimer 2016: 71). Gleichzeitig sind Veränderungen der Gesellschaft als Ursache für die unterschiedliche politische Partizipation festzumachen. Nachfolgend versuche ich möglichst umfänglich auf einige Theorien der Wahlforschung hinsicht-lich der Beteiligung zu Wahlen einzugehen, um einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und die vielfältigen Ausprägungen zu zeichnen. Zunächst gehe ich dabei auf mehrere allgemeine Ursachen für den Rückgang der Wahlbeteiligung in Deutschland ein bevor ich mich mit dem Einfluss der sozialen Lage der Menschen als einen Kern der Forschungsarbeit im Detail befasse.

Der gesellschaftliche Wandel ist einer der wesentlichen Faktoren für den Umgang mit politischen Sachverhalten und das gleichzeitige Interesse an politischer Mitbestim-mung durch Wahlen. Mit der Auflösung klassischer Milieus und einer dahingehenden stärkeren Individualisierung der, zuvor stärker homogenen Lebensstile ging seit den 1980ern eine Veränderung der soziologischen Integration vieler Bürger einher. Dar-aus folgern Vetter und Remer-Bollow, dass mit dieser Veränderung der gesellschaft-lichen Gruppen und dem abnehmenden Einfluss bestimmter Organisationsstrukturen wie Vereinen, Parteien und Gewerkschaften auch eine schwächere Identifikation mit Parteienfamilien und Wahlvorschlägen resultiert (2017: 204). So wird beispielsweise die grundlegend abweichende politische Kultur und Bindung an bestimmte Parteien in Ostdeutschland, die aufgrund der anderen Rahmenbedingungen über mehrere Jahr-zehnte vorherrschte, als Ursache für geringere Wahlbeteiligungen in den ostdeutschen Bundesländern angenommen. Arzheimer kann in seiner Analyse zur Bundestagwahl 2013 bestätigen, dass die Befragten, die angeben, eine hohe Parteibindung aufzuwei-sen, auch zu der Gruppe der Bevölkerung zu gehören, die eine starke Ausprägung der Wahlabsicht9 vorzuweisen haben (2016: 78).

Als zweiten Grund für den Rückgang identifizieren Vetter und Remer-Bollow die „Veränderung des politischen Angebots“, die daraus resultieren soll, dass mit dem Rückgang größerer innergesellschaftlicher Konflikte in Deutschland auch eine stetige programmatische Angleichung der Parteien stattgefunden haben soll. Diese hat zur Folge, dass immer mehr Menschen der Meinung sind, dass die Wahlentscheidung ei-nen zunehmend geringen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Politik hat und folglich die Möglichkeit klarer Koalitionswechsel und politisierende Thematiken zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung führen können (2017: 206). Die Polarisierung be-stimmter Themen und die Heraushebung von Konfliktlinien, früher beispielsweise zwischen Arbeit und Kapital, durch die einzelnen Parteien und Kandidaten haben im Rahmen des Wahlkampfes folglich den größten Einfluss auf die mögliche Mobilisie-rung von Wählern, legt auch Roth (2008: 163) dar. Bleibt diese Mobilisierung durch die Parteien aus, so meint Elff, kann dies dazu führen, dass sich nicht nur die Ent-scheidung ändern kann, seine Wahlabsicht hinsichtlich einer bestimmten Partei anzu-passen, sondern auch die Entscheidung folgen kann, seine Stimme bei der Wahl über-haupt nicht abzugeben (2016: 46).

Ebenfalls sind institutionelle Veränderungen als eine Ursache für den Rückgang der Wahlbeteiligung nach Vetter und Remer-Bollow festzumachen. Der Zuwachs an un-terschiedlichen Beteiligungsformen, wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden zieht nach sich, dass der besondere Charakter von Wahlen aufgrund der Quantität zu-nehmend einbüßt. Das System klassischer Wahlen nimmt in Folge der Verstetigung dieser Beteiligungsarten mit Blick auf seine Einzigartigkeit ab, da dabei häufig keine gleich greifbaren Ergebnisse wie bei Bundestagswahlen mit eindeutig interpretierba-ren Ergebnissen, Mehrheiten und gewählten Volksvertretern zu erkennen sind (2017: 206). Weiterhin wird durch diese Vielzahl an Beteiligungsformen auf den unter-schiedlichen Systemebenen und deren institutionellen Bedingungen bei vielen Bür-gern eine Art Anreiz-Denken gefördert, so meint Cabarello, was dazu führt, dass der Nutzen der anstehenden Wahl hinterfragt und die Wahlteilnahme stärker abgewägt wird (2014: 450).

Schließlich wird allgemeine Politikverdrossenheit als relevantes Element genannt, das sich negativ auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Die Unzufriedenheit mit Regierungs-handeln und politischen Parteien ist nach Vetter und Remer-Bollow ein Faktor, der als wichtiger Punkt für eine Nichtwahl benannt werden kann (2017: 6). Diese These der Nichtwählerforschung wird von Arzheimer bestätigt, der durch die Analyse von Vorwahldaten mit der Zufriedenheit mit der Funktionstüchtigkeit der Demokratie ei-nen starken Effekt auf die Wahlabsicht erklären kann (2014: 78).

Vieler dieser angesprochenen Faktoren finden in Untersuchungen der Wahlforschung ihre Bestätigung hinsichtlich ihrer Einflüsse. Mit Blick auf die methodischen Verfah-ren zur Überprüfung einiger dieser Merkmale zeigt sich auf der quantitativen For-schungsebene die Gemeinsamkeit, unter der Verwendung von Individualdaten, und der damit verbundenen Möglichkeit, Merkmalsausprägungen einer Person direkt zu-zuordnen, die Zusammenhänge zu untersuchen und zu beurteilen10. Im nachfolgenden Abschnitt, der sich den Ausprägungen der sozialen Lage mit Blick auf die Beteiligung an Wahlen widmet, werde ich, neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, auch den methodischen Teil näher in den Blick nehmen und somit die spätere Vorgehensweise herleiten, die, im Gegensatz zu den eingangs erläuterten Faktoren, einen Fokus auf die Analyse von Aggregatdaten auf räumlicher Ebene set-zen wird.

3.3 Soziale Lage

Nach dem kurzen Überblick zu einigen Theorien über die Ursachen der steigenden Nichtwahl gehe ich im folgenden Abschnitt auf den aktuellen Stand der Forschung zu den Zusammenhängen zwischen sozioökonomischen Bedingungen und der Wahlteil-nahme ein, der die Grundlage für das Forschungsinteresse und den nachfolgenden Forschungsansatz bilden wird.

Bei der genaueren Untersuchung der Gruppe der Nichtwähler lässt sich erkennen, dass sich hier keine gesamtgesellschaftliche Verteilung über die ganze wahlberechtigte Be-völkerung erkennen lässt. Von dem Problem der Nichtwahl sind nicht alle Bevölke-rungsgruppen und Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen betroffen, was sich darin äußert, dass trotz positiver Entwicklungen durch allgemeine Verbesserung des Bil-dungsniveaus und des Wohlstandsanstiegs eine Selektierung zwischen den eher wohl-habenderen und weniger wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen bestehen bleibt (Van Deth 2009: 154). Es wird davon ausgegangen, dass, sowohl in Deutschland als auch in anderen demokratischen Staaten, ein Zusammenhang zwischen der individuellen Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen und der Wahrscheinlichkeit, an Wahlen teilzu-nehmen, besteht. Je höher die persönliche Ausstattung an Ressourcen, so wird ange-nommen, desto wahrscheinlicher ist es, dass an der Wahl tatsächlich teilgenommen wird. Hierfür finden sich einige Belege, die diese Zusammenhänge mit Hilfe von re-präsentativen Umfragen auf der Individualdatenebene stützen. So haben beispiels-weise Gabriel und Völkl mit der Analyse von Umfragedaten Befunde bestätigt, die die Wahlbeteiligung in einen deutlichen Zusammenhang mit dem Bildungsniveau, dem Einkommen und der Schichtzugehörigkeit der befragten Personen stellen (vgl. Vetter/Remer-Bollow 2017: 216). So wird aufgezeigt, dass je geringer das Einkom-men der Personen ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung an einer Wahl ausfällt. Dies lässt sich ebenfalls für das Bildungsniveau der befragten Personen erkennen, was sich in dem Zusammenhang zwischen niedrigen Bildungsabschlüssen und einer selteneren Wahlbeteiligung äußert.

Korrelationen dieser Art lassen sich durch umfassende Umfragen individueller Daten dahingehend gut darstellen, da jedem Befragten konkret zugeordnet werden kann, wie er finanziell aufgestellt ist, wie seine Wohnsituation und berufliche Situation sind, welche Bildung er erfahren konnte und ob er zur letzten Wahl gegangen ist bezie-hungsweise ob er vor hat, zur nächsten Wahl zu gehen. Hier ist jedoch zu beachten, dass die Angaben der Befragten nur schwer hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes iden-tifizierbar sind. Es wird davon ausgegangen, dass ein gewisser Teil der Nichtwähler, die an solchen Umfragen teilnehmen, bei der Frage nach ihrem letzten Gang zur Wahl-urne, angeben, an der Wahl teilgenommen zu haben, obwohl dies nicht der Fall war (Cabarello 2014: 444). Da ein Abgleich dieser Individualdaten mit den offiziellen Da-ten inklusive einer direkten Zuordnung nicht möglich ist, lässt sich nicht immer nach-prüfen, wie hoch der Anteil der Fehlerquote bei solchen Umfragen einzuordnen ist. Gleichzeitig stellt sich bei solchen Studien das häufige Problem dar, dass nicht alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig in den Umfragen erfasst werden. Die Gruppe der Nichtwähler ist bei der Befragung im Rahmen solcher Qualitätsstudien häufig stark unterrepräsentiert, da sie zu den schwerer erreichbaren Bevölkerungsgruppen zählen und sich gleichzeitig auch seltener an Umfragen dieser Art beteiligen möchten (Abendschön/Roßteutscher 2016: 84). Die Untersuchung von Wählerverhalten wird demnach gerade mit Blick auf Aussagen über das Verhalten von Nichtwählern vor ein Problem gestellt, da signifikante Lücken durch die mangelnde Teilnahme von Nicht-wählern11 entstehen, die die Ergebnisse der Umfragen verzerren können und zusätz-lich aufgrund von, nicht überprüfbaren Falschaussagen weitere Verfälschungen der Resultate möglich sind.

Tingsten formulierte 1975 ebenfalls die These, dass die soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung mit ihrer Höhe in einem Zusammenhang steht (Kaeding et al 2016: 17 f.). Diese These wurde in mehreren Studien der Bertelsmann Stiftung auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht, wobei man ebenfalls zu den Ergebnissen kam, dass die Entscheidung, ob zur Wahl gegangen wird, stark dadurch beeinflusst wird, wie sich die persönlichen Lebensverhältnisse und die Lebensverhältnisse der nächsten Umge-bung ausgestalten. So ist nach der Bertelsmann Stiftung bei dieser Frage nicht nur die eigene soziale Situation entscheidend, sondern die soziale Lage des gesamten gesell-schaftlichen Umfeldes wirkt sich hier auf die betroffene Person aus (ebd.). Je schlech-ter die sozialen Verhältnisse und geringer das allgemeine politische Interesse des Freundes- und Familienkreises einer Person sind, desto größer sollen die Auswirkun-gen auf die Wahlbeteiligung sein.

Nachfolgend werde ich als Grundlage für diese Arbeit wiederholt auf die drei Arbei-ten12 eingehen, die sich explizit mit den Auswirkungen der sozialen Lage auf das Wahlverhalten beschäftigen und zudem den zeitlichen und räumlichen Bezug aufwei-sen. In der Fallstudie in Nordrhein-Westfalen äußert sich dies darin, dass die soziale Lage der Bevölkerung als Ganzes durch die Indikatoren der Höhe der Arbeitslosig-keit, der Wohnverhältnisse, des Bildungsstandes und der Kaufkraft von Haushalten bestimmter Bezirke mit Blick auf die Höhe der Beteiligung zu Wahlen auf verschie-denen Systemebenen in drei Großstädten untersucht wurde (Kaeding et al 2016: 18). Dabei hat sich für diese Einflussfaktoren bestätigen lassen, dass jeweils geringe Ausprägungen für diese Indikatoren, mit Ausnahme der Arbeitslosigkeit13, auch einen negativen Zusammenhang mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme haben. Damit greifen Kaeding et al die Ergebnisse der Studie der Bertelsmann Stif-tung „Prekäre Wahlen“ von Vehrkamp et al auf, die sich auf die Bundestagswahl 2013 und die Messung der sozialen Lage durch Milieueinteilungen, die Arbeitslosigkeit, den Bildungsgrad und die Wohnbebauung in 28 deutschen Städten beschränkt haben und erweitern diese um Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen. In beiden Studien ergeben sich für diese Faktoren sehr ähnliche Bilder, wie zum Beispiel für den stark negativen Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad in einem Stadtteil und der Wahlbeteiligung. Ein sehr ähnliches Muster bestätigt sich bei der Untersuchung der Bundestagwahl 2013 durch Schäfer und Roßteutscher, bei der aufgedeckt wird, dass ein hoher Anteil an Abiturienten in einem Stadtbezirk in vielen Fällen mit höheren Wahlbeteiligungsraten einhergeht (2015: 99).

In allen drei Studien stellt die Arbeitslosigkeit als Leitindikator den zentralen Unter-suchungsgegenstand dar, um die soziale Lage in den Stadtteilen besser zu veranschau-lichen. Es zeigt sich sowohl bei der Untersuchung der einzelnen, für sich genomme-nen Kommunen als auch der kombinierten Analyse aller Stadtteile, dass ein starker, negativer Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und der Beteiligungsquote besteht (Vehrkamp 2013: 22). Laut der Studie der Bertelsmann Stiftung gelten diese signifikanten Ergebnisse in ihrer Wirkrichtung gleichermaßen in den westdeutschen und ostdeutschen Großstädten, jedoch gibt sie keine Auskunft darüber aus, inwiefern sich unterschiedliche Einflussstärken in Ost und West erkennen lassen. Es wird ab-seits der Analyse auf der Ebene der Stadtbezirke darauf eingegangen, dass sich bei der Untersuchung bundesweit repräsentativer Stimmbezirke14 mit Werten von -0,53 für Westdeutschland und -0,47 für Ostdeutschland unterschiedlich stark negative Zu-sammenhänge ergeben (ebd.: 23). Es bleibt in Folge dessen jedoch offen, ob und in welcher Stärke sich diese Beobachtung auf die Ebene der untersuchten Stadtbezirke übertragen lässt und inwiefern mögliche Differenzen zu den repräsentativen Stimmbezirken zu erwarten sind. Grundsätzlich wäre davon auszugehen, dass sich für diese Untersuchungsebene ähnliche Ergebnisse finden lassen würden, was sich an-hand der Ausführungen jedoch nicht bestätigen lässt. Es bietet sich folglich an, diese Lücke bezüglich möglicher Ost-West-Unterschiede zu schließen.

Für den Zusammenhang zwischen den Wohnverhältnissen und der Wahlbeteiligung zeichnet sich jedoch in beiden Studien ein in Teilen differenzierteres Bild. Einerseits zeigt die Studie der Bertelsmann Stiftung, dass die Höhe des Aufkommens bestimmter Bebauungsarten einen deutlich positiven beziehungsweise deutlich negativen Zusam-menhang bestätigen können. Dieser kommt zum Vorschein, wenn die Wahlbeteili-gung in allen Stadtbezirken in seiner Gesamtheit untersucht wird (ebd.: 29). Geht man auf die einzelnen Analysen der Großstädte gesondert ein, ist zu erkennen, dass sich dieser Zusammenhang für zehn der 28 Großstädte nicht in dieser Form bestätigen lässt, in zwei Städten nur schwach ausgeprägt ist und somit nur in sechszehn der 28 Kommunen deutlich belegt werden kann. Dieses Bild, dass die Städte für sich genom-men, in den Untersuchungen nur teilweise oder keinen signifikanten Zusammenhang in dieser Kategorie abbilden, lässt sich in auffälliger Weise für alle Städte im Osten Deutschlands in dieser Studie nicht bestätigen. Auch die Fallstudie in Nordrhein-Westfalen zeigt kein einheitliches Bild für den Zusammenhang zwischen der Bebau-ung eines Stadtteils und der vorherrschenden Wahlbeteiligung. Ist die Erklärungskraft bei Kaeding et al für die Stadt Essen zur Bundestagswahl 2009 noch hochsignifikant, zeigt sich zu Wahlen auf anderen Systemebenen dieser Zusammenhang nur noch schwach oder gar nicht mehr. Diese Ergebnisse beider Forschungsarbeiten, merklich durch die fehlende Erklärungskraft in diversen Städten, die sich wiederum bei der Analyse der Gesamtzahl der Stadtteile nicht zeigt, führt mich dazu, dass hier noch eine weitere Forschungslücke auszumachen ist.

3.4 Alter

Neben der Gruppe der sozial schlechter gestellten Mitglieder der Gesellschaft, die sich vergleichsweise schwach an Wahlen beteiligt, ist die Gruppe der jungen Menschen eine wichtige Größe hinsichtlich geringer Wahlbeteiligungen, wobei zu beachten ist, dass sich hier ebenfalls Schnittmengen zwischen sozial benachteiligten und jungen Menschen finden lassen (Kaeding et al 2016: 20). Es lassen sich enorme Unterschiede bei den Wahlbeteiligungsraten junger Menschen und der Gruppe der über 60-Jährigen bei fast allen öffentlichen Wahlen in Deutschland feststellen. So lag die Differenz bei der Wahlbeteiligung zwischen der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen mit 68,45% und der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen mit 81% zur letzten Bundestagswahl schließlich bei 12,55%15. In Studien, die sich mit der Wahlbeteiligung auf räumlicher Ebene be-schäftigen, wurde das Alter als Einflussfaktor für die Wahlentscheidung jedoch stark vernachlässigt. Sowohl die Fallstudie für Kommunen in Nordrhein-Westfalen von Kaeding et al, die Studie „Prekäre Wahlen“ der Bertelsmann Stiftung als auch die Arbeit von Schäfer und Roßteutscher16, die sich mit soziostrukturellen Einflüssen auf die Wahlbeteiligung in den Stadtteilen beschäftigen, klammern den Aspekt der Al-tersverteilungen komplett aus, womit ein wesentlicher Bestandteil an Informationen über die Stadtteile in den Untersuchungen verloren geht. Die Siedlungsstruktur in vie-len deutschen Großstädten zeigt, dass die Altersverteilungen in den einzelnen Wohn-gebieten sehr stark schwanken kann und zur dies Folge hat, dass sich Stadtteile mit hohen Anteilen junger Menschen finden lassen und wiederrum Stadtteile mit hohen Seniorenquoten in den Städten auszumachen sind17. Zwischen diesen Stadtgebieten wären somit auch unterschiedliche Beteiligungsquoten zu erwarten, die durch räum-liche Analysen ebenfalls abgebildet und untersucht werden könnten. Geht mit einem hohen Anteil an möglichen Erstwählern in einen Stadtteil gleichzeitig eine niedrigere Wahlbeteiligung einher? Sind Zusammenhänge zwischen dem Aufkommen bestimm-ter Altersklassen in manchen Stadtteilen und der Nichtwahl erkennbar? Lassen sich Unterschiede zwischen den Regionen auf dieser Ebene feststellen? Auf diese Fragen finden sich in den erwähnten Analysen keine Antworten. Folglich ergibt sich an dieser Stelle durch das Fehlen entsprechender Analysen zu Alterseinflüssen auf der räumli-chen Ebene eine weitere Literaturlücke in diesem Zweig der Wahlforschung.

3.5 Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland

In Folge der Wiedervereinigung in Deutschland hat sich mit der ersten Wahl eines gesamtdeutschen Bundestages am zweiten Dezember 1990 der Rückgang, der seit den 1980er sinkenden Wahlbeteiligung weiter fortgesetzt. Die Wahlbeteiligung fiel im Vergleich zur Wahl 1987 von 84,3% auf 77,8%, wobei die Wahlbeteiligung in West-deutschland bei 79,1% und in den Bundesländern der ehemaligen DDR bei 73,9% lag. Bei den nachfolgenden Bundestagswahlen sowie den Wahlen auf anderen Systemebe-nen lässt sich, wie bei der Übersicht über die Entwicklung der Wahlbeteiligungen be-reits eingangs dargestellt, beobachten, dass diese Differenz zwischen Ost und West nicht konstant bleibt, sondern im Laufe der folgenden Jahre noch weiter anwächst. Am 22. September 2013 zeichnete sich das Bild wie folgt, dass sich die Beteiligungs-quoten zur Bundestagswahl bei 72,4% im früheren Bundesgebiet und 67,6% in den neuen Ländern mit einem Unterschied von 4,8% darstellen lassen18.

Es gibt verschiedene Thesen, die das Wählerverhalten in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland grundsätzlich miteinander vergleichen und begründen, wie zum Beispiel die Anpassungsthese und die Differenzierungsthese. Erstere geht davon aus, dass sich das Wahlverhalten in Ostdeutschland mit der Zeit an das westdeutsche Wahlverhalten bereits deutlich angepasst, weiter anpassen wird und folglich aktuelle Unterschiede nicht primär durch DDR-Sozialisation sowie Einstellungen begründet werden können. Die Differenzierungsthese hingegen nimmt an, dass es sich auch nach über 20 Jahren nach der Wiedervereinigung um zwei sehr unterschiedliche Elektorate handelt (Kaspar/Falter 2009: 203). Ihre Vertreter meinen, dass trotz Anpassungsef-fekten und der Durchmischung durch Binnenwanderung keine große Veränderung der Ost-West-Unterschiede stattgefunden hat und folglich bestimmte Merkmalsausprä-gungen mit Blick auf die historischen Gegebenheiten untersucht und in Teilen damit bestätigt werden können (ebd.: 205 f.).

Bluck und Kreikenbom gehen davon aus, dass diese Bindungen an (westdeutsche) Parteien, als eine Ursache geringerer Wahlbeteiligung, seitens der ehemaligen DDR-Bürger nicht gänzlich zu verneinen sind, da es auch in der Zeit vor dem Fall der Mauer Diese Daten stammen vom Statistischen Bundesamt (Destatis). die Möglichkeit gab, sich über die Politik und die Parteienlandschaft in der BRD zu informieren. Durch diverse westdeutsche Medien, wie zum Beispiel den Rundfunk, sei es auch diesen Generationen vor der Wiedervereinigung möglich gewesen, „Quasi-Parteibindungen“ an die Westparteien zu entwickeln (vgl. Schmitt 1992: 231). Der negative Einfluss der mangelnden Parteiidentifikation auf die Höhe der Wahlbe-teiligung als Erklärungsfaktor wäre nach Bluck und Kreikenbom entsprechend gerin-ger einzuschätzen. Wie die Studie zur Bundestagswahl 200519 von Kaspar und Falter hingegen zeigt, liegt mit der Parteiidentifikation der Bürger der ehemaligen DDR eine relevante Ursache für die geringere Bereitschaft, zu einer Wahl zu gehen, vor. Als Grund dafür wird genannt, dass in den vier Jahrzehnten, in denen die Deutsche De-mokratische Republik bestand, aufgrund der Erfahrungen mit der SED definitiv eine klar schwächere Bindung an einzelne politische Parteien aufgebaut wurde als es in der BRD der Fall war und somit eine niedrigere Affinität zur Beteiligung an politischen Prozessen nach sich zieht (Kaspar/Falter 2009: 220 f.). Zusätzlich weisen sie auf, dass sich der Anteil der Bürger mit Parteiidentifikation nach der Wiedervereinigung in der BRD unterschiedlich verändert hat. Lag der Anteil der Parteiidentifizierer im Westen zunächst noch bei 70% und im Osten bei 60%, kam es Anfang der 1990er zu einem raschen Abfall in Ostdeutschland, wohingegen im Westen in diesem Jahrzehnt ein eher kontinuierlicher Negativtrend zu beobachten war. In den neuen Bundesländern ist diese konstante, negative Entwicklung im Nachgang des anfänglich raschen Ab-stiegs jedoch nicht zu bestätigen. Hinweise für eine Angleichung zwischen dem Osten und dem Westen in dieser Hinsicht seien bisher noch nicht gefunden wurden (Arzhei-mer/Falter 2002: 15). Folglich besteht zwischen Ost und West hiermit weiterhin ein Unterschied, der einen differenzierten Umgang mit der Wahrnehmung des Wahlrechts vermuten lassen. Es besteht somit ein Interesse, diese Sozialisations- und Identifika-tionsauswirkungen auch empirisch dahingehend zu überprüfen, ob sich westdeutsches und ostdeutsches Wählerverhalten mit Blick darauf unterscheiden lässt. In diesem Zu-sammenhang stünde vor allem die Betrachtung der maßgeblich betroffenen Personengruppen, die von dieser Phase der politischen Sozialisation hauptsächlich be-troffen waren, im Vordergrund des Ost-West-Vergleichs20.

Wie schon zuvor, sei an dieser Stelle nochmals erwähnt, ist mit den einzelnen Gene-rationen ein unterschiedliches Wahlverhalten in Deutschland merklich verbunden. Die Daten zur Bundestagswahl 2013 spiegeln zum Beispiel wieder, dass sich das Wählerverhalten der mindestens 70 Jahre alten Menschen in den neuen Ländern von denen im früheren Bundesgebiet unterscheidet. Dies wird deutlich, wenn man die Wahlbeteiligung mit der Altersgruppe der 60- bis 70-Jährigen in Ost und West ver-gleicht und den deutlich stärkeren Abfall in Ostdeutschland beobachtet. Fällt die Wahlbeteiligung im Westen um 4,6%, so sinkt sie im Osten um ganze 6,4% (Bundes-wahlleiter 2014: 12). Mit der Frage, ob sich diese Unterschiede in West- und Ost-deutschland gleichermaßen finden lassen oder auch weitere Differenzen bestehen, ha-ben sich Kaspar und Falter beschäftigt und bereits eine Entwicklung bei dem Ver-gleich vergangener Bundestagswahlen wahrnehmen können. So zeigt ihre Analyse, dass sich das Merkmal Alter, sowohl bei jüngeren, mittelalten und den älteren Alters-gruppen, bei den Wahlen zum Bundestag 1994 bis 2002 unterschiedlich auf die Nicht-wahl in Ost und West auswirkt, aber zur Bundestagswahl 2005 schließlich verschwun-den ist (Kaspar/Falter 2009: 214). Die in diesem Modell abgebildete Gruppe der älte-ren Wahlbevölkerung umfasst dabei die Bürger im Alter von 50 bis 69 Jahren, die damit einen wesentlichen Teil derer abbilden, die am längsten in der ehemaligen DDR gelebt haben21. Die Daten bilden jedoch einen großen Teil der Bürger mit der Gruppe der Personen, die älter als 69 Jahre sind, nicht ab. Das bedeutet, dass eine der Haupt-gruppen der Menschen, die während des Bestehens der DDR, zeitlich gesehen, gänz-lich durch dieses politische System beeinflusst wurde, keine Beachtung findet. Das bewusste Weglassen dieser Gruppe mag der Ursache geschuldet sein, dass es mittels Umfragen und teilweise auch bei Vor- beziehungsweise Nachwahlbefragungen schwer ist, diese zu erreichen, aber hat zur Folge, dass ein Teil der Seniorenwähler-gruppe bezüglich ihres Wahlverhaltens ignoriert wird. Mit Blick auf diese Lücke und die amtlichen Daten zur Bundestagswahl 2013 bietet es sich deshalb an, unter zu Hil-fenahme amtlicher Statistiken und den Wahlergebnissen, sich dieser Thematik zu nä-hern.

Wie im vorangegangenen Abschnitt zum Zusammenhang der Wohnbebauung und der Wahlbeteiligung erläutert, zeigen sich auch bei den Vergleichen ost- und westdeut-scher Kommunen und deren Stadtteilen, dass Unterschiede existieren zu scheinen. Die Studie der Bertelsmann Stiftung fasst in den einzelnen Stadtberichten zusammen, dass sich in den sieben ostdeutschen Großstädten ein sehr klarer Zusammenhang zeigt, der sich darin äußert, dass in Gebieten mit einem hohen Anteil an Miets- und Hochhäu-sern geringere Wahlbeteiligungen und in Gebieten mit einem hohen Anteil an Ein-und Zweifamilienhäusern höhere Wahlbeteiligungen auszumachen sind (Vehrkamp 2013: 101). Diese Beobachtung lässt sich im Gegenzug nicht für alle Städte in den alten Bundesländern bestätigen. Hier sind in einigen Städten beispielhafte Stadtbe-zirke zu finden, die sehr ähnliche Befunde aufweisen, aber insgesamt lässt sich kein so deutlicher Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung finden.

Seit der Wiedervereinigung waren zwischen den beiden Landesteilen in der BRD teils sehr große Unterschiede bei der Zahl der Erwerbstätigen zu erkennen. Lag die Diffe-renz im Jahr 1990 bei vier Prozent, stieg sie im Jahr 2005 auf über neun Prozent an und liegt derzeit bei 2,1%. Hierbei ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen von beson-derer Bedeutung, da sich gerade in den ostdeutschen Bundesländern vergleichsweise viele darunter befinden (Bundesagentur für Arbeit 2018: 22). Es stellt sich die Frage, ob sich dieser Anteil auf das Wahlverhalten an sich auswirkt und folglich auch in Form von Analysen quantifizierbar ist. Es würde sich daher anbieten, die Arbeitslo-sigkeit und Wahlverhalten auch mit Blick auf einen Ost-West-Vergleich zu untersu-chen.

Die eingehend behandelten Studien der Wahlforschung zeigen auf, dass sich mittels der Aggregatdatenanalyse auf der räumlichen Ebene mehrere benannte, theoretische Ansätze und Zusammenhänge bestätigen lassen, sodass die soziale Lage als Erklä-rungsgrundlage für die Beteiligung an Wahlen gelten kann. Die Literaturdiskussion hat aber ebenfalls herausgestellt, dass sich mehrere Lücken zu den angesprochenen Teilindikatoren, wie der Arbeitslosigkeit, der Wohnsituation und dem Bevölkerungs-alter, auch vor dem Ost-West-Hintergrund, in der Literatur aufmachen.

4 Theoretischer Rahmen

Der im Rahmen der vorangegangenen Literaturdiskussion diskutierte Stand der For-schung hat für mich folgendes Thema ergeben, dem ich mich in dieser Arbeit widmen werde: Welchen Einfluss haben sozioökonomische Bedingungen auf die Wahlbeteili-gung? Im nachfolgenden Abschnitt werde ich den theoretischen Rahmen für die Be-arbeitung dieser Thematik detailliert darstellen, dabei den Wahlforschungsansatz er-klären, die dazugehörigen Argumente und Annahmen benennen sowie die im An­schluss zu überprüfenden Hypothesen bilden.

4.1 Forschungsansatz

In der empirischen Wahlforschung finden verschiedene theoretische Ansätze zur Er-klärung von Wählerverhalten und Wahlergebnissen Anwendung. Neben den wichti-gen, soziologischen und sozialpsychologischen Ansätzen, die jeweils Einstellungen der Menschen oder Gruppenzugehörigkeiten direkt betrachten (Schäfer 2013: 42), sind die Wahlgeographie22 und die Politische Ökologie als theoretische Richtungen innerhalb der Wahlforschung herauszuheben. Diese dienen zur Veranschaulichung und Beschreibung räumlicher Verteilungen von Wahlergebnissen sowie der Erklä-rung, welche Effekte von regionalen Strukturen auf das Wahlverhalten ausgehen (Fal-ter/Winkler 2014: 137). Der auf Rudolf Heberle zurückgehende Ansatz der Politi-schen Ökologie befasst sich dabei überwiegend mit dem Einfluss sozioökonomischer Rahmenbedingungen auf räumlichen Ebenen, wie zum Beispiel der wirtschaftlichen Struktur eines Gebietes oder das Auftreten bestimmter Ethnien in einer Region, hin-sichtlich des Verhaltens von Wählern und Stimmanteilen für bestimmte Parteien in den untersuchten Räumen (ebd.: 138). Neben der Untersuchung politscher Traditio-nen, der Religions- und Sozialstrukturen spielen auch Konjunkturfaktoren wie bei-spielsweise die Höhe der Arbeitslosigkeit als relevante Einflussgröße auf die Wahl von Parteien und die Wahlbeteiligung eine zentrale Rolle beim Ansatz der Politischen Ökologie (ebd.: 148).

Ziel dieses Ansatzes ist es, mit Hilfe von Aggregatdaten für zusammenhängende ter-ritoriale Gebilde, wie zum Beispiel für eine Stadt, einen Stadtteil oder einen Stimm-bezirk, Aussagen über die Wählerschaft treffen zu können. Die Grundlage für die Analysen bilden dabei einerseits keine, aus Umfragen erlangten Daten zu geäußerte Wahlabsichten, wie sie häufig bei Wahlanalysen Anwendung finden, sondern Daten über vergangenes Wahlverhalten aus den jeweiligen Regionen und andererseits zum Beispiel Informationen über die Gesamtverteilungen bestimmter Indizes in dieser Re­gion, die ihrerseits ebenfalls nicht den einzelnen Personen zuordenbar sind. So lassen sich mittels der Analyse von Aggregatdaten schwieriger direkte Zuordnungen be-stimmter Individuen, Gruppen oder Klassen zu eindeutigen Merkmalsverteilungen im jeweiligen Gebiet treffen, aber es ist möglich, zuverlässige Aussagen über das Ver-halten auf dieser räumlichen Ebene im Aggregat zu treffen (Roth 2008: 92). Die bei-spielhafte Aussage, dass Bürger, die einer Glaubensgemeinschaft angehören, eher zur Wahl gehen, da der Anteil derer sowie die Wahlbeteiligung in vielen Wahlbezirken höher als in anderen ist, wäre mit Hilfe von aggregierten Daten nur schwer nachweis-bar. Die Aussage, dass in Wahlbezirken mit einem hohen Anteil an Mitgliedern einer Glaubensgemeinschaft die Wahlbeteiligung höher ausfällt als in Wahlbezirken mit einem geringeren Anteil an Mitgliedern, wäre problemlos möglich zu tätigen, da nur ein Zusammenhang hergestellt, aber nicht behauptet würde, dass genau die Gruppe den Wähleranteil erhöhe.

Bei der Analyse von Aggregatdaten ergibt sich folglich, im Gegenteil zu Umfrageda-ten, nicht die Möglichkeit, die einzelnen Bevölkerungsteile einer Untersuchungsein-heit eindeutig dahin zu identifizieren, ob sie zu der Gruppe der Wähler oder Nicht-wähler bei der untersuchten Wahl gehören oder nicht. Wenngleich aufgrund von fal-schen Angaben es zu Verfälschungen kommen kann, sind mittels Umfragen einzelne Personen und Gruppen aufgrund ihrer eigenen Aussagen einem eindeutigen Wahlverhalten zuordenbar (Schäfer 2013: 43). Gibt der Befragte an, er befände sich in einer bestimmten finanziellen und beruflichen Situation und favorisiere bei der kommenden Bundestagswahl eine bestimmte Partei oder habe sie bei der vergangenen Wahl gewählt, so wäre in diesem Einzelfall eine präzise Aussage über den Befragten möglich zu treffen, was, eine hohe Anzahl vergleichbarer Fälle vorausgesetzt, es er-möglichen würde, eine Aussage über die ganze Gruppe derer zu treffen, die darunter fallen. Die Verwendung von Aggregatdaten lässt Rückschlüsse dieser Art gegenüber bestimmten Individuen, Gruppen oder Klassen aufgrund der fehlenden Zuordenbar-keit der auftretenden Eigenschaften und Charakteristika zu einzelnen Wahlergebnis-sen nicht in dieser Form zu. Generell muss bei dieser Methode darauf geachtet wer-den, dass es bei der Interpretation zu sogenannten ökologischen Fehlschlüssen kom-men kann, da vermeintlich empirisch bestätigte Zusammenhänge nicht problemlos als generelle Einflüsse auf die Individualebene übertragbar sind (Wenzelburger 2014: 17).

Durch die Analyse von Wahldaten kann vermieden werden, dass der Anteil der Wäh-ler und Nichtwähler in der Untersuchung falsch dargestellt wird, wie es im Rahmen von Umfragen nur schwer zu vermeiden ist. Trotz Anonymität fällt es vielen Teilneh-mern von Wahlumfragen oft schwer, sich offen zu einer (geplanten) Nichtwahl ge-genüber den Instituten zu äußern, da die Teilnahme insgesamt von der Gesellschaft als wünschenswert erachtet wird. Damit geht einher, dass der Anteil der Nichtwähler in Umfragen in der Regel geringer ausfällt23 als zu den Wahlen selbst und führt zu dem Problem, dass auch mittels dieser Methode die Nichtwähler nicht klar identifi-zierbar sind (ebd.). Als zusätzliches Problem ergibt sich, dass sich unter den Umfra-geteilnehmern verhältnismäßig mehr Personen beteiligen, die einen höheren Bil-dungserfolg haben, über ein höheres Einkommen verfügen und ein gesteigertes Poli-tikinteresse besitzen als Bürger, die vergleichsweise weniger Ressourcen aufweisen können. Damit verschärft sich das Problem der gleichmäßigen Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen dieser Umfragen, was den abgebildeten Nichtwähleranteil zu-sätzlich reduziert (ebd.). Wie beim Aussagegehalt über die Wahlbeteiligung, ist das Problem möglicher Falschaussagen und ein damit einhergehendes in Mitleidenschaft Zum Phänomen „Overreporting“ siehe Fußnote 10. ziehen der Repräsentativität auch auf andere zu untersuchende Faktoren übertragbar, die bei der Verwendung offizieller Daten nicht zum Tragen kommen. Statistische Er-hebungen auf regionaler Ebene bieten für viele Gemeinden, teilweise auf Stadtteil-und Bezirksebene, aufbereitete Daten über die Bevölkerung in den jeweiligen Gebie-ten, die sich unter anderem über die Bereiche der Altersverteilung, der Konfessions-zugehörigkeiten und der beruflichen Tätigkeiten erstrecken. Jedoch ist auch hier der Nachteil dieser Forschungsmethode gegeben, dass in diesem Untersuchungsgebiet eine Zuordnung einzelner Personen oder einer Gruppe zu einer bestimmten Merk-malsverteilung nicht unmittelbar möglich ist.

Um das Problem der fehlenden Zuordenbarkeit zu minimieren und eine möglichst große Aussagekraft zu entwickeln, greift man bei Aggregatdatenanalysen zu dem Mit-tel, sehr kleine Räume als Untersuchungseinheiten zu wählen, um eine starke Annä-herung an die Individuen innerhalb dieser Untersuchungsebene zu gewährleisten (Roth 2008: 93). Da bei diesen Analysen in der Regel eine Vielzahl an Einheiten un-tersucht werden muss, um die Signifikanz24 zu gewährleisten, kann dies dazu führen, dass sich Unregelmäßigkeiten bei der Größe der Einheiten, zum Beispiel hinsichtlich der Einwohnerzahl eines Stadtbezirkes, der Fläche oder des Zuschnitts des Gebietes, ergeben, was die Vergleichbarkeit aller Einheiten verkompliziert. Ebenfalls kann der Fall eintreten, dass sich Wahlkreise über sehr große Gebiete innerhalb einer Stadt er-strecken, die die kleinteiligen und intern homogeneren Stadtbezirke zu deutlich hete-rogenen Gebieten vereinen, was die Varianz verringert. Es kann daher sinnvoll sein, die notwendigen Daten vorausgesetzt, bei Bundestagswahlen keine Wahlkreise als Ganzes zu untersuchen, sondern die einzelnen Stadtbezirke in den Blick zu nehmen, für die das Wahlverhalten der Anwohner jeweils aggregiert wurde. Dies ermöglicht, Aussagen über kleine räumliche Einheiten zu treffen und deutlich homogenere Ge-biete miteinander zu vergleichen (Schäfer 2012: 245). Je nach Forschungsthema ist es zudem notwendig, die Untersuchungsebene zu erhöhen, da die erwünschten Daten nicht für alle Ebenen verfügbar sind. Werden Informationen zur Arbeitsmarktsituation beispielsweise in einer Gemeinde sogar auf der Bezirksebene erhoben, so sind die gleichen Informationen in anderen Gemeinden nur auf der Stadtteilebene verfügbar, was einen direkten Vergleich nicht möglich machen würde. So hat die Stadt München zum Beispiel seine Informationen über die Wahlbeteiligung zur Bundestagswahl 2013 für die 24 großen Stadtbezirke aggregiert, aber keine Aufstellung für die kleinteilige-ren Stadtbezirksteile zur Verfügung gestellt, für die ansonsten viele Informationen aufbereitet vorliegen25.

Die Verwendung von kleinteiligen Stadtteildaten bringt, im Gegensatz zur Verwen-dung vom Umfragedaten mit großen Datenmengen und einer Vielzahl an abgefragten Merkmalen, das Problem mit sich, dass aufgrund der überschaubareren Anzahl an Variablen, teilweise keine multivariaten Regressionsanalysen durchführbar sind. Das führt dazu, dass Zusammenhänge auf niedrigen Ebenen mittels (bivariater) Korrelati-onsanalysen untersucht werden müssen, was die Gefahr falscher Rückschlüsse durch nicht bedachte Drittvariablen erhöht (Schaefer 2012: 246).

Im Folgenden ist es mein Ziel, mit dem soeben erläuterten Ansatz der Analyse klein-teiliger offizieller Daten auf einer möglichst niedrigschwelligen räumlichen Ebene die Einflüsse sozioökonomischer Bedingungen auf die Wahlbeteiligung zu untersuchen und Zusammenhänge näher zu beleuchten. Zu diesem Zweck fokussiere ich mich auf drei ausgewählte Faktoren, die stellvertretend für die sozioökonomischen Bedingun-gen in den jeweiligen Räumen stehen sollen. Zu diesen drei, zu untersuchenden Fak-toren zählen das Alter der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit und die Wohnsituation. Alle drei Indikatoren stellen in der Wahlforschung wichtige Einflussgrößen dar und sind bereits mittels verschiedener Ansätze auf ihre wechselseitigen Einflüsse unter-sucht worden. Im Folgenden gehe ich auf diese Faktoren näher ein und lege dabei den Fokus auf die bisherigen Untersuchungen der Zusammenhänge durch Aggregatdaten-analysen auf der räumlichen Ebene.

[...]


1 Im folgenden Text werden die Bundesrepublik Deutschland künftig auch mit BRD und die Deutsche Demokratische Republik mit DDR abgekürzt.

2 Zu den neuen Bundesländern sind hier und im Folgenden die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeint. Das Saarland, das erst 1957 als Bundes-land in die Bundesrepublik integriert wurde, fällt nicht unter diese Bezeichnung.

3 Im Rahmen der Wahlforschung bedient man sich bei dieser Form der Analyse üblicherweise des Daten-materials amtlicher Statistiken, die von der öffentlichen Verwaltung erhoben wurden. Hierbei kann sich das Problem ergeben, dass einige wahlsoziologische Merkmale auf den Untersuchungsebenen nicht er-fasst sind, was Rückschlüsse erschweren kann (Schoen 2014: 116).

4 Mit GESIS ist das „Gesis – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften“ gemeint, welches seinen Schwer-punkt auf der Erhebung und Verfügbarmachung von Forschungsdaten hat und unter anderem mittels Um-fragen zu gesellschaftlichen Fragen Informationen für Wissenschaftler erhebt.

5 Die nachfolgenden Daten stammen dem Überblick von Eckhard Jesse (Jesse 2018) und dem Werk von Völkl et al (Völkl et al 2008).

6 Gemeint ist die Bundestagswahl zum 12. Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990, an der auch die Bürger der neuen Bundesländer erstmals abstimmen konnten.

7 Hiermit sind auch Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft, der Bremischen Bürgerschaft und zum Berliner Abgeordnetenhaus gemeint.

8 Damit ist die Wahl zum ersten Saarländischen Landtag am 5. Oktober 1947 gemeint. Zu diesem Zeit-punkt stand das jetzige Bundesland zwar als autonomes Gebiet unter französischer Protektion, aber ich halte es für gerechtfertigt, die dortigen Wahlen ebenfalls hier einzubeziehen.

9 Arzheimer verwendet für seine Arbeit die Daten aus einer GLES-Vorwahlbefragung, die lediglich die Absichtserklärung hinsichtlich der Wahlentscheidung der befragten Personen und somit keine amtlichen Ergebnisse zur Bundestagswahl 2013 beinhaltet.

10 Im Abschnitt 4.1 gehe ich detaillierter auf die Vor- und Nachteile der Individualdatenanalyse und der Aggregatdatenanalyse (auf der räumlichen Ebene) ein.

11 Dieses Phänomen wird auch als „Overreporting“ bezeichnet und erklärt unter anderem die Differenzen, die sich zwischen Wahlumfragen und den tatsächlichen, amtlichen Wahlergebnissen ergeben (Johann 2009: 432).

12 Damit sind die Arbeiten von Schäfer/Roßteutscher (2015), Vehrkampf et al (2013) und Kaeding et al. (2016) gemeint, die unter anderem die Bundestagswahl 2013 mit Analysen auf der räumlichen Ebene un-tersucht haben.

13 Hier ist das Gegenteil der Fall. Eine geringe Arbeitslosigkeit geht in den meisten Fällen mit einer höhe-ren Wahlbeteiligung einher.

14 Mit der Analyse von Stimmbezirken ist es möglich, auch ländlichere Regionen und kleinere Städte zu untersuchen, was bisher nur in Großstädten aufgrund der Datenlage möglich war (Schäfer/Roßteutscher 2015: 110 f.)

15 Diese Daten stammen aus der repräsentativen Wahlstatistik des Statistischen Bundesamtes zur Bundes-tagswahl 2017.

16 Schäfer und Roßteutscher untersuchen ebenfalls die Bundestagswahl 2013 auf der räumlichen Ebene. Dazu werden unter anderem die Daten genutzt, die bereits in der Studie der Bertelsmann Stiftung Anwen-dung fanden.

17 Wenn man beispielsweise die Stadt Rostock betrachtet, liegt für das Jahr 2013 laut Stadtbereichskata-log im Stadtbezirk Warnemünde der Anteil der Menschen im Alter von 64 und mehr Jahren an der Ge-samtbevölkerung 70,6%, wobei der Stadtbezirk der Kröpeliner-Tor-Vorstadt bei 16,1% liegt.

18 Wenn man beispielsweise die Stadt Rostock betrachtet, liegt für das Jahr 2013 laut Stadtbereichskata-log im Stadtbezirk Warnemünde der Anteil der Menschen im Alter von 64 und mehr Jahren an der Ge-samtbevölkerung 70,6%, wobei der Stadtbezirk der Kröpeliner-Tor-Vorstadt bei 16,1% liegt.

19 Kaspar und Falter untersuchen in dieser Arbeit das Wahlverhalten der Bürger in West- und Ostdeutsch-land hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit dem Fokus auf Merkmale wie der Zufrieden-heit mit der Demokratie, der Regierungsleistung und politischem Interesse.

20 Da nicht für Analysen auf der räumlichen Ebene keine geeigneten Daten für die Parteiidentifikation o­der ähnliche Merkmale vorhanden sind, muss an dieser Stelle der Umweg über die, eben erläuterten Al-tersgruppen gegangen werden, mit deren Hilfe versucht wird, sich der Thematik zu nähern.

21 In der Befragung, die als Grundlage für diese Studie dient, wurde zwischen der Herkunft dahingehend differenziert, ob der Befragte in Ost- oder Westdeutschland wohnhaft ist, aber es wurde nicht unterschie-den, ob der Teilnehmer in den alten Bundesländern oder neuen Bundesländern aufgewachsen ist.

22 Im Folgenden werde ich auf die Politische Ökologie näher eingehen, aber den verwandten Ansatz der Wahlgeographie ausklammern, da dieser für diese Arbeit weniger relevant ist. Bei diesem Ansatz geht es mehr darum, zu erklären, warum in bestimmten Regionen und Orten Abweichungen von den zu erwarten-den Werten auftreten, während es bei der Politischen Ökologie mehr um die wechselseitigen Beziehungen zwischen gewissen Einflussgrößen und dem Wahlverhalten an sich geht (Falter/Winkler 2014: 151 f.)

23 Die Signifikanz gibt an, inwiefern die Zufälligkeit eines Ergebnisses zufällig beziehungsweise nicht zufällig ist (Roth 2008: 137 f.).

24 Die Signifikanz gibt an, inwiefern die Zufälligkeit eines Ergebnisses zufällig beziehungsweise nicht zufällig ist (Roth 2008: 137 f.).

25 Die Daten für dieses Beispiel können mit Hilfe des Indikatorenatlases der Stadt München abgerufen werden.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Wahlbeteiligung in Deutschland. Auswirkungen soziokultureller und ökonomischer Faktoren
Untertitel
Am Beispiel der Bundestagswahl 2013
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft)
Note
2,0
Jahr
2018
Seiten
70
Katalognummer
V846753
ISBN (eBook)
9783346218988
ISBN (Buch)
9783346218995
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahlen, Wahlbeteiligung, Sozioökonomische Bedingungen, Seniorenquote, Wohnen, Wahlbezirk, Wahlkreis, Wahllokal
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Wahlbeteiligung in Deutschland. Auswirkungen soziokultureller und ökonomischer Faktoren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/846753

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