Berufsmotive und Amtsführung pakistanischer Abgeordneter


Tesis de Maestría, 2006

151 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Gliederung

1 Einleitung
1.1 Zielsetzung, Fragestellung, Relevanz
1.2 Überblick über den Stand der Literatur

2 Methodische Überlegungen
2.1 Theorie und Operationalisierung
2.2 Methoden der Erhebung und Analyse

3 Das Politische System Pakistans
3.1 Entwicklungslinien und Prägefaktoren
3.2 Pakistan heute
3.3 Das pakistanische Parlament

4 Berufsmotive
4.1 Grundlegende Einstellungen zum System
4.2 Individuelle Motivation und Rekrutierung
4.3 Der ideale Abgeordnete
4.4 Repräsentationsverständnis
4.5 Amtsverständnis
4.6 Parlamentarische Lehrzeiten

5 Amtsführung
5.1 Parlament
5.1.1 Willensbildung
5.1.2 Ausschussarbeit
5.1.3 Plenum
5.1.4 Kritik an der Parlamentsarbeit
5.2 Wahlkreis
5.2.1 Bürgerservice
5.2.2 Sprechstundenpraxis
5.3 Vernetzung
5.3.1 Partei
5.3.2 Andere Abgeordnete
5.3.3 Verbände und vorpolitischer Raum
5.3.4 Medien

6 Kein Wurzelwerk, sondern eine Sanduhr
6.1 Ergebnisse
6.2 Auswertung

7 Bibliographie

8 Anhang
8.1 Interviewleitfaden
8.2 Transkripte
8.3 Postskripte
8.4 Zusammensetzung Parlament
8.5 Abkürzungen

Übersichtsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht

Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt Von einem Blödling, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet.1

Islamische Länder und ihre Politiker stehen im Lichte der Öffentlichkeit. Die Anschläge vom 11. 9. 2001, der Einmarsch in Afghanistan, der Irakkrieg oder der aktuelle Konflikt im Libanon - sie alle lenken das Augenmerk verstärkt auf Staaten des muslimischen Kulturkreises und deren politische Zustände. Demokratisierung der politischen Strukturen ist ein Schlagwort der Debatte, der Aufbau und Erhalt tragfähiger staatlicher Institutionen ein anderes. Freie Wahlen sollen stattfinden und das Volk an politischen Entscheidungen beteiligt werden. Konflikte hingegen hofft man zu vermeiden, indem extremistische Gruppierungen geschwächt werden. Doch über die erlebte Realität des Wirkens der Politiker in diesen Staaten existieren kaum konkrete Studien. Ohne Wissen über die soziale Wirklichkeit dieser politischen Eliten kann jedoch nur schwerlich Verständnis und Verständigung entstehen, stattdessen sind Vorurteilen und Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. Diese Arbeit beschäftigt sich daher mit den politischen Strukturen in einem dieser Länder. Pakistans Abgeordnete der Nationalversammlung sollen selbst zu Wort kommen. Ist ihre Arbeit ein bedeutungsloses Umherstolzieren auf einer Bühne der Pseudodemokratie, während in Wirklichkeit Islamisten und militärische Machthaber die Fäden in der Hand halten? Arbeiten pakistanische Parlamentarier für das Wohl ihres Landes oder sind es nur Komödianten? Ist ihre Tätigkeit mit der ihrer Kollegen in den westlichen Demokratien vergleichbar? Wie erleben sie die staatlichen Strukturen?

Die Arbeit des Volksvertreters in einer Islamischen Republik wird also erforscht. Die Motive, welche seine Tätigkeit bestimmen, werden erfragt, seine Vorstellungen von Repräsentation, sein Arbeitsalltag und die Vernetzung der pakistanischen Abgeordneten mit den Bürgern ihres Landes. Diese und weitere Punkte beleuchtet die hier vorliegende Interviewstudie. Dazu werden Forschungsansätze der Abgeordnetenstudien auf Pakistan übertragen. Dieses Vorgehen ist insofern innovativ, da diese Studien bisher primär in den etablierten Demokratien des Westens stattfanden. Natürlich stellt sich die Frage, weshalb es überhaupt lohnenswert sein mag, sich speziell mit Pakistans politischer Elite zu beschäftigen. Einige Gründe sollen hier aufgeführt werden.

Pakistan hat ein eher schlechtes politisches Image und gilt als eines der problematischen Länder der Welt. Es liegt eingebettet in raue Gebirgsregionen des Hindukusch, Karakorum und Himalaja und des Arabischen Golfs, in einer strategisch bedeutsamen Lage. Pakistan grenzt an Länder wie den Iran, Afghanistan, China und Indien. Mit knapp 150 Millionen Einwohnern gehört es zu den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde. Die Bevölkerung wächst stetig. In mehreren Provinzen bilden sich rasant Megametropolen wie zum Beispiel Karachi und Lahore. In diesen problembeladenen Megacitys lebt ein bedeutender Teil der Einwohner in Slums, können Terroristen ungestört abtauchen und wird kommunale Verwaltung so gut wie unmöglich.

Politisch steht das Land vor vielfältigen Herausforderungen. In der Vergangenheit wechselten sich Phasen demokratischer Regierungen in Pakistan immer wieder mit Militärregierungen ab. Das Land ringt um eine eigene Demokratietradition, welche sich mit dem islamischen Erbe vereinbaren lässt. Das Gefälle zwischen Stadt und Land stellt einen sozialen Konfliktherd dar. In sich ist das Land ethnisch zersplittert, mit Abspaltungstendenzen in den nordwestlichen Landesteilen und der ungelösten Kaschmirfrage. Die atomare Kapazität, gepaart mit der jahrzehntelangen Feindschaft zur benachbarten Atommacht Indien, ist ein weiteres Problemfeld. Das Selbstverständnis als einzige islamische Atommacht wird speziell dann gefährlich, wenn die gemeinsame islamische Identität als Grund der Weiterverbreitung von Atomtechnik in andere nichtdemokratische Regime des Nahen Ostens und Asiens gebraucht wird. Auch die Rolle Pakistans, vor allem des Geheimdienstes ISI, als weiterhin aktive Unterstützungsbasis der afghanischen Taliban und Al-Kaida, macht deutlich, dass der innenpolitische Zustand des Landes erhebliche Bedeutung für die Weltordnung aufweist.

Andererseits erlebt Pakistan Modernisierungsbewegungen. Die Wirtschaft ist weitgehend liberalisiert und öffnet sich zunehmend dem globalen Markt. Ein stetiges Wirtschaftswachstum schafft zunehmenden Wohlstand, vor allem der Mittelschichten. Dieser Wohlstand geht mit einem steigenden Bewusstsein der Bedeutung von Bildung einher. Gerade diese Bevölkerungsgruppen fordern demokratische Strukturen und Anstrengungen gesellschaftlicher Entwicklung ein. Als Folge der Machtübernahme durch General Pervez Musharraf kämpft das 2002 gewählte Parlament um seine Bedeutung im politischen System. Nächstes Jahr stehen Parlamentswahlen an, bei denen Musharraf bereits im Vorfeld an der Sicherung seiner Machtbasis arbeitet, während die Führer der Oppositionsparteien aus dem ausländischen Exil agieren. Freie Medien verleihen Modernisierern wie islamischen Fundamentalisten gleichermaßen das Wort.

Die Rahmenbedingungen, unter denen Abgeordnete in Pakistan handeln, sind also gleichermaßen spannend wie problematisch. Vor diesem Hintergrund verfolgt diese Arbeit das Ziel, die Alltagswirklichkeit dieser politischen Akteure dem westlichen Betrachter zugänglich zu machen. Denn eine bessere Kenntnis der politischen Eliten anderer Länder, gerade in kritischen Weltregionen, ist unabdingbare Voraussetzung für die internationalen Beziehungen in unserer Zeit.

1.1 Zielsetzung, Fragestellung, Relevanz

Die zur Erforschung des Gegenstandes notwendigen Theorien und Begriffe, sowie deren Dimensionen und Operationalisierung erarbeitet diese Studie aufbauend auf drei Forschungsprojekten in den USA und Deutschland. Richard Fenno entwarf in seinem Buch ‚Home Style’ eine ausgezeichnete Beschreibung der Alltagstheorien und Amtsführung amerikanischer Parlamentarier in ihren Wahlkreisen. John Wahlke et al. beschrieb in ‚The Legislative System’ das vielfältige Rollenverhalten der Parlamentarier und die eigene Perzeption dieser Rollen durch die Abgeordneten. Werner J. Patzelt erarbeitete für Deutschland in ‚Abgeordnete und Repräsentation’ sowie ‚Abgeordnete und ihr Beruf’ eine umfassende Analyse des Wahlkreisstils Abgeordneter verschiedener legislativer Ebenen. Diese drei Autoren dienten als Inspiration dieser Studie. Ähnlich dieser Arbeiten wird eine Annäherung an den Arbeitsalltag und die Erlebniswelten pakistanischer Abgeordneter versucht. Zwei Kernfragen sollen beantwortet werden. Wie fassen die Mitglieder des pakistanischen Parlamentes ihre Rolle als Abgeordnete auf? Und wie üben sie dieses Amt aus? Eine solche Frage kann niemand besser beantworten als die Betroffenen selbst. Ihre Erfahrungen sollen gehört werden, ihre Bewertungen und Vorstellungen. Erst der zweite Schritt bringt dann den analysierenden, kommentierenden Blick des Politikwissenschaftlers ins Spiel.

So liegt das Augenmerk zuerst einmal auf einer Beschreibung der alltagspraktischen Verhaltensweisen und Alltagstheorien der Abgeordneten. Diese Beschreibung erschöpft sich nicht in den oberflächlich sichtbaren, formellen Prozessen, sondern soll vielmehr gerade informelle, verdeckte Strukturen sichtbar machen. Es soll gerade nicht darum gehen, welche Verfahren und Standards theoretisch festgeschrieben sind, sondern um das tatsächliche praktische Verhalten der Politiker. Das Untersuchungsdesign wurde daher so offen wie möglich gestaltet und die Kernkategorien im Laufe der Interviews immer wieder an neue Erkenntnisse angepasst.2 Durch die Konzentration auf die Erfahrungswelt der Abgeordneten werden andere Akteure, wie Mitarbeiter im Parlament, die Verwaltung oder Regierungsmitglieder ohne Mandat ausgeblendet. Es handelt sich hierbei folglich nicht um eine umfassende Beschreibung des politischen Systems des Landes. Trotzdem blendet die hier vorliegende Untersuchung die Systemumwelt der Parlamentarier nicht aus. Die Kommunikations- und Interaktionsnetzwerke, welche mit der Arbeit der Repräsentanten verknüpft sind, werden aus dem Blickwinkel der Abgeordneten mitbetrachtet. Es wird also nicht ein frei im Raum schwebender, abgehobener Politiker sichtbar, sondern dessen Einbindung in jene Strukturen, welche gemeinhin als das Wurzelwerk des Parlamentes bezeichnet werden.

In der Untersuchung wird dann weiter herausgearbeitet, in welchen Bereichen parlamentarisches Wirken und Erleben von der Funktionslogik parlamentarischer Strukturen auf der einen Seite beziehungsweise von der Rollenorientierung der Akteure auf der anderen Seite, verformt wird. Der Anspruch dieser Arbeit besteht in der Bildung von Typen im pakistanischen parlamentarischen System, aufbauend auf den Schilderungen der Abgeordneten. Dort, wo eine Typenbildung nicht sinnvoll erschien, soll eine Übersicht über gefundene Prägefaktoren gegeben werden. Dadurch lassen sich auch erste Vergleiche pakistanischer Parlamentarier mit denen in Europa und Nordamerika ziehen. In einem weiteren Schritt wäre die Analyse alltagspraktischer Wirklichkeitskonstruktion der pakistanischen Abgeordneten dann für eine gegenstandsbezogene Theorieentwicklung sowie parlamentarismusanalytisch nutzbar.

1.2 Überblick über den Stand der Literatur

Die Mehrzahl der Publikationen zur allgemeinen politischen Entwicklung Pakistans stammt aus dem Land selbst und ist in Urdu oder Englisch verfügbar. Dabei zeigt sich, dass weniger akademische Veröffentlichungen zum Thema vorliegen, sondern dass journalistische Veröffentlichungen, vor allem der großen Qualitätszeitungen, sich qualitativ hochwertig und kritisch mit der politischen Entwicklung auseinandersetzen. Problematisch, speziell bei älteren pakistanischen Publikationen ist, dass diese häufig Objektivität und wissenschaftliche Standards vermissen lassen. Plumpe Ideologie lässt sich gleichermaßen unter den Publikationen finden, wie methodisch akzeptable Arbeiten. Beispiele für letzteres wären etwa die Arbeiten von Khaled Ahmed oder Mohammad Waseem.

In Pakistan wird zwar an den Hochschulen Politikwissenschaft gelehrt, jedoch richtet sich die Forschung eher auf zivil - militärische Fragen und Internationale Beziehungen, vor allem Sicherheitspolitik. Eine Tradition der Abgeordnetenstudien und Parlamentarismusforschung an Universitäten, ähnlich denen in Europa oder den USA, existiert nicht. Als eine sehr ergiebige Quelle für Informationen bezüglich des pakistanischen Parlamentarismus sei jedoch PILDAT (Pakistan Institute of Legislative Development and Transparency) hervorgehoben. Das von ihnen veröffentlichte Handbuch der Nationalversammlung bietet auf über 500 Seiten Hintergrundinformationen über alle Parlamentarier, die ständigen Ausschüsse und statistische Informationen über die Zusammensetzung des Parlaments. Die kompletten Kontaktdaten, ja selbst die Handynummern der MNAs sind in diesem Buch zu finden, womit es ein unentbehrlicher Begleiter während des Forschungsaufenthaltes in Islamabad wurde.

PILDAT ist ein pakistanischer Think Tank, welcher sich neben der Forschung und diesbezüglichen Publikationen auch einem professionellen Training der Abgeordneten verschrieben hat. Dazu gibt es eigene Schriftreihen für Abgeordnete und deren Mitarbeiter zum Beispiel zu Themen wie Haushaltspolitik, Verhaltensweisen in Ausschüssen oder Entwicklungslinien pakistanischer Außenpolitik. PILDAT bemüht sich weiterhin um eine Vermittlerrolle zwischen den demokratischen Institutionen und Interessensverbänden, um beide Seiten für moderne Lobbyarbeit und Transmission von Interessen zu sensibilisieren. Neben PILDAT existiert eine weitere Organisation, welche Parlamentarismus in Pakistan erforscht. Das PLSC (Pakistan Legislative Strengthening Consortium) arbeitet mit PILDAT zusammen. Im Gegensatz zu PILDAT steht im Konsortium die aktive Beratung von Abgeordneten und direkte politische Einflussnahme hin zu mehr Demokratie im Vordergrund. Aufgrund des Mangels an akademischen Publikationen wurde in der Vorbereitung dieser Arbeit teilweise auf die hochwertigen Publikationen dieser NGOs zurückgegriffen.

Die Werke, des an der Queens University emeritierten Professors Khalid bin Sayeed (Western Dominance and Political Islam, sowie Politics in Pakistan: The Nature and Direction of Change und The Political System of Pakistan), waren hilfreich zur Bewertung des politischen Umfelds der pakistanischen Abgeordneten. Zur besonderen Rolle des Militärs empfehlen sich unter anderem Veena Kukreja (Civil - Military Relations in South Asia) und Stephen P. Cohen (The Pakistan Army). Einen guten Überblick über die Problematik demokratischer politischer Systeme im islamischen Kulturkreis gibt z.B. Islam und Democracy von John Esposito und John Voll. Zur Rolle der Parteien bietet sich das Buch The Political Parties of Pakistan von A. B. S. Jafri an. Zu den Parlamentswahlen 2002 und den damit verbundenen Umwandlungen finden sich in Democratization in Pakistan von Mohammad Waseem nützliche Informationen.

Für den Komplex der Abgeordnetenstudien sei zuallererst auf die bereits genannten Arbeiten Richard Fennos, John Wahlkes und Werner J. Patzelts verwiesen. Ferner boten Gerhard Loewenberg und Samuel Patterson (Comparing Legislatures) hilfreiche Ansatzpunkte, speziell im Bereich der Linkage - Aspekte. Des Weiteren wurden die Arbeiten Dietrich Herzogs (Abgeordnete und Bürger), Winfried Steffanis und Uwe Thaysens (Parlamente und ihr Umfeld), sowie Hans Maiers et al. (Parlament und Parlamentsreform) genutzt. Donald Searing (Roles, Rules, and Rationality) liefert interessante Einblicke in das britische System, welches auch in Pakistan Spuren hinterließ. David Olsons (Democratic Legislative Institutions) wurde für allgemeine Vergleichskategorien verschiedener Parlamente herangezogen. Für methodische Aspekte der Arbeit sei letztlich noch Friedrich Lamneks hilfreiches Handbuch zur qualitativen Sozialforschung zu erwähnen.

2 Methodische Überlegungen

2.1 Theorie und Operationalisierung

Im letzten Kapitel wurde bereits die Zielsetzung dargestellt. Die Frage nach dem Amtsverständnis und der Amtsführung pakistanischer Abgeordneter soll primär als generative Fragestellung verstanden werden.3 Trotzdem greift die Anlage der Studien natürlich auf einen theoretischen Rahmen zurück. Im Folgenden soll dieser, sowie die Auswahl empirischen Materials und die methodische Herangehensweise, ausgeführt werden. Ebenso wird auf den Grad an Standardisierung und Kontrolle sowie die Generalisierungsziele eingegangen.

Inspiriert wurde diese Studie, wie bereits beschrieben, von den Arbeiten Fennos, Wahlkes und Patzelts. Es ist diesen Studien zu eigen, dass sie behavioralistische, funktionalistische und institutionelle Erklärungsansätze verbinden. Folglich wird sowohl vom Akteur, als auch von der Institution her gedacht. Rollenkonzepte bilden dabei eine theoretische Basis dieser Arbeit, welche speziell auf der Mikroebene des individuellen Abgeordneten hilfreiche Anknüpfungspunkte lieferten.4 Drei verschiedene Elemente werden dabei berücksichtigt. Es sollen erstens Rollenorientierungen der Akteure bezüglich ihrer eigenen Arbeit erfragt werden. Der Akteur wird als handelndes Individuum betrachtet. Zweitens wird die Einschätzung der Abgeordneten über die Rollenerwartungen Anderer an ihre Tätigkeit als Abgeordneter abgefragt. So erhält man ein Bild der Umwelt des Handelns der Parlamentarier im Spiegel ihrer Wahrnehmung. Es wird davon ausgegangen, dass es einen relativ stabilen Satz der Normen des Verhaltens in der Rolle des Abgeordneten gibt und dass die betroffenen Akteure sich dessen auch (zumindest in Teilen) bewusst sind. Darauf aufbauend werden dann als dritter Punkt Auskünfte über das tatsächliche Rollenverhalten des Abgeordneten eingeholt. Diese Trias von Rollenorientierung, Rollenerwartung und Rollenverhalten soll die Vorteile der drei von Donald Searing beschriebenen Zugänge zum Rollenverhalten (Struktur-, Interaktions-, Motivationsansatz) soweit wie möglich vereinen.5 Es wird dabei nicht um einen systematischen Test der Anwendbarkeit einer der Theorieschulen gehen, sondern darum, im Hinterkopf zu behalten, dass jeder dieser Ansätze nützliche Blickwinkel auf das zu Untersuchende birgt.

Es ist zu erwarten, dass die drei beschriebenen Elemente zumindest teilweise in einem konflikthaften Verhältnis stehen. Das Bewusstsein für solche Rollendivergenzen wird sogar von den Abgeordneten selbst so geäußert. So schreibt M.P. Bandara, welcher als Mitglied des Committee of Parliamentary Affairs besonders für solche Fragen sensibilisiert wurde: „The effectiveness of legislative institutions, particularly in holding government accountable, is conditional on elected representatives exercising their roles and responsibilities in a competent manner. As an elected Member of Parliament a member confronts the challenge of playing multiple roles in the house, in committees, outside parliament and in their constituency”.6 Deshalb soll in dieser Untersuchung besonders auf solche Spannungen zwischen individuellen Orientierungen und Funktionserfordernissen, Konflikten zwischen konkurrierenden Rollenerwartungen und Widersprüchen konkurrierender Orientierungen geachtet werden.

Einen weiteren theoretischen Grundstein dieser Arbeit bilden Parlamentsfunktionen.7 Dabei stehen auf Repräsentation nach außen angelegte Funktionen, wie Darstellung, Vernetzung, Responsivität und politische Führung, auf der einen Seite. Die auf das politische Entscheidungssystem gerichteten Funktionen Gesetzgebung und Regierungskontrolle bilden eine weitere Gruppe. Und letztlich gibt es noch jene Funktionsmechanismen, die auf das Fortbestehen des Parlamentes selbst gerichtet sind, wie etwa strukturelle und prozedurale Selbstorganisation und Rekrutierungsmuster Es gilt zu hinterfragen, inwieweit das Bewusstsein dieser Funktionen im Selbstverständnis der Abgeordneten zu finden ist. Aufbauend auf dem Konzept solcher Funktionen wird ferner angenommen, dass Vertretungskörperschaften eine gewisse Eigenlogik besitzen, welche die Amtsführung und das Amtsverständnis eines Abgeordneten prägen können. Es muss dabei eingeräumt werden, dass eine Übertragung und Verallgemeinerung der bestehenden Forschung über Typen von Abgeordneten auf Pakistan nicht so einfach ist. Olsen schreibt dazu: „It is genuinely difficult to develop a categorization of types of members that is relevant to most democratic legislatures”.8 Deshalb bildeten die im Voraus erarbeiteten Kategorien nur einen ersten Anhaltspunkt der Forschung.

Ausgehend von den Ergebnissen der Studien Wahlkes, Fennos und Patzelts wurde ein Kontinuum möglicher wichtiger Indikatoren erfasst, um die beiden Forschungsrichtungen, Berufsmotive und Amtsführung zu operationalisieren. Zur Erfassung der Berufsmotive wurden das Amts- und Repräsentationsverständnis, der Werdegang und grundlegende Einstellungen zum politischen System erfragt. Auch die Vorstellungen bezüglich der Vernetzung des Abgeordneten mit der Gesellschaft tangieren diesen Punkt. Die erlebte Vernetzung spielt wiederum auch in die Amtsführung hinein und wird um das vom Abgeordneten beschriebene Handeln in Parlament und Wahlkreis ergänzt. Im Schaubild sind die wichtigsten Indikatoren noch einmal dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zu jedem dieser Indikatoren wurde im Frageleitfaden mit mindestens einer Frage ein Reiz gesetzt.9 Dieser konnte sich auf verschiedene Teile sozialer Wirklichkeit richten. Zum einem wurden die Abgeordneten angehalten, ihm wichtige Strukturen und Verfahren zu schildern, indem etwa die Beziehung zu den Kollegen beschrieben werden sollte. Zum anderen wurden sie angehalten, einen Ausschnitt ihrer sozialen Wirklichkeit zu bewerten, indem zum Beispiel nicht nur nach der Häufigkeit sondern auch nach der Wichtigkeit von Medienkontakten gefragt wurde. Und letztlich gab es einige sehr offene Fragen, wie etwa jene, worin eigentlich der Job eines Parlamentariers bestünde. Diese zielten direkt darauf ab, das Relevanzsystem des Interviewpartners sichtbar zu machen.

2.2 Methoden der Erhebung und Analyse

Es handelt sich bei der vorliegenden Studie um eine Expertenbefragung durch Tiefeninterviews anhand eines Leitfadens. Dieser Leitfaden orientiert sich primär an den von Patzelt entwickelten Ausprägungen der Abgeordnetenrollen. Das Interview war teilstandardisiert. Das heißt, die Fragereihenfolge wurde flexibel dem Gesprächsfluss angepasst (nicht standardisierter Verlauf). Die Formulierungen der Fragen hingegen wurde nicht verändert (Standardisierung der Fragen). Zu einigen Fragen wurden ferner im Voraus Nachfragestrategien entwickelt. Die Frage nach dem aktuellen Stand der Demokratie wurde stets an den Beginn, die nach Rollenvorbildern stets ans Ende der Gespräche gesetzt. In aller Regel folgte die Befragung aber nach ähnlichen Mustern. Beispielsweise kamen viele Abgeordnete nach Fragen zur Vernetzung mit der Gesellschaft bereits von sich aus auf die Rolle der Medien zu sprechen. Das Phänomen, dass die Befragten von sich aus bereits die untersuchten Teilphänomene parlamentarischen Amtsverständnisses und Amtsführung ansprachen und Fragen vorweg nahmen, zeigt, dass ihr Relevanzsystem nicht wesentlich von dem der Forscherin abweicht.10 Eine Prädetermination durch den verwendeten Leitfaden kann größtenteils ausgeschlossen werden.

Als Untersuchungseinheit wurden Parlamentarier der Nationalversammlung Pakistans befragt. Es konnten acht Interviews geführt werden, die je circa 30 bis 60 Minuten dauerten. Diese Befragten wurden entsprechend theoretical sampling11 nach folgenden Kriterien ausgewählt: Parteizugehörigkeit, bisherige Verweildauer im Parlament, Machtposition innerhalb des Parlamentes und innerhalb der Partei, sowie Lage des Wahlkreises.12 Die Stichprobe umfasst zwei MNAs der regierenden Partei PML - Q, zwei MNAs der mitregierenden MQM, zwei Vertreter der PPP, einen PML - N Abgeordneten und einen Vertreter der kleinen Partei PPMAP. Die Verweildauer im Parlament betrug bei einer Abgeordneten sechs Legislaturperioden, bei einem weiteren fünf, zwei Parlamentarier befanden sich in ihrer vierten Amtszeit, einer in der dritten und drei Vertreter waren 2002 zum ersten Mal gewählt worden. Bezüglich der Machtpositionen umfasst die Stichprobe eine Ministerin und eine Parlamentarische Staatssekretärin. Dazu muss gesagt werden, dass die Bedeutung von Regierungsangehörigen in Pakistan wesentlich geringer ist als in Deutschland, denn das Kabinett umfasst bis zu siebzig Personen. Ein Befragter ist Parteivorsitzender, ein Abgeordneter als alleiniger Vertreter einer Minipartei zugleich sein eigener Fraktionsvorsitzender. Vier Abgeordnete haben keinerlei Positionen inne. Der Herkunftswahlkreis der Befragten lag bei einem in Islamabad, zwei kamen aus Punjab, drei aus Sindh, einer aus NWFP und eine aus Baluchistan.13

Anhaltspunkte zur Auswahl und Bewertung der Gesprächspartner bot das von PILDAT herausgegebene Verzeichnis der Mitglieder der Nationalversammlung, sowie Gespräche mit pakistanischen Beobachtern. Teilweise war eine Mitarbeiterin der Friedrich -Naumann - Stiftung Pakistan bei der Vermittlung des Gesprächstermins behilflich, sodass bereits eine Vertrauensbasis zu einigen Befragten hergestellt war. Insgesamt lässt sich sagen, dass pakistanische Abgeordnete im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen leicht zugänglich sind und in der Regel innerhalb weniger Tage einen freien Termin zur Verfügung hatten.

„Da eine gezielte Auswahl immer auch willkürlich ist“,14 so Lamnek, lässt sich eine Verzerrung der Untersuchungsobjekte nicht ausschließen. Schon allein, dass drei der acht Befragten weibliche Abgeordnete sind,15 obwohl Frauen nur knapp ein Viertel der Abgeordneten stellen, lässt sich als mögliche Verzerrung interpretieren. Auch das Fehlen der extremistischen MMA stellt eine Verzerrung dar. Die in dieser Arbeit getroffenen Aussagen und die beschriebenen Typen sollen demnach als generalistische Existenzaussagen verstanden werden.16 Die beschriebenen Gemeinsamkeiten und die hier entwickelten Typen des Amtsverständnisses und der Amtsführung sagen nichts über die Häufigkeit und Verteilung der behandelten Merkmale aus. Stattdessen ist das Vorgehen erst einmal auf die Entwicklung von Typen für das Land Pakistan auf der Basis des beschriebenen theoretischen Rahmens ausgelegt. Im Großen und Ganzen folgt die Studie damit Fennos Vorgehen: „I have tried to assemble what I thought would be a variety of House members and districts, [...] however no claims are made for the representativeness of the group - only for its adequacy in opening up the subject for scholarly inquiry”.17

Die Erhebung fand vom 22.06. bis zum 13.07.2006 in Islamabad statt, dem Sitz des Parlamentes. Die Kontextbedingungen und somit der Grad an Kontrolle der Interviews waren mit Ausnahme des Interviews im Hotel sehr ähnlich. Drei Interviews fanden in den „Parliamentary Lodges“ statt, einem Apartmentkomplex, in welchem während der Sitzungszeit Wohnungen für die Abgeordneten zur Verfügung stehen. Ein Befragter wurde in seinem Anwaltsbüro interviewt, welches aber auch als Anlaufstelle der Bürger seines Wahlkreises dient. Zwei Parlamentarier wurden in ihren Büros im Ministerium befragt. Ein Interview fand in einem Büro der Parteizentrale in Islamabad statt und ein weiteres in der Lobby eines Hotels.

Vor dem Interview wurden die Befragten kurz über die Intention des Interviews aufgeklärt. Dabei wurde nur allgemein gesagt, dass es darum ginge, eine Arbeit über ihren Alltag und ihre Erlebnisse als Abgeordnete zu verfassen. Die Parlamentarier zeigten relativ wenig Interesse, weitere Hintergründe der Befragung zu erfahren. Einige Befragte äußerten, dass sie das Gefühl hätten, dass ihre Arbeit im Ausland zu wenig Beachtung finde, beziehungsweise das Land Pakistan fälschlich als Stereotyp des gefährlichen islamitischen Staates dargestellt werde. Sie erhofften sich vom Interview mehr Aufmerksamkeit und Verständnis für ihre Lage. Der Stil der Kommunikation war neutral. Es wurde versucht, ein Vertrauensverhältnis zu entwickeln, indem den Befragten Sympathie und Empathie signalisiert wurden, die angebotenen Erfrischungen akzeptiert wurden und jedem Befragten ein kleines Präsent aus Deutschland überreicht wurde. Auch wenn dies in einem europäischen Forschungskontext sicher eher unüblich erscheint, so entspricht dies den lokalen Gepflogenheiten. Bezüglich der Inhalte des Gesprächs wurde jedoch eine sachliche Distanz aufrechterhalten und Bitten um Meinungsäußerungen zu aktuellen Themen wie z.B. der Charter of Democracy, abgewehrt.

Dokumentiert wurden die Interviews auf Band. Zu jedem Gespräch existiert ein kurzes Postskript, in welchem Geschehnisse vor und nach Einschalten des Rekorders, der Weg der Kontaktaufnahme und die Rahmenbedingungen des Gesprächs festgehalten wurden.18 Die Gespräche wurden anschließend von der Verfasserin transkribiert. Kleine Fehler der englischen Sprache, die auch für die Befragten nicht die Muttersprache ist, wurden stillschweigend korrigiert. Abschweifungen, Verstümmelungen oder Sinnentstellungen, die durch die mündliche Sprache entstanden, wurden ausgelassen und entsprechend markiert. Insgesamt wurde jedoch darauf geachtet, individuelle Besonderheiten und den Charme der unterschiedlichen Ausdruckweisen weitgehend zu erhalten. Die so erhaltenen Texte wurden anschließend mit Methoden der Grounded Theory hermeneutisch interpretiert. Ähnliche Aussagen der Interviewpartner wurden in Gruppen zusammengefasst und entlang des grundlegenden Analyseschemas von Amtsverständnis und Amtsführung konzeptuell geordnet. Es wurden also ausgehend vom schriftlichen Material Typen und Modelle gebildet. Besonders wurde dabei auf in Vivo Codes geachtet, also jene Wörter und Phrasen, die auf die spezifischen Interessen und Probleme der Abgeordneten hinweisen.19 Ein Beispiel hierfür wäre unter anderem die Beschreibung des pakistanischen Parlamentes als Bühne und Schaustück. Da der Anspruch der Arbeit im kategoriellen Ordnen der Typen besteht, wurden die Textpassagen aus dem Zusammenhang des Interviews entnommen und entsprechend ihrer inhaltlichen Relevanz verarbeitet. Als grundlegende Information wurden dabei die Parteizugehörigkeit und die Art des Mandats mit angegeben.

Das beschriebene qualitative Vorgehen ist deshalb angebracht, da es sich um einen wenig erforschten Sachverhalt handelt. Eine Analyse der Äußerungen der Parlamentarier auf der Basis theoretisch - hypothetischer Vorüberlegungen erlaubt es, die soziale Wirklichkeit des Abgeordnetenalltags zu erfassen, ohne sie in ein vorgefertigtes Korsett zu pressen. So schreibt Lamnek über die Vorzüge einer solchen Vorgehensweise: „So wie im Alltag die Konstitution und Definition von Wirklichkeit prozesshaft erfolgt, geschieht dieser Vorgang im Prozess des Interviews ganz analog. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Antworten der Befragten sind nicht einfach Produkt einer unabänderlichen Auffassung, Meinung oder Verhaltensweise, sondern sie sind prozesshaft generierte Ausschnitte der Konstruktion und Reproduktion von sozialer Realität“.20

3 Politisches System Pakistans

3.1 Entwicklungslinien und Prägefaktoren

Kein Parlamentarier findet bei seinem Eintritt ins hohe Haus eine ‚tabula rasa’ vor. Stattdessen muss er seinen Platz in einer Institution suchen, die durch tradierte Leitideen, formelle und informelle Strukturen und die Vorstellungen hunderter anderer Abgeordneter geprägt sein wird. Er wird ferner eine Geschichte vorfinden, vergangene Kriege, Krisen und Erfolge, an denen er sein Handeln ausrichtet.

Im Folgenden soll nunmehr ein kurzer Abriss über die Entwicklung des politischen Systems Pakistans bis zum heutigen Zeitpunkt gegeben werden. Dies ist deshalb notwendig, da in den Gesprächen mit den Parlamentariern immer wieder auf historische Ereignisse eingegangen wurde. Es ist anzunehmen, dass die Sozialisationserfahrungen von Militärcoups, Kriegen mit Indien oder in Afghanistan oder die politische Extremisierung noch heute nachwirken. Auch ist ein Verständnis der speziellen Arbeitsumwelt pakistanischer Parlamentarier, die ungewöhnliche Mischung aus islamischer Kultur und militärischer Herrschaft, nur über die Kenntnis der Geschichte des Landes zu erreichen.

Die Islamische Republik Pakistan entstand als Folge britischer Kolonialherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Im ethnisch und religiös diversen Subkontinent wurden nach der Niederschlagung der indischen Rebellion durch die Briten, Verfahren der Mehrheitsentscheidung und politische Bewegungen, als Vorstufe von Parteien, eingeführt.21 Das westliche Konzept von Nation und Nationalismus etablierte sich zunehmend in Südasien und vermehrte Spannungen zwischen Hindus und Muslimen des Subkontinents. Die hinduistische Bevölkerungsmehrheit befürwortete dabei mehrheitlich eine schrittweise Etablierung politischer und bürokratischer Strukturen nach britischem Vorbild auf dem Subkontinent. Problematisch war jedoch, dass der Minderheitenschutz im Westminsterparlamentarismus eher gering ausgeprägt ist. Die Minderheit der Muslime erhielt also auch wenig Unterstützung von Seiten der Kolonialmacht, um mögliche föderale Strukturen und Minderheitenschutz in nennenswertem Ausmaß zu etablieren. Die indischen Muslime sahen sich somit als Verlierer der neuen Zeit. „That implementation of the new order would mean the end of their separate identity and endless rule of the Hindu majority in the name of nationalism and democracy”.22 Deshalb standen sie den neuen demokratischen Strukturen kritisch gegenüber. In diesem politischen Umfeld definierten Mohammed Ali Jinnah und Mohammed Iqbal in den vierziger Jahren die Etablierung eines eigenen muslimischen Staates als einzige Lösung. Die beiden Staatsgründer werden noch heute als Helden und Väter der Nation sehr verehrt. Einige der befragten Abgeordneten erwähnten dezidiert Jinnah und dessen Vision eines gemäßigten, säkularen Pakistans als Vorbild. So zum Beispiel folgendes Gespräch:

(PML - Q, LM) As a world leader I would say perhaps Jinnah, was a great role model in visions for what Islam in a Muslim country can do. It wasn’t a country dominated by religious extremists. He made it clear, that, yes, you could be a Muslim, strong in your belief, but that wasn’t something that dictated people around you. I wish we had been able to follow suit with so many things he was saying. That you are free to worship anything and still be a good man and nobody will force you, or judge you on morale, because that will be done by God and God alone. The only thing that should guide you on earth should be shared values and your conscience. And not somebody else should tell you, this is how your beard should be, and you should behave like this or that.

Jinnahs Staatsbild war dabei primär nationalistisch23 und weniger religiös geprägt. Seine Theorie der zwei Nationen betrachtete den Islam als gemeinsames kulturelles Erbe der durch Sprache und Ethnie getrennten Muslime.24 Dieses Erbe wurde von den indischen Hindus natürlich nicht geteilt. Die Religion war nur ein Distinktionselement, während Jinnahs politisches Handlungskonzept das Ziel gesellschaftlicher Mobilisierung verfolgte. Diese graduelle Ablösung Jinnahs von religiösen Motiven hin zu politischen Zielen entwickelte allerdings schon in der Anfangszeit Pakistans einen desintegrierenden Charakter. Hamza Alavi dazu: „The irony of the argument that Pakistan was founded on religious ideology lies in the fact that practically every Muslim group and organization in the Indian subcontinent that was specifically religious - Islamic - was hostile to Jinnah and the Muslim League and strongly opposed to the Pakistan movement”.25

Iqbal hingegen erwartete, dass islamische Normen auch in der politischen Struktur des entstehenden Staates eine entscheidende Rolle spielen würden. Der institutionelle Aufbau der Regierung und die Gerichtsbarkeit, so Iqbal, sollten traditioneller islamischer Gesetzgebung, der Shariah, unterworfen werden. Durch die Vermischung islamischer und nationalistischer Prinzipien ergab sich jedoch eine gewisse Problematik. So stehen die traditionelle islamische Egalitätsidee und das Ummah - Konzept einem starken ethnischen und nationalen Ethos eigentlich entgegen. Aus Sicht Iqbals war es deshalb viel schwieriger als für Jinnah, neue nationale Werte und Symbole zu definieren.26 Der Islam spielte damit eine kontroverse Rolle als Basis der Gründung des Staates Pakistan, die auch nicht aufgelöst wurde. Noch heute wirkt diese Uneindeutigkeit, worin die nationale Identität und die nationalen Symbole des Landes bestehen könnten, nach.

Das Land versteht sich selbst seit der Verfassung von 1956 als Islamische Republik, ein ‚Muslim Homeland’. Aber erst in der zweiten Verfassung (von 1973) wird Islam als offizielle Staatsreligion festgeschrieben und erklärt, dass alle Souveränität bei Allah liegt. „All existing laws shall be brought in conformity with the injunctions of Islam as laid down in the holy Qur’aan and Sunnah…and no law shall be enacted which is repugnant to such injunctions”.27

In den letzten Jahrzehnten spielte sich die Entwicklung des Landes stets im eben beschriebenen Spannungsfeld von Religion, Identitätsdefinition und Demokratie ab. Befürworter einer islamischen Theokratie stehen westlich orientierten Demokraten gegenüber. Andere versuchen die islamische Kultur mit einer eigenen Demokratietradition zu versöhnen. Ähnlich der konfligierenden Ideen der beiden Staatsgründer existieren bis heute Parteien, welche sich selbst als säkular, nationalistisch verstehen und andere, die sich dezidiert dem islamischen Kulturerbe verpflichtet sehen. Sowohl Regierende als auch die Opposition, das Militär und die geistigen Führer nutzen das islamische Fundament zur Legitimierung und Stabilisierung von Machtansprüchen. Modernisierungsprozesse in Politik und Gesellschaft gehen teilweise mit rhetorischer Islamisierung einher.

Während die Verfassung primär dazu gedacht war, die politische Struktur (speziell die Vertretung der konkurrierenden regionalen und ethnischen Gruppen) des Staates zu regeln, sollte die Shariah als Grundlage der Justiz beibehalten werden. Die Shariah besitzt jedoch quasi Verfassungscharakter. Deshalb stand die Shariah mit der neuen pakistanischen Verfassung in Konkurrenz. Da ein weltlicher Vertrag zwischen Regierung und Volk innerhalb der muslimischen Tradition aber niemals dieselbe Qualität und Relevanz erreichen kann, wie die Shariah, war die Verfassung im Entwicklungsverlauf permanent Änderungen und Verletzungen ausgesetzt. Je häufiger die pakistanische Verfassung geändert wurde, desto sorgloser wurde in Folge mit weiteren Verfassungsbrüchen umgegangen. Gleichzeitig schwächte die hohe Stellung der Shariat - Gerichtsbarkeit das Parlament, indem es große Teile des gesetzgeberischen Gestaltungsbereichs einschränkte.28 Neben den geschilderten Widersprüchen der politischen Kultur existiert also auch eine in sich widersprüchliche Rechtsstruktur.

Doch auch die Rolle des Militärs und dessen periodische Machtübernahmen prägten Pakistan. In der Geschichte des Landes ging einem solchen Militärputsch meist eine politische, militärische oder wirtschaftliche Krise voraus. Zwei solcher Phasen, welche bis heute nachwirken, sollen kurz angesprochen werden. Ayub Khans Militärregierung beispielsweise löste 1962, aufgrund des angeblichen Versagens der Verfassung, diese auf. In den nördlichen und östlichen Landesteilen zeigten sich damals nationalistische Mobilisierungstendenzen der paschtunischen beziehungsweise bengalischen Bevölkerungsgruppe. Indien und Pakistan befanden sich in heftigen Auseinandersetzungen um die Region Kaschmir. Die Verwaltung galt als stark korruptionsanfällig. Das Regierungskabinett erlebte mehrere heftige Krisen. Die gesellschaftliche Rückständigkeit des Landes sei, so Ayubs Schlussfolgerung, nicht mit modernen politischen Institutionen vereinbar.29 Der einfachere und in unentwickelten Regionen oft erfolgreichere Weg, die Spannungen unter Kontrolle zu halten, ist in solchen Fällen statt langwieriger Kommunikation und Kompromisssuche das Ausspielen von Macht. Das pakistanische Militär verfügte über die effektiveren organisatorischen Voraussetzungen, Konflikt- und Gewaltmanagement zu betreiben. Marris Jannowitz schreibt: „The organizational format designed to carry out the military functions as well as experience in the management of violence is at the root of these armies ability to intervene politically.”30 In den vergangenen Jahrzehnten hatte das pakistanische Militär mehrmals die Gelegenheit, diese Überlegenheit zu demonstrieren.

Das damals entstandene Militärregime zeichnete sich durch hochgradigen Zentralismus und Bürokratismus aus.31 Die Gründe der bis heute ausufernden, aber handlungsschwachen Bürokratie legt Kukreja dar: „Capturing power is not as much of a problem for the soldier as the consolidation of their authority. Any kind of ruling group needs to convert power into authority and legitimacy. To ensure their sustenance, survival, and legitimisation, the military in power seeks to create relationships with civilian political groups and to provide cosmetic ‘civilianisation’ to what is essentailly a military administration”.32 Nachdem die Legitimität des Generals als Staatsoberhaupt langsam erodierte, versuchte Ayub sich an einem Referendum, welches ihm für weitere fünf Jahre die Staatsführung überantwortete. Musharraf nahm sich dieses Vorgehen zum Vorbild. Gleichzeitig wurde eine Nationalversammlung einberufen33, welche erstmals auch Frauen zuließ. Diese Nationalversammlung erlangte jedoch weder nennenswerte gesetzgebende Funktionen, noch kontrollierte sie die Militärregierung oder konnte als offener Raum politischer Darstellung agieren. Der Abspaltung Bangladeshs hatten die Abgeordneten keine politischen Lösungsvorschläge entgegen zu setzen. Zudem war ein entscheidender Teil der Parlamentarier aus militärnahen Kreisen rekrutiert worden. Die Strukturen waren also da, konnten jedoch nicht mit Leben erfüllt werden. Systemkonformität und schiere Wirkungslosigkeit parlamentarischer Arbeit wechselten sich ab, so dass Tariq Ali von „Ayub’s tame band of sycophantic politicians“ spricht und die Epoche trefflich als „The Gun and the Hat“ charakterisiert.34 Letztlich erfüllten die politischen Institutionen weder in ihrem symbolischen, noch in ihrem instrumentellen Wirken die Ansprüche eines demokratischen Systems. Es zeigten sich in dieser Phase bereits die Anzeichen politischer Lethargie, die Pakistans Nationalversammlung in Teilen noch immer heimsucht.

Je länger diese Erstarrung der politischen Institutionen andauerte, desto größer wurde das Potenzial gesellschaftlichen Aufbegehrens, welches sich in Pakistan, ähnlich anderer Länder, ab 1968 entlud. Über fünf Monate hinweg gab es in jeder größeren Stadt Studentendemonstrationen, Arbeiterstreiks und öffentliche Mobilisierung durch Intellektuelle. Der Mobilisierungsgrad dieses Volksaufstandes war weitaus höher als in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung.35 Das Scheitern von Armee und Polizei, die öffentliche Ruhe wiederherzustellen, führte zu einer Phase der Demokratie unter Zulfikar Ali Bhutto und der Pakistanischen Volkspartei (PPP). Die folgenden ersten landesweiten Wahlen Pakistans waren der letzte Ausweg aus einer Epoche des innenpolitischen Chaos. Unter solchen Startbedingungen konnte die neue Verfassung von 1973 das Verlangen der Regionen nach Selbstverwaltung allerdings nicht angemessen lösen und behördliche Willkür gegenüber der Bevölkerung nicht verhindern. Entsprechend Max Webers Kategorien moderner Staatlichkeit fehlte es weiter an tragfähigen legalen bürokratischen Strukturen. Bhutto erwirkte im Laufe der siebziger Jahre zwar einige personelle Veränderungen im Militärapparat, jedoch so Ali: „Bhutto did nothing qualitatively to alter the army’s character or function“.36 Auch zeigte sich, dass der politische Gestaltungsbereich der Exekutive sukzessive ausgedehnt wurde. Zum einen lag dies an einer fehlenden institutionellen Balance zwischen der Regierung und dem zunehmend bedeutungsloseren Parlament. Zum anderen spielte die Annäherung der PPP an sozialistische Ideen und dem damit verbundenen Modell umfangreicher staatlicher Steuerung eine Rolle. Eine linkspopulistische Agenda sollte Pakistans Demokratie stabilisieren, was jedoch außerhalb der gebildeten Stadtbevölkerung auf wenig Resonanz stieß. Der autoritäre Führungsstil des Präsidenten und der Vorwurf des Wahlbetrugs führten die Agenda weiter ad absurdum.

In der anschließenden Phase der Regierung General Zia ul - Haqs vereinigten sich schließlich die Konzepte islamischer Politik und militärischer Herrschaft. Der General verurteilte Bhutto 1977 auf der Basis der Shariah zum Tode. „One of the chief criticisms of Bhutto’s five year rule was his deviation from the Islamic path, both in his public policies as well as in his private life”.37 Zias Konzept beruhte darauf, die Desillusionierung der Bevölkerung über die Möglichkeiten demokratischer Politik zu nutzen und anhand auf dem Islam basierender, traditioneller Mentalitäten ein rigides Militärregime zu legitimieren. So geriet Zia unter den Druck der Bevölkerung, Wahlen abzuhalten. Daraufhin behauptete er, Allah hätte im Traum zu ihm gesprochen und ihn gewarnt, Wahlen seien unislamisch. Die Tatsache, dass solch eine absurde Begründung tatsächlich Akzeptanz fand, spiegelt die damals herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die gering ausgeprägten Kultur des Politischen wieder. Huntington schreibt dazu: „Military interventions are only one specific manifestation of a broader phenomenon in under - developed societies“.38 Die Mobilisierung der Bevölkerung in den Unruhen von 1968 konnte im Gegensatz zu den westlichen Demokratien also nicht in eine politische Emanzipation der Gesellschaft umgewandelt werden. Stattdessen erhielten fundamentalistische Gruppen wie Jamaat - i -Islami Aufwind. Dschihad galt als wesentliche Policy - Option und wurde verstärkt ins staatliche Bildungssystem übernommen. In diesem Zeitraum wurde jener islamistische Extremismus geschaffen, welcher heute, sowohl im Lande als auch im internationalen System, ernorme politische Schwierigkeiten verursacht. Sozialistische Ideen verloren hingegen mit dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan an Relevanz. Stattdessen begann in dieser Phase die Bindung Pakistans an die USA, indem das Land als Brückenkopf amerikanischer Unterstützung des afghanischen Widerstands fungierte.

In dieser Phase verstärkten sich die Verbindungen zwischen islamischen Gruppen auf der einen Seite und Militär beziehungsweise Geheimdienst auf der anderen Seite erheblich. Auch führte eine Zunahme der Rekrutierung ländlicher Bevölkerungsteile in die Armee zu einer traditionelleren Grundauffassung des Corps. Dies bewirkte, dass verstärkte politische Repression mit einer islamischen Maske versehen wurde. „A repressive code, partially modelled on medieval Islamic punishments, was introduced to punish social and political dissenters: public flogging, amputation of the hands,...stoning to death,...execution of political activists; torture of woman political prisoners”.39

Ein Teil dieser Gesetze ist auch heute noch gültig. Der bis dato vorhandene Spielraum öffentlichen Dissens’ verringerte sich. Die Pressefreiheit erlitt deutliche Einschnitte. Schulbücher wurden umgeschrieben, Kleidungsvorschriften für Frauen erlassen und Zeitvertreibe wie Musik, Tanz oder Kino streng reguliert. Erstmalig seit der Diskussion Jinnahs und Iqbals um die Rolle der Religion im Staate wurde der Islam klar das dominierende Leitbild pakistanischer Politik. Während Ayubs Militärregime noch um eine pseudo - legale Fassade (Nationalversammlung, Referendum) bemüht war, zeigte sich das Regime Zias offen repressiv. „The constitutional amendments introduced by General Zia -ul - Haq had resulted in three centres of power: the president, the prime minister and the chief of army staff (COAS). Of these, the prime minister remained the weakest and dependent upon the good will of the President and/or the COAS“.40 Eine graduelle Einschränkung des Herrschaftszugangs und eine wenig pluralistische Herrschaftsstruktur waren das Resultat.41

In den späten 80er und 90er Jahren wechselten sich mehrmals zivile Regierungen in Pakistan ab. Die Macht der Armee und des Geheimdienstes konnten Benadzir Bhutto und Nawaz Sharif indes nur wenig beschneiden. Speziell Bhutto regierte über Parteistrukturen und ein Geflecht familiärer Loyalitäten. Sie etablierte im Westen ausgebildete Eliten, welche teilweise nicht einmal der Landessprache mächtig waren, in Machtpositionen und brachte so den Großteil der staatlichen Verwaltung gegen sich auf.42 Durch diese Gegnerschaft beraubte sich die Regierung allerdings jeglicher Möglichkeit politischer Steuerung. Auch die gesellschaftlichen Veränderungen Zias wurden aufgrund der Machtschwäche der Regierung nicht rückgängig gemacht. Das Parlament arbeitete zwar, jedoch war das politische System nach wie vor auf eine Vorherrschaft des Präsidenten und deutliche Einflussnahme des Militärs ausgerichtet. Esposito und Voll beschreiben die Lage folgendermaßen: „Lacking the required parliamentary majority for bold leadership, forced to accommodate the wishes of a powerful military, […] faced with significant provincial and ethnical opposition in the Punjab, Baluchistan, and Northwest Frontier provinces and rampant ethnic violence in Sindh which brought it to the brink of disintegration, and hampered by charges of massive corruption in her government and family, Benadzir Bhutto proved incapable of effective leadership”.43 Ein weiterer Versuch Bhuttos, sozialistische Ideen stärker zu etablieren, wurde durch Legitimationsverluste infolge des kollabierenden sozialistischen Ostblocks und religiöser Widerstände abgefangen. Die von Zia so energisch vorangetriebene Islamisierung zeigte Wirkung. „Pakistan in the 1990s not only experienced the impact of domestic terrorism but was also identified as a major center for the training of international terrorists. Ironically, the Afghan resistance and war, a jihad heralded and supported in the Muslim world and the West, contributed to the growth of religious extremism and international terrorism.”44

Was die Akzeptanz demokratischer Strukturen und Säkularisierung anbelangt, befand sich Pakistan 40 Jahre nach Staatsgründung in schlechter Verfassung. Vielmehr zeigte sich sogar eine Regression politischer und bürgerlicher Rechte. 1990 erreichte das Land noch eine „Vier“ auf beiden Checklisten der bürgerlichen und politischen Rechte nach Freedom House.45 Im Laufe der neunziger Jahre stieg der Wert politischer Rechte auf „Drei“ und näherte sich damit bereits langsam an die freien Staaten an, fiel dann aber bereits in den drei Jahren vor Musharrafs Coup wieder auf „Vier“ zurück. Die bürgerlichen Rechte hingegen ließen im selben Zeitraum nach und lagen mit „Fünf“ an der Grenze zu den unfreien Staaten. In der Bevölkerung produzierte die Unfähigkeit, die dringendsten Probleme des Landes zu lösen, einen erheblichen Vertrauensverlust in demokratische Strukturen. Ganz im Sinne der Prognose Huntingtons, bezüglich der dritten Welle der Demokratieentwicklung, führte dies zu einer nostalgischen Verklärung des starken Militärherrschers.46

Die Notwendigkeit, die Entwicklung des Landes bei einer Beurteilung der Abgeordneteninterviews vor Augen zu haben, liegt darin, dass klar sein muss, dass das politische System nicht von Grund auf schlecht war oder eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung in irgendeiner Weise demokratieunfähig sein muss. Es waren politische Prozesse, welche die demokratischen Strukturen erodierten und die momentanen Verhältnisse schufen. In diesem Sinne muss auch der eigene Beitrag, den die Abgeordneten zu den vergangenen Staatsstreichen leisteten, angesprochen werden. Der Anteil der Bürokratie beziehungsweise der zivilen Elemente an den militärischen Regierungen ist bedeutsam. Ein politisiertes Militär ist normal in Pakistan, wie in vielen anderen Ländern. Das liegt zum einem natürlich am Militär selbst. Die politischen Akteure verleihen dem Militär jedoch andererseits zusätzlich Legitimität, indem sie es als Vermittler im politischen Prozess akzeptieren, beziehungsweise es als Kontrolle der Exekutive verstehen (und nicht die parlamentarische Opposition). „In this context, the basic standard of judgement is acceptance of the fundamental rules of the political system by the opposition. In the early 1960s, when military regimes were common in many parts of the world, an observation of Thomas Hobbes was often quoted, which stated that politics was like a game of cards: the players must agree which card is to be trump. With this difference, he adds, that in politics, whenever no other card is agreed upon, clubs are trumps”.47

Kurz vor einem Militärputsch findet sich jedoch immer eine größere Gruppe ziviler Eliten, welche dem Militär dezidiert den Auftrag zum Sturz der Exekutive erteilt. Die Politiker, die in aller Regel der Opposition angehören, gehen mit dem Militär eine Art Putschkoalition ein. Das Militär bietet eine Art Abkürzung an Stelle des umständlicheren Weges politischen Handelns unter akzeptierten Spielregeln. Gäbe es diese zivile Unterstützung nicht, so behauptet Juan Linz anhand von Studien aus den siebziger Jahren, wäre die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs des Putsches wesentlich geringer. Gleichzeitig zur Verquickung von Militär und Bürokratie zur Machtübernahme, herrscht jedoch ein ungeschriebenes Selbstverständnis vor, dass Militärregierungen nur zur Stabilisierung einer Krise gedacht sind und nach einiger Zeit die Regierungsgewalt wieder freiwillig und gewaltlos an die Politik übergeben werden soll. Eine solche Präferenz für stabile Machtverhältnisse, selbst unter repressiven Bedingungen, gegenüber möglicher Anarchie senkt die Toleranzschwelle, Unruhen und Konflikte auszuhalten.

David Olson beschreibt zutreffend die prekäre Lage von Parlamenten in solchen Staaten: „Parliaments - or legislatures - are the keystone of a democratic political system; they are also the most fragile component of any state, […] the most vulnerable to dismissal by military coup or party dictat.”48 Denn die Exekutive vermag es, Probleme und Alternativen hinter verschlossenen Türen auszuarbeiten, während Parlamente in der Öffentlichkeit streiten. Je besser die Legislative in der öffentlichen Austragung von Konflikten funktioniert, desto stärker kann sie kritisiert, verleumdet und verachtet werden.49 Die Ausdauer, solche politischen Konflikte zu erdulden, ist in Pakistan indes wenig geübt. „The poor quality of democracy has adversely affected the consensus - building capacity of the Pakistani political institutions and processes. This has accentuated distrust and polarisation in the polity, causing the competing interests to pursue political competition as a “zero - sum” game.”50

Das Konzept der Militärherrschaft auf Zeit ähnelt in weiten Teilen der Praxis römischer Diktatoren, welche zur Beseitigung innerer Unruhen oder eines militärischen Notstandes berufen wurden.51 Diese Rolle eines rettenden Militärs ist bereits seit Jahrzehnten so präsent, dass sie als Bestandteil der politischen Kultur des Landes betrachtet werden kann. Laut Alfred Stephan ist solch ein ungeschriebenes Gesetz der vorübergehenden, intervenierenden Herrschaft in zivil - militärischen Beziehungen gerade in Südasien und Mittelamerika weit verbreitet.52 Das jüngste Beispiel hierfür stellt der Militärputsch in Thailand Mitte September dar. In den Interviews der pakistanischen Abgeordneten finden sich mehrere Bestätigungen, dass auch die Parlamentarier eine solche Rolle des Retters in der Not akzeptieren und befürworten.

(PML - Q, LM) The president is a role model because he saw that something was wrong and made a positive effort to improve it.

3.2 Pakistan heute

Es gehört dabei zu den Eigenheiten pakistanischer Militärregierungen, dass diese freiwillig nach einer Konsolidierungsphase wieder demokratische Wahlen abhalten. Musharraf tat dies im Jahr 2002, drei Jahre nach seiner Machtübernahme. Denn auch wenn sich die Macht bei der Militärregierung konzentriert, wird die Existenz eines Parlamentes als notwendiges Mittel der Legitimation betrachtet.53 „Parliamentary institutions are often considered by political players as necessary accoutrements of a modern ruling structure, […] the power holders need to win legal and moral authority“.54 Die Parlamentswahlen wurden von Beobachtern als einigermaßen frei und fair eingestuft, wenngleich Einschüchterungsversuche gegen Oppositionelle, speziell gegen Nawaz Sharif und Benadzir Bhutto, zu vermelden waren. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern tat sich die jetzige Militärregierung dadurch hervor, dass sie die Entwicklung politischer Freiheitsrechte und die Sphäre freier Medien bewusst auf einen Stand ausbaute, der die vorherige Phase demokratischer Regierungen übertraf. Musharraf gilt als Modernisierer. Er unternimmt weitreichende Anstrengungen im Bildungs, Sozial- und Gesundheitssektor und investiert in die Infrastruktur des Landes. Dies, in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, hat Musharraf in den Medien den Ruf eines guten Diktators eingetragen. „Therefore, while calling him a “dictator”, one should include the rider that he held the 2002 election within the stipulated period unlike General Zia, which was as good or as bad as elections in the past, and he let the politicians run the show, even though his referendum, even according to him, was not the proudest thing he had done.”55 Das hier angesprochene Referendum lieferte Musharraf die Legitimation seiner Herrschaft als Präsident, war jedoch weit von einer freien und gleichen Wahl eines Staatsoberhauptes entfernt. Gegenkandidaten waren nicht zugelassen.56

In den vergangenen Jahren baute er das politische System des Landes um, hin zu einer zentralen Machtposition seiner Person. So gelang es ihm, das Militär, sowie den Großteil des Geheimdienstes unter seine Kontrolle zu bringen und gleichzeitig die Mullahs soweit an sich zu binden, dass sie ihm wenig gefährlich werden. Er nutzte dazu die vorhandenen demokratischen Strukturen und hielt sich größtenteils an gängige politische Spielregeln. Nichts desto weniger beschneidet die jetzige Regierung permanent die Macht der Legislative. So gab sich Musharraf mit dem Legal Framework Order weit reichende Machtbefugnisse, mit denen er in sicherheitspolitisch relevanten Fragen weitgehend am Parlament vorbei regieren kann.57 Dies geschah mit Unterstützung des Auslandes, speziell den USA, da Pakistan als verlässlicher Bündnispartner im Kampf gegen den Terror58 gebraucht wird.

Die Vorsitzenden der beiden großen Oppositionsparteien PML - N und PPP agieren momentan aus dem Ausland. Ex - Präsident Nawaz Sharif lebt, aufgrund einer Vereinbarung mit Musharraf während dessen Staatsstreichs, seit 1999 im Exil. Benadzir Bhutto, Vorsitzende der PPP und ebenfalls ehemalige Regierungschefin, hat bei einer Rückkehr ins Land eine Verurteilung wegen Korruptionsvorwürfen zu befürchten. Es ist schwierig abzuschätzen, inwieweit diese Gerichtsverfahren eine Grundlage haben, oder als politisch motiviert angesehen werden müssen.59 Waren bisher die Oppositionsparteien verfeindet, zeigt sich in letzter Zeit eine verstärkte Zusammenarbeit. So beschlossen Bhutto und Nawaz eine gemeinsame „Charter of Democracy“.60 Diese Charta soll demokratische Spielregeln für die zukünftige politische Entwicklung festlegen. Für die befragten Abgeordneten spielte die „Charter of Democracy“ eine wichtige Rolle, fast alle kamen an einem Punkt des Interviews darauf zu sprechen. Verbunden mit dieser Charta ist die Hoffnung, eine eigene Demokratietradition zu verfestigen. Ein Abgeordneter der Opposition äußert sich dergestalt:

(PML - N, DM) One of the problems of our democracy was that the face of our constitution in 1973 was not the outcome of some political journey. Instead this was preceded of almost 15 years of martial law. So during martial law there was no political or democratic tradition in the country. So what Mr. Bhutto did in his rule with the constitution was that he had majority, but did not have accepted consensus. And then he was again interrupted by martial law. So after all these years on May 4th we decided on the Charter of Democracy. This Charter lays down the rules of future democracy. […] What it was, that we were lacking? It was, that there was no consensus on democratic norms. So what we have now, with the charter of democracy with the two major democratic parties and other parties also, is an agreement on the democratic norms in Pakistan. So what we hope with this charter of democracy is that politics in Pakistan will experience a quantum jump in quality.

Auch wenn die Vorsitzenden der Parteien beinah täglich in den Medien ihre Rückkehr ins Land ankündigen, so scheint dies eher symbolische Politik zu sein. Für die Parlamentarier der Oppositionsparteien ist die starke Stellung der Vorsitzenden schwierig. Zum einen erfordert es ungeheure Anstrengungen der Koordination. Zum anderen fördert es eine rigide Hierarchie und verlangsamt Entscheidungen. Nicht zuletzt treibt die momentane Situation die Ausgaben für Reisekosten in die Höhe; Geld, welches sinnvoller für inhaltliche Arbeit verwendet werden könnte. Eine Ablösung der Vorsitzenden erscheint aber ebenfalls nicht realistisch. Pakistanische Parteien werden, mit wenigen Ausnahmen, als Familienunternehmen geführt und die Stellung des Vorsitzenden hat personenkultartige Züge.

Im Jahre 2006 scheint sich die politische Lage wieder zu verschärfen. So nahmen bereits in Folge des Karikaturenstreits die Anspannungen zwischen pro - westlichen und islamistischen Gruppierungen zu. Mysteriöse Morde an Journalisten und Nachrichten von Einschüchterungsversuchen verunsichern die Medien. Die Tötung des baluchistanischen Nationalistenführers Nawab Akbar Bugti durch das Militär Ende August 2006 führte zu heftigen Unruhen. Die Konfliktlinien beziehen sich vor allem auf materielle Ressourcen und die Frage des staatlichen Gewaltmonopols im Konflikt mit der Autonomie der Provinzen. Die Opposition strengt erfolglos ein Misstrauensvotum gegen den Präsidenten an.

Momentan wird in Pakistan heftig darüber diskutiert, zu welchem Zeitpunkt eine eventuelle Wiederwahl Musharrafs möglich wäre. Es gibt die Option, dass er sich noch vor den Parlamentswahlen von der jetzigen Nationalversammlung wieder wählen ließe. Diese Möglichkeit würde das politische System unter starke Spannungen bringen, da ein solches Vorgehen von den Oppositionsparteien nie akzeptiert würde. Die zweite Möglichkeit wäre, die Wahlen abzuwarten. Die Oppositionsparteien erhoffen einen eindeutigen Sieg. Träte dieser nicht ein, so lassen die PPP und PML - N momentan verlauten, würden sie von Manipulation ausgehen und das Wahlergebnis nicht akzeptieren. Eine dritte Variante, die des Sieges und Machtübernahme der jetzigen Opposition, würde zunächst ein sicherheitspolitisches Vakuum schaffen. Da die Oppositionsparteien mit den gleichen Vorsitzenden ins Rennen gehen, wie schon vor 20 Jahren, lässt auch dieses Szenario wenig politische Erneuerung erwarten.

Auch wenn es keine Bevölkerungsumfragen gibt, so spiegelt zumindest die Presse eine gewisse Politikerverdrossenheit wieder. Ein Journalist beschreibt die Lage folgendermaßen: „In Pakistan’s case, unfortunately, those who should have been custodians of democracy have often been bent on undermining it. This has included politicians who have tried to co - opt the electoral process as well as military and civil bureaucrats who have tried to circumvent it. However, the corruption of our ruling elites does not prove that democracy is a bad idea. It merely proves that our ruling elites are corrupt”.61

Zusammenfassend lässt sich über die momentanen politischen Strukturen konstatieren, dass es zwar demokratische Regelsysteme und Partizipationsregime gibt, diese aber an mehreren Stellen gestört sind.62 Neuralgische Punkte sind erstens die vertikale Legitimation. Die Exekutive wurde nicht frei gewählt. Zweitens gibt es einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit im Bereich individueller Freiheits- und Schutzrechte.63 Drittens betrifft es die horizontale Gewaltenkontrolle, indem die Nationalversammlung durch Erlasse in ihrer gesetzgeberischen Kompetenz unterlaufen wird. Letztlich existieren in der Herrschaftsausübung machtpolitische Enklaven. Als sicherheitsrelevant eingestufte Bereiche liegen allein in der Macht des Militärs und sind damit den gewählten Volksvertretern entzogen. Dies sind die politischen Hintergründe, die im Auge behalten werden müssen, wenn man sich mit den Alltagserfahrungen pakistanischer Parlamentarier beschäftigt. Im Folgenden soll nun die Struktur des pakistanischen Parlamentes genauer beleuchtet werden.

3.3 Das pakistanische Parlament

Das folgende Kapitel soll einige grundlegende Informationen über die Hintergründe des pakistanischen Parlamentes vermitteln. Es ist einigermaßen problematisch, das pakistanische Regierungssystem zu klassifizieren. Normalerweise wird der Präsident als Führer der Exekutive vom Parlament gewählt, ernennt den Premierminister und das Kabinett. Er könnte per Misstrauensvotum abberufen werden. Das Parlament besitzt Sanktionsmittel gegenüber der Regierung, vor allem im Haushaltsrecht. Aufgrund dieses Zugriffsrechtes auf die Regierung lässt sich die Nationalversammlung prinzipiell als voll entwickeltes Parlament klassifizieren. Musharraf wurde nach seinem Staatsstreich jedoch durch ein zweifelhaftes Referendum, ohne Gegenkandidaten, bestätigt. Auch verfügt der Präsident über Vetorechte, deren Verfassungsgrundlage sich häufiger ändert. Der pakistanische Parlamentarismus ist deshalb in seiner momentanen Form nicht sehr mächtig. „The reality is, that parliament in Pakistan is a subordinate legislature“.64 Die Abgeordneten erfüllen zwar den größten Teil parlamentarischer Funktionen (Rechtssetzung, Geschäftsautonomie, Öffentlichkeitsfunktion),65 sind dabei jedoch auf den Schutz und die Außenstabilisierung durch die Exekutive angewiesen. Auch wenn es in der pakistanischen Verfassung eigentlich anders angelegt ist, tendiert das momentane System stärker zur präsidentiellen Regierungsform mit einer Legislative.66

Es existieren zwei Kammern der Majlis - e - Shoora (Bundesparlament). Die Nationalversammlung als erste und bedeutendere Kammer, sowie der Senat67 als Vertretung der Provinzen (Sindh, Baluchistan, Punjab, NWFP, FATA, sowie Islamabad). Momentan liegt die Zeitdauer einer Legislatur bei fünf Jahren.68 Nach der Parlamentsauflösung 1999 durch Musharraf fanden 2002 die letzten Parlamentswahlen statt. Die Gesamtausgaben für beide pakistanische Parlamente belaufen sich auf ca. 700 Millionen Rupies jährlich, umgerechnet etwa 10 Mio. Euro. Es existiert kein fester Sitzungsplan. Laut Verfassung sind 130 Arbeitstage vorgesehen. In der Legislaturperiode 2003 - 2004 trat die Nationalversammlung jedoch nur an etwa 85 - 90 Tagen (inklusive Wochenend- und einzelnen Tagen zwischen den Sitzungen) zusammen.69 Der größere Impetus in der nationalen Gesetzgebungsarbeit geht von der ersten Kammer aus, während sich der Senat naturgemäß vor allem den Problemen der Regionen und dem Verhältnis zwischen den Ebenen widmet. Weiterhin kann der Senat Empfehlungen zu Gesetzentwürfen abgeben, die den Haushalt betreffen. In Streitfragen existiert ein Vermittlungssauschuss zwischen den Häusern.70

Die Nationalversammlung ist noch dabei, jene Regeln parlamentarischer Arbeit zu tradieren, die in westlichen Demokratien bereits seit langem verfestigt sind. „Despite almost sixty years of history and the inherited traditions of pre - independence days, we have spent more time in reversing these traditions instead of building on them. The process of Parliament is based as much on traditions and precedents as it is on rules and procedures“.71 Loewenberg und Patterson weisen anhand des Beispiels des Deutschen Bundestages darauf hin, dass ein Fehlen von Präzedenzentscheidungen und über Jahrhunderte tradierter Verfahren nicht notwendigerweise problematisch ist. Stattdessen kann ein formales Regelwerk einer Geschäftsordnung ähnliche Dienste erfüllen.72 In Pakistan ist jedoch auch die Festschreibung parlamentarischer Geschäftsordnungen noch im Umbruch. Das Thema wird in zwei Ausschüssen diskutiert und nach geeigneten Regelungen gesucht. Die historischen Schriften zweier Autoritäten für Verfahrensfragen, Shri M. N. Kaul und der Brite Eriskine May, werden in diesen Streitigkeiten besonders häufig herangezogen.73 Generell lässt sich jedoch sagen, dass formale Regularien wie Redezeiten und Debatten oft ad hoc ausgehandelt werden.74 Der Speaker oder sein Stellvertreter, welche beide der regierenden Partei angehören, leiten die Versammlung und üben dabei ein großzügig bemessenes Hausrecht gegenüber den Parlamentariern aus.

Es gibt sowohl redeparlamentarische als auch arbeitsparlamentarische Strukturen.75 In den Verfahren der Plenardebatte wirkt noch der englische Parlamentsstil nach. Um das Geschehen lebendig zu halten, ist es beispielsweise verboten, Reden vom Blatt abzulesen.76 Trotzdem existieren 40 Ausschüsse, welche abweichend vom britischen Stil meist langfristig angelegt sind. 34 davon entsprechen in ihrer Struktur den Ministerien. Sie werden durch besondere Ausschüsse, wie beispielsweise den Geschäftsordnungsausschuss oder den Sonderausschuss zu Kaschmir ergänzt. In der Regel hat ein Ausschuss 18 Mitglieder, der zugehörige Minister ist qua Amt vertreten. Die Ausschüsse werden wie im Westminstermodell teilweise erst nach Beauftragung des Plenums, teilweise aus eigenem Antrieb aktiv. Die Intensität der Arbeit unterscheidet sich allerdings je nach Engagement der Mitglieder. Zur Unterstützung der inhaltlichen Arbeit stehen eine Bibliothek mit etwa 60.000 Titeln und ein parlamentarischer Hilfsdienst zur Verfügung. Letzterer hat jedoch in den vergangenen 17 Jahren nur sehr spärlich Analysen, Reden oder Memos produziert.77 Die relativ geringe Ausstattung der Hilfsdienste bekräftigt die Annahme, dass arbeitsparlamentarische Strukturen nur mittelmäßig ausgeprägt sind. In seinem Aufbau und seinen Verfahrensregeln weist das pakistanische Parlament demnach eine Ambivalenz auf, die weniger eindeutige Rollenvorgaben vorgibt als in etablierten Demokratien.

Es existieren zwei Arten von Parlamentssitzen. Die Mehrzahl der Volksvertreter (272 Sitze) wird direkt, durch einfaches Mehrheitswahlrecht (FPTP),78 gewählt. Weiterhin gibt es noch so genannte reservierte Sitze, welche indirekt gewählt werden. Diese reservierten Sitze sind sowohl für Frauen (60 Sitze) als auch für religiöse Minderheiten (23 Sitze) vorgesehen. Die weiblichen Listenmandatare werden entsprechend der Mehrheitsverhältnisse der Parteien für jede der Provinzen besetzt. Folglich können weibliche Abgeordnete auf reservierten Sitzen nur durch die großen Parteien gewählt werden, während unabhängige Kandidatinnen keine Chancen haben. In dieser Studie wird bei den Angaben zu den Interviews zwischen den direkt gewählten Abgeordneten und den Listenkandidaten unterschieden, da das Fehlen eines Wahlkreises auf jeden Fall Einfluss auf die Amtsführung haben dürfte. In ihrer Parlamentsarbeit unterscheiden sich die beiden Arten von Parlamentariern nach Aussage von Experten wenig. So schreibt Syed Naveed Qamar, seit fast 20 Jahren Abgeordneter der PPP: „The only difference between the two categories is that the expectation and duties of constituency place extra pressures on the time of directly - elected members.” Trotzdem wird teilweise von Seiten der Öffentlichkeit ein besonderer Anspruch auch in der Parlamentsarbeit an die Inhaber der reservierten Sitze geäußert. Der Hintergedanke der Einführung reservierter Sitze war, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen eine bessere Vertretung bekommen sollten. Die Parlamentarierinnen sollen besonders issue - awareness in der Bevölkerung für die Stellung der Frau fördern. „Women parliamentarians, while dealing with issues of general public interest, also have a responsibility to raise gender specific issues in Parliament”, so Qamar.79 Sie werden folglich nicht nur nach ihrem Vote - Record bewertet, sondern nach ihrer Fähigkeit, Probleme von Frauen öffentlich zu machen. Einige Inhaber von Listenplätzen möchten die Unterschiede hingegen negieren und betonen, dass sich ihre Arbeit keinesfalls unterscheide. Insgesamt ist der Versuch der Listenplätze recht umstritten. Es bleibt momentan offen, welche Regelungen diesbezüglich in Zukunft gelten werden. Im folgenden Kapitel wird die Problematik reservierter Sitze aus Sicht der befragten Parlamentarier weiter ausgeführt.

Ein letzter Punkt, der zur Bewertung des pakistanischen Parlamentes wichtig erscheint, ist die Rolle und Stellung der Fraktionen. Die regierende PML - Q koaliert mit der MQM, der NA und der PPPP, einer Abspaltung der PPP. Engere Kontakte zur oppositionellen Partei MMA bestanden zeitweise, als Musharraf die Legal Framework Order abstimmen ließ. Die beiden wichtigsten oppositionellen Fraktionen sind die PPP und die PML - N, welche, wie bereits angesprochen, momentan stärker zusammen arbeiten. Neben den größeren Fraktionen existiert eine Vielzahl kleiner und kleinster Parteien. Diese sind teilweise aus Abspaltungen etablierter Parteien entstanden und teilweise völlig neu auf der politischen Bühne erschienen. Das Resultat ist eine sehr unruhige und unübersichtliche Lage im pakistanischen Parlament. Permanent droht dieser oder jener Flügel einer größeren Partei mit Abspaltung, schließen sich Abgeordnete mit anderen zusammen. „The rapid proliferation of the ‚alliances’ now seen is definitely unprecedented. Some of the alliances are formal and made in public, many are neither formal, nor made openly, nor earnestly”.80

4 Berufsmotive

In den folgenden Betrachtungen geht es um die Motivationsstruktur und das gesellschaftliche Bedingungsgefüge, welche der Kandidatur des Abgeordneten zu Grunde lagen. Es soll gezeigt werden, in welchen Ausprägungen sich parlamentarisches Amts- und Repräsentationsverständnis unter den Befragten finden lässt. Auch die Vorstellungen von der Rolle des Parlaments unterscheiden sich und speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Diese Rollenorientierungen können wiederum die entstehende Praxis des Handelns der Parlamentarier prägen. Inwieweit dies geschieht wird im Anschluss beleuchtet.

4.1 Grundlegende Einstellungen zum System

Das Amt eines Parlamentariers ist verbunden mit dem Aufwand der Kandidatur, des Wahlkampfes und geprägt von recht hoher Arbeitslast. In einem politischen System, wie Pakistan, in welchem die Volksvertreter eine relativ schwache Stellung innehaben, erhöht sich das Frustrationspotential noch. Wenn hier Abgeordnete untersucht werden, ist deshalb eine der zentralen Fragen, die, warum sie den Beruf eigentlich ausüben. Dabei sind zwei Faktoren zu berücksichtigen. Zum einen ist dies die generelle Einstellung des Abgeordneten zur Politik und dem politischen System, sozusagen der Kontext, in welchem der Volksvertreter arbeitet. Zum anderen spielen die ganz persönlichen Motive, die intrinsische Motivation, die den Befragten diesen Beruf ergreifen ließen.

Prinzipiell scheint es in Pakistan zwei grundlegende Einstellungen der Abgeordneten gegenüber dem politischen Geschäft zu geben: Optimisten und Enttäuschte. Während sich in Deutschland der Großteil der Parlamentarier relativ zufrieden mit der eigenen Tätigkeit zeigt, äußerten manche pakistanische Politiker eine tiefe Verbitterung über das eigene Wirken und die bestehenden politischen Verhältnisse.

(PPMAP, DM) It’s like Shakespeare said, a tale told by an idiot, signifying nothing. When you get up on the floor of the house you scream, you shout, but in the end when you sit down to analyze it and ask have you achieved anything, the answer is no. Have you made any contribution to the policy that has been made? No. Have you been able to help any single person? The answer is no.

[...]


1 William Shakespeare, Macbeth, 5. Akt, 5. Szene. Dieses Zitat nutzte ein MNA um seine Tätigkeit zu beschreiben.

2 Für weiteres siehe Kapitel 2.

3 Zum Design generativer Fragestellungen siehe Flick 2000, S. 259.

4 Siehe Wahlke 1962, S. 7.

5 Searing 1991, S. 1244.

6 Bandara 2006, S. 7.

7 Siehe Maier et al 1997, S. 21f.

8 Olson 1994, S. 18.

9 Fragebogen siehe Anhang.

10 Zu methodologischen Aspekten siehe Lamnek, S. 348-351.

11 Siehe Lamnek 2005, S. 265f.

12 Provinzen Pakistans, ländlich vs. urban. Vertreten sind NWFP, Baluchistan, Sindh und Punjab nicht aber die FATA und die Region Azad Kaschmir, für welche eigene Regeln politischer Vertretung gelten.

13 Zur Zusammensetzung der NA, siehe den statistischen Anhang.

14 Lamnek 2005, S. 266.

15 Zwei der Befragten wurden über reservierte Sitze gewählt, eine als Direktkandidatin.

16 Siehe Lamnek 2005, S. 266.

17 Fenno 1978, S. 254.

18 Siehe Anhang.

19 Siehe Strauss / Corbin 1996, S. 17.

20 Lamnek 2005, S. 349.

21 Siehe Esposito / Voll 1996, S. 102f.

22 Lewis 1993, S. 78.

23 Siehe dazu Wielands Minimaldefinition des Nationalismus als dynamisch-praktisches Prinzip der politischen Mobilisierung hin zu einer Staatsgründung. Wieland (2000), S. 64.

24 Siehe Esposito / Voll 1996, S. 103.

25 Weiss 1986, S. 21.

26 Siehe Enayat 1982, S. 126.

27 http://www.pakistani.org/pakistan/constitution.

28 So zum Beispiel die Debatte um die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau.

29 Als Notiz am Rande - Ayub argumentierte weiterhin, dass das heiße Klima des Landes eine Demokratie unmöglich machte, das State Department untersuchte daraufhin mehrere Monate lang in einer Kommission das Verhältnis von Politikgestaltung und Klima. Siehe Ali 1983, S. 63.

30 Maniruzzaman 1990, S. 249.

31 Solche militär-bürokratischen Komplexe werden von Juan Linz als notwendige Fassade pseudodemokratischer Strukturen unter den Bedingungen autoritärer Herrschaft beschrieben. Siehe Linz 2000, S. 158-65.

32 Kukreja 1991, S. 12f.

33 Die Sitzvergabe war entsprechend eines regionalen und ethnischen Repräsentationsprinzips geregelt.

34 The Gun = Militär, the Hat = Bürokrat, Ali 1983, S. 62.

35 Ali 1983, S. 81.

36 Ali 1983, S. 99.

37 Ziring 1980, S. 38.

38 Huntington 1969, S. 194.

39 Ali 1982, S. 138.

40 Yasmeen 2003, S. 192.

41 Siehe Merkel 1999, S. 28.

42 Siehe Schmiegelow 1997, S. 371.

43 Esposito / Voll 1996, S. 116.

44 Esposito / Voll 1996, S. 121.

45 Die Skala erstreckt sich von 1 (frei) bis 7 (unfrei). Alle Daten Merkel 2003, S. 51.

46 Er spricht von disillusionment and authoritarian nostalgia. Siehe Huntington 1991, S. 253ff.

47 Esposito / Voll 1996, S. 35.

48 Olson 1994, S. 1.

49 Siehe Loewenberg / Patterson 1979, S. 283-288.

50 Rivzi 2005, S. 8.

51 Im Unterschied zu Rom ist die Zeitdauer jedoch nicht eindeutig festgelegt. Sowohl Ayub als auch

Musharraf beanspruchten 5 Jahre, was freilich deutlich länger als die in Rom üblichen 6 Monate ist.

52 Vgl. Linz 2000, S. 181.

53 Folglich auch die Wahlen zum Parlament in jeder der 4 Militärregierungen (1962, 1970, 1985, 2002).

54 Waseem 2006, S. 32.

55 The Daily Times, 30. Mai 2006. Editorial: Sifting Musharraf’s good Points.

56 Siehe Waseem 2006, S. 81.

57 Siehe Waseem 2006, S. 111.

58 Vor allem im Rahmen der Operation Enduring Freedom in Afghanistan, NWFP und Waziristan (pak.- afgh.Grenzgebiet).

59 Teilweise wird auch im Ausland (z.B. der Schweiz) wegen Korruption gegen Frau Bhutto ermittelt. Siehe Jafri 2002, S. 105.

60 The Daily Times, 31. Mai 2006, S. 1, Charter has secured Country’s Future, says Nawaz Sharif.

61 The News, 06. Mai 2004. S. 3, Kommentar: Pakistan and Democracy, von Adil Najam.

62 Siehe Merkels Dimensionen defekter Demokratien, Merkel 2003, S. 24f.

63 So zum Beispiel Ehrenmorde an Frauen, Gefängnisstrafen für Kinder unter 14 Jahren, mangelnder Schutz vor Repression staatlicher Organe wie dem ISI, ungeklärte Morde an Journalisten.

64 Waseem 2006, S. 31. Der Autor setzt die Subordination in Kontrast zum britischen Unterhaus als ko- ordininierte Legislatur.

65 Zur Unterscheidung von Legislative und Parlament siehe Steffani 1991, S. 301.

66 Zur Unterscheidung Parlament vs. Legislative siehe Patzelt 2003, S. 15.

67 Der Senat hat 100 Mitglieder, welche von den Provinzparlamenten entsandt werden.

68 Mehboob 2004, S. 75.

69 Mehboob 2004, S. 24.

70 Salim 2002, S. 8.

71 Qamar 2006, S. 8.

72 Lowenberg / Patterson 1979, S. 25.

73 Kaul ist ehemaliger Secretary der Lok Sabha (indisches Unterhaus), seine Schriften gelten als wegweisend in Verfahrensfragen des südasiatischen Parlamentarismus. Siehe Qamar 2006, S. 10.

74 Masood 2004, S. 12.

75 Zu Modellen und Vergleichskategorien von Parlamenten siehe Olsen, S. 11, sowie S. 58.

76 Siehe Qamar 2006, S. 9.

77 500 Dokumente zwischen 1988 und 2003. Zur unterstützenden Infrastruktur siehe Mehboob 2004, S. 76f.

78 First Past The Post System, d.h. wer die meisten Stimmen hat, gewinnt.

79 Qamar 2006, S. 14.

80 Jafri 2002, S. xi.

Final del extracto de 151 páginas

Detalles

Título
Berufsmotive und Amtsführung pakistanischer Abgeordneter
Universidad
Dresden Technical University  (Institut für Politikwissenschaft)
Calificación
1,0
Autor
Año
2006
Páginas
151
No. de catálogo
V85016
ISBN (Ebook)
9783638891301
ISBN (Libro)
9783638891349
Tamaño de fichero
1488 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Berufsmotive, Amtsführung, Abgeordneter
Citar trabajo
Cathleen Bochmann (Autor), 2006, Berufsmotive und Amtsführung pakistanischer Abgeordneter, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85016

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