Der Einfluß von Dehnungsmethoden auf Leistungsfähigkeit und Verletzungsprävention im Sport

Ein systematischer Review


Mémoire de Maîtrise, 2006

140 Pages, Note: 1,5


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen der Beweglichkeit
2.1 Beweglichkeit in der Struktur der motorischen Fähigkeiten
2.2 Formen der Beweglichkeit
2.3 Leistungsbestimmende Faktoren der Beweglichkeit
2.3.1 Faktoren des passiven Bewegungsapparates – die konstitutionelle Komponente
2.3.2 Faktoren des aktiven Bewegungsapparates – die koordinative und die konditionelle Komponente
2.3.2.1 Beeinflussung der Dehnfähigkeit durch die zentralnervöse Versorgung der Muskulatur – Steuerung des Muskeltonus, Funktionsweise von Muskel- und Sehnenreflexen
2.3.2.2 Die Dehnfähigkeit der Muskulatur als physiologische Grundlage der Beweglichkeit
2.3.3 Weitere leistungsbestimmende Faktoren der Beweglichkeit
2.3.4 Zusammenfassung
2.4 Verschiedene Methoden für das Training der Beweglichkeit
2.4.1 Entwicklung verschiedener Methoden zur Muskeldehnung
2.4.2 Differenzierung der Dehnungsmethoden und –techniken
2.4.3 Belastungsfaktoren und Beweglichkeitstraining
2.4.4 Erwartete und tatsächliche Effekte von Dehnungstechniken

3 Grundlagen von Evidence- based Medicine
3.1 Ursprung der Evidence- based Medicine
3.2 Begriffsbestimmung und Vorgehensweise
3.3 Anwendungsgebiete von EBM
3.4 Kritische Stellungnahmen
3.5 Zusammenfassung

4 Methodik
4.1 Der systematische Review
4.2 Forschungsziel und Hypothesen
4.3. Durchführung des Reviews
4.3.1 Auswahlkriterien zur Studienselektion
4.3.2 Literatursuche und Methoden der Datenbeschaffung
4.3.3 Ergebnisse der Literatursuche
4.3.4 Studienbewertung – methodische Qualität
4.3.4.1 Bewertungssysteme 89
4.3.5 Studienbewertung – statistische Bearbeitung und Darstellung
4.4 Darstellung der Ergebnisse
4.4.1 Dehnung und Verletzungsprävention
4.4.2 Dehnung und Leistungsfähigkeit
4.5 Diskussion

5 Zusammenfassung

6 Verzeichnisse

7 Anhang

1 Einleitung

Übungen zur Dehnung der Muskulatur sind im Sport weit verbreitet. Die meisten Leistungssportler dehnen ihre Muskeln vor und nach einer Trainingseinheit oder einem Wettkampf und auch Freizeitsportler, die Sport und körperliche Aktivität nicht wettkampforientiert, sondern unter dem Aspekt der Förderung der Gesundheit betreiben, führen Dehnungsübungen durch. Sie sind ein elementarer Bestandteil von breiten-, leistungs- und gesundheitssportlichen Aktivitäten.

Ähnlich wie ein Ritual, das durch einen festen, kulturell verankerten Ablauf gekennzeichnet ist, läuft die Dehnung während der Erwärmung oder der Regeneration des Körpers nach einer körperlichen Belastung immer auf die gleiche Weise ab, ohne dass die Sportler über die genauen Wirkungen dieser Übungen Bescheid wissen.

Spätestens seit das als Stretching bezeichnete statische Dehnen in den 1980er Jahren populär wurde und sich neben dem dynamischen Dehnen etablierte wird immer wieder über die Wirkung des Dehnens und der verschiedenen Dehnungstechniken diskutiert. Welche Wirkungen versprechen sich Sportler von der Anwendung von Dehnungstechniken?

Allgemein soll durch Dehnung die motorische Fähigkeit trainiert werden, Bewegungen mit einer optimalen Schwingungsweite der Gelenke auszuführen, die als Beweglichkeit bezeichnet wird. Während die Wirkungen von Methoden des Ausdauer-, Kraft- oder Schnelligkeitstrainings auf das Herz- Kreislauf- und Muskel- Skelett- System weitestgehend erforscht und durch Studien mit einer hohen Beweiskraft belegt sind fehlen solche wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Wirkungen von Dehnung. Der Einsatz von Dehnungstechniken in der Praxis basiert deshalb vor allem auf Erfahrung und auf Glaubensbekenntnissen sogenannter Dehnungsexperten.

Von zahlreichen erwarteten Wirkungen des Dehnens kann aufgrund der Ergebnisse von experimentellen Untersuchungen definitiv davon ausgegangen werden, dass eine Dehnung die Beweglichkeit durch eine Vergrößerung der Bewegungsreichweite der Gelenke und eine Erhöhung der Dehnfähigkeit der Muskulatur verbessert. Die darüber hinaus am häufigsten erwarteten Effekte von Dehnung sind die Abnahme der Ruhespannung des Muskels, die Verlängerung von verkürzten Muskeln, die Beseitigung muskulärer Dysbalancen sowie die Prävention von Verletzungen und die Verbesserung der Leistungsfähigkeit.

In der vorliegenden Arbeit wird nach wissenschaftlichen Beweisen für die erwarteten Effekte von Dehnung auf Verletzungen und Leistungsfähigkeit gesucht, aus denen Empfehlungen für den sinnvollen Einsatz von Dehnungstechniken in der Praxis abgeleitet werden sollen.

Es ist das Ziel des systematischen Reviews, durch eine Recherche in Literaturdatenbanken und eine Handsuche in medizinischen Fachzeitschriften wissenschaftliche Studien zu finden, die den definierten Auswahlkriterien entsprechen, um eine Beurteilung der methodischen Qualität und eine Analyse der Studienergebnisse durchzuführen. Anhand der Zusammenfassung der Beweiskraft der einzelnen Studien soll die Fragestellung beantwortet werden, ob Dehnung einen Einfluss auf die Verletzungsprävention und die Leistungsfähigkeit im Sport hat und welche Rolle die angewendete Dehnungstechnik und der Zeitpunkt der Durchführung spielen.

Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden zum allgemeinen Verständnis die theoretischen Grundlagen der Beweglichkeit erläutert.

Die Einordnung der Beweglichkeit in die Struktur der motorischen Fähigkeiten wird differenziert betrachtet und verschiedene Modelle zur Systematisierung werden vorgestellt (Kapitel 2.1). Neben der Gelenkigkeit wird Beweglichkeit vor allem durch die Dehnfähigkeit der Muskulatur bestimmt. Die Beeinflussung der Dehnfähigkeit durch die zentralnervöse Versorgung der Muskulatur und die mechanischen Eigenschaften der Muskelfasern basiert auf komplexen Abläufen und wird deshalb umfangreich beschrieben (Kapitel 2.3.2.1, Kapitel 2.3.2.2).

Im Kapitel 2.4 werden die verschiedenen Dehnungstechniken und ihre erwarteten und tatsächlichen Effekte beschrieben.

Im Kapitel 3 wird die Methode der Evidence- based Medicine vorgestellt, da sie neben der Medizin erst in jüngster Zeit in weiteren wissenschaftlichen Disziplinen angewendet wird und ein systematischer Review einen Beitrag zum expliziten und kritischen Gebrauch von wissenschaftlichen Beweisen darstellt.

Im Anschluss daran folgt der Methodikteil (Kapitel 4), in dem die Fragestellungen formuliert (Kapitel 4.2) und die Auswahlkriterien für die Studienselektion definiert werden (Kapitel 4.3). Die methodische Qualität der ausgewählten Studien wird im Kapitel 4.4 anhand der zuvor beschriebenen Bewertungssysteme beurteilt und die Effektgrößen werden bestimmt, um die praktische Bedeutsamkeit der Studienergebnisse abschätzen zu können. Am Ende des Methodikteils werden die Ergebnisse der selektierten Studien interpretiert.

„ The practice of stretching is so widespread in sports, the arts, and in general fitness programs that it is remarkable that no more basic science background exists to guide the rational use of stretching”

(Taylor et al., 1990)

2 Theoretische Grundlagen der Beweglichkeit

2.1 Beweglichkeit in der Struktur der motorischen Fähigkeiten

Motorische Fähigkeiten wie Ausdauer oder Beweglichkeit, die auch als motorische Grundeigenschaften (Martin, 1977) oder motorische Beanspruchungsformen (Hollmann & Hettinger, 2000) bezeichnet werden, bilden die allgemeine Voraussetzung für Bewegungen.

Nach Gundlach (1968, zitiert nach Martin, Carl & Lehnertz, 1993) sind Fähigkeiten „eher angeborene und im Lebensvollzug entwickelte Voraussetzungen und Dispositionen für das Zustandekommen von Leistungen“. Grosser und Zintl (1994, S. 10) betonen, dass motorische Fähigkeiten nicht ausschließlich als angeboren zu verstehen sind, da sie sich vor allem in der sportlichen Tätigkeit herausbilden und entwickeln.

Ausdauer als angeborene Fähigkeit entwickelt sich erst auf der Grundlage der sportlichen Aktivität, beispielsweise der sportartspezifischen Belastung eines 1500m Läufers, die zur Entwicklung der Kurzzeitausdauerfähigkeit führt. Beweglichkeit ist ebenfalls bis zu einem gewissen Grad angeboren, entwickelt sich aber erst im Lebensvollzug bzw. durch die sportliche Tätigkeit. So wird eine Sportart wie das Turnen die Beweglichkeit durch eine Vergrößerung der Gelenkreichweite wesentlich verbessern.

Je besser die motorischen Fähigkeiten entwickelt sind, desto schneller verläuft die Ausbildung von motorischen Fertigkeiten (vgl. Diessner, 1968, zitiert nach Meinel & Schnabel, 2004, S. 201), der koordinativ- technischen Leistungsvoraussetzungen einer Bewegung, die durch wiederholtes Üben erlernt, gefestigt und letztendlich automatisiert werden sollen. Motorische Fertigkeiten, die besonders stark durch die Beweglichkeit bestimmt werden sind z.B. der Spagat, bestimmte Sprungtechniken im Bodenturnen, die Technik des Speerwurfs oder spezielle Dribblings und Täuschungshandlungen in Spielsportarten.

Beweglichkeit kann als motorische Fähigkeit verstanden werden, die sich auf das Bewegungsausmaß der Gelenksysteme des Körpers bezieht. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung der Alltagsmotorik sowie die Ausübung sportartspezifischer Bewegungsformen und Techniken und besitzt einen leistungsbestimmenden Charakter für Sportarten, in denen Bewegungen mit großen Gelenkamplituden durchgeführt werden.

Beweglichkeit beschreibt die Fähigkeit, Bewegungen mit einer optimalen Schwingungsweite der Gelenke auszuführen.

Hollmann und Hettinger (2000, S. 152) definieren Beweglichkeit bzw. Flexibilität als den willkürlich möglichen Bewegungsbereich in einem oder mehreren Gelenken.

In der Begriffsbestimmung von Weineck (2002, S. 316) wird die Unterscheidung in aktive und passive Beweglichkeit hervorgehoben, indem er sie als die Fähigkeit und Eigenschaft bezeichnet, „Bewegungen mit großer Schwingungsweite selbst oder unter dem Einfluss äußerer Kräfte in einem oder mehreren Gelenken ausführen zu können“.

„Beweglichkeit im engeren Sinne wird als die Fähigkeit verstanden, Körper- und Gliedmaßenbewegungen mit derjenigen Amplitude ausführen zu können, die von den anatomischen Strukturen des passiven Bewegungsapparates [Gelenkigkeit] und der Dehnfähigkeit der Muskulatur, die man zum aktiven Bewegungsapparat rechnet, zugelassen wird“ (Klee & Wiemann, 2005, S. 8).

Die genannten engeren Begriffsdefinitionen betonen die konstitutionelle und die konditionelle Komponente der Beweglichkeit.

Fetz (1972, zitiert nach Bös & Mechling, 1983, S. 198) unterscheidet davon eine weite Begriffsdefinition, die koordinative Grundlagen der Beweglichkeit wie motorische Reaktionsfähigkeit und psychomotorische Anpassungsfähigkeit in den Mittelpunkt rückt. So zählen Gundlach (1968) und Mattausch (1973) die Beweglichkeit zu den koordinativ determinierten Fähigkeiten (vgl. Bös & Mechling, 1983, S. 198).

Die koordinative Komponente wird in der Definition berücksichtigt, die Beweglichkeit als Fähigkeit beschreibt, „die anatomisch vorgegebene und durch konditionelle Eigenschaften geprägte Amplitude der Gelenke im Laufe von Bewegungen geschickt, zielsicher und zweckmäßig auszuschöpfen“ (Klee & Wiemann, 2005, S. 8).

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen die Schwierigkeit einer Einordnung der Beweglichkeit in die Struktur der motorischen Fähigkeiten Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination, da die Beweglichkeit neben einer konstitutionellen Komponente sowohl konditionell- energetisch als auch koordinativ- informationell determiniert ist.

Martin, Carl und Lehnertz (1993, S. 88-89) weisen auf die konditionelle und koordinative Komponente der Beweglichkeit hin, ordnen sie aber „aus trainingsmethodischen und systematisierenden Gründen“ den konditionellen Fähigkeiten zu.

Meinel und Schnabel (2004, S. 227) vertreten die Ansicht, dass der Beweglichkeit eine Zwischenstellung in der Struktur der motorischen Fähigkeiten zukommt und rechnen sie somit nicht eindeutig zu den konditionellen oder zu den koordinativen Fähigkeiten. Sie definieren Beweglichkeit als „Voraussetzung zum Erreichen hinreichend großer Amplituden in der Exkursion der Gelenke bei der Ausführung von Bewegungen oder der Einnahme bestimmter Haltungen“ (Meinel & Schnabel, 2004, S. 226).

In den meisten trainingswissenschaftlichen Veröffentlichungen überwiegt die Auffassung, dass Beweglichkeit zumindest eine teilweise koordinativ bedingte Fähigkeit ist

Bevor die Grundlagen bzw. Komponenten der Beweglichkeit genauer erläutert werden, wird die Stellung der Beweglichkeit in der Struktur der motorischen Fähigkeiten anhand verschiedener Systematisierungen dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Gliederung der sportmotorischen Fähigkeiten (nach Grosser & Zintl, 1994, S. 10)

Die Abbildung macht deutlich, dass es aufgrund der Bezüge der einzelnen Fähigkeiten untereinander einige Überschneidungsbereiche gibt, die als konditionell- koordinative Fähigkeiten dargestellt werden.

Um eine klare Grenze zwischen Kondition und Koordination zu ziehen, spricht Bös (1994, zitiert nach Hohmann, Lahmes & Letzelter, 2003, S. 48) von Koordination nur dann, wenn Bezüge zu konditionellen Fähigkeiten weitestgehend auszuschließen sind. Diese Differenz ist jedoch immer streitbar, denn auch die Leistung in einer technisch- kompositorischen Sportart wie z.B. dem Bodenturnen wird trotz höchster Anforderungen an die koordinativen Fähigkeiten immer auch durch konditionelle Komponenten wie etwa die Kraftausdauerfähigkeit bestimmt. Anders herum wird auch eine hauptsächlich konditionell geprägte Sportart wie der Radsport durch koordinative Leistungsvoraussetzungen bestimmt, wie z.B. die Rhythmus- und Gleichgewichtsfähigkeit oder die intermuskuläre Koordination.

Auch Hohmann, Lahmes und Letzelter (2003, S. 50) beschreiben die Schwierigkeit der Strukturierung der Leistungsvoraussetzungen aufgrund einer Reihe von „unscharfen Übergängen“. Neben der erwähnten Überschneidung von Kondition und Koordination heben sie die Überschneidungsbereiche von Kondition und Beweglichkeit sowie Beweglichkeit und Koordination hervor. Ihre Systematik verzichtet im Vergleich zu Abb. 1 auf die Darstellung der einzelnen Komponenten der jeweiligen Fähigkeiten und rückt die Wechselbezüge von Kraft, Schnelligkeit und Beweglichkeit in den Mittelpunkt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Systematisierung der Kondition und Koordination (nach Hohmann et al., 2003, S. 50)

Die Abb. 3 von Bös (1987, aus Banzer, Pfeifer & Vogt, 2004, S. 73) zählt Beweglichkeit weder zu den konditionellen noch zu den koordinativen Fähigkeiten, sondern betrachtet sie als konstitutionelle Fähigkeit, die weitestgehend von den anatomischen Strukturen des passiven Bewegungsapparates bestimmt wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Systematisierung motorischer Fähigkeiten (nach Bös, 1987, in Banzer, Pfeifer & Vogt, 2004, S. 73)

(AA Aerobe Ausdauer, AnA Anaerobe Ausdauer, KA Kraftausdauer, MK Maximalkraft, SK Schnellkraft, AS Aktionsschnelligkeit, RS Reaktionsschnelligkeit, KZ Koordination unter Zeitdruck, KP Koordination bei Präzisionsaufgaben, B Beweglichkeit)

Die auch als Gelenkigkeit bezeichneten konstitutionellen Fähigkeiten wie der anatomische Bau der Gelenke sind im Gegensatz zu Kondition und Koordination nicht trainierbar, weshalb Beweglichkeit in dem Modell von Bös ohne Überschneidungsbereiche den passiven Systemen der Energieübertragung zugeordnet wird.

Bös versteht Beweglichkeit als Einflussvariable bei der Realisierung motorischer Fähigkeiten, die aber aufgrund ihres passiven Charakters selbst keine motorische Fähigkeit darstellt. Mit dieser Sichtweise berücksichtigt er jedoch nicht ausreichend, dass die Schwingungsweite eines Gelenks neben den anatomischen Strukturen des passiven Bewegungsapparates auch durch Prozesse der Energieübertragung und durch sensomotorische Steuerungs- und Regelungsvorgänge bestimmt wird. Allerdings verweisen Hohmann et al. (2003, S. 97) auf Untersuchungen, die eine engere Beziehung der Beweglichkeit zu den Körperbaumerkmalen als zu konditionellen oder koordinativen Fähigkeiten feststellen und somit das Modell von Bös unterstützen.

2.2 Formen der Beweglichkeit

allgemeine vs. spezielle Beweglichkeit:

Eine durchschnittliche oder ausreichende Schwingungsweite in den wichtigsten Gelenksystemen wird als allgemeine Beweglichkeit bezeichnet. Nach Martin, Carl und Lehnertz (1993, S. 215) besitzt dieses normale Maß keine Bedeutung für die sportliche Leistung und muss deshalb vom Athleten überschritten werden.

Sportliche Aktivität und insbesondere der Leistungssport löst (sportart-)spezifische Anpassungen der Beweglichkeit aus, die als spezielle Beweglichkeit bezeichnet werden. So ist die motorische Beanspruchung im Fußball oder in leichtathletischen Sprintdisziplinen durch starke Muskelaktivitäten der Hüftbeuger M. rectus femoris[1], M. iliacus und M. psoas major[2] gekennzeichnet. Ein weiteres Beispiel für die spezielle Beweglichkeit, die durch die Beweglichkeitsanforderungen einer Sportart bestimmt wird, ist die Hyperflexibilität von Kunstturnern. Bei dieser oftmals unphysiologischen Beweglichkeit wird das Bewegungsausmaß der Gelenke maximal ausgeschöpft.

Im Gegensatz zur allgemeinen Beweglichkeit bezieht sich die spezielle Beweglichkeit meist auf ein bestimmtes Gelenk, z.B. das Schultergelenk des Speerwerfers oder das Hüftgelenk des Hürdenläufers. Sie kann durch Maßstäbe, die sich aus der sportartspezifischen Anforderung ergeben, z.B. die Hüfbeugefähigkeit eines Hürdensprinters, genau bestimmt werden.

aktive vs. passive Beweglichkeit:

Gelenkamplituden können durch willkürliche Kontraktion der gelenkumgebenden Muskulatur erreicht werden. Eine Dehnung der Antagonisten[3] wird hierbei durch die Kontraktion der Agonisten[4] ausgelöst. Beispielsweise erfolgt bei aktiver Beugung des Kniegelenks durch Kontraktion der Mm. ischiocrurales[5] eine Dehnung des M. quadriceps femoris[6]. Diese aus eigener Kraft bzw. durch Muskelaktivität erreichten Gelenkreichweiten sind Ausdruck der aktiven Beweglichkeit.

Wird die Gelenkamplitude nicht durch Muskelkontraktion, sondern durch Einwirkung äußerer Kräfte erreicht spricht man von passiver Beweglichkeit. Die Dehnung der Antagonisten wird in diesem Fall durch Schwer-, Trägheits-, Fliehkräfte oder die Muskelkraft eines Partners ausgelöst.

Die durch äußere Kräfte erreichte Gelenkamplitude ist stets größer als die aktive Beweglichkeit. So kann z.B. das Knie durch einen Partner oder das eigene Umfassen des Sprunggelenks stärker gebeugt werden als dies bei bloßer Kontraktion der ischiocruralen Muskulatur der Fall ist. Die Differenz von aktiver und passiver Beweglichkeit wird als Bewegungsreserve[7] bezeichnet (Frey, 1977, zitiert nach Weineck, 2002, S. 317) und gibt Aufschluss über Verbesserungsmöglichkeiten der aktiven Beweglichkeit.

Neben diesen beiden Formen bezeichnet die anatomische Beweglichkeit als theoretische Größe die Gelenkreichweiten, die nach „Entfernen der Muskulatur“ am passiven Bewegungsapparat möglich wären. Nach Schnabel, Harre und Borde (1998, S. 123) kann die passive Beweglichkeit bis zu 90% der anatomischen Beweglichkeit erreichen.

Weiterhin kann zwischen einer dynamischen und einer statischen Form der Beweglichkeit unterschieden werden. Diese Unterscheidung bezieht sich vor allem auf die Durchführung der verschiedenen Dehnungstechniken, die im Kap. 2.4 vorgestellt werden. Bei statisch durchgeführten Dehnungen wird eine große Gelenkamplitude für mehrere Sekunden beibehalten und beim dynamischen Dehnen bzw. der dynamischen Beweglichkeit wird die Amplitude durch schwungvolle Bewegungen erreicht. Sowohl bei dynamischer als auch bei statischer Beweglichkeit kann wiederum eine aktive, durch Antagonistenkontraktion erreichte Form und eine passive, durch äußere Kräfte erreichte Form unterschieden werden.

2.3 Leistungsbestimmende Faktoren der Beweglichkeit

2.3.1 Faktoren des passiven Bewegungsapparates – die konstitutionelle Komponente

Wie in Abb. 1 dargestellt setzt sich Beweglichkeit aus den Komponenten Gelenkigkeit und Dehnfähigkeit zusammen.

Die Gelenkigkeit wird vorwiegend durch die anatomischen Strukturen des passiven Bewegungsapparates bestimmt und kann auch als konstitutionelle Komponente der Beweglichkeit bezeichnet werden. Hohmann, Lahmes und Letzelter (2003, S. 97) beschreiben Gelenkigkeit als „eine im wesentlichen durch die Konstitution des Sportlers geprägte körperliche Eigenschaft“.

Die konstitutionelle Komponente ist von folgenden leistungsbegrenzenden Faktoren abhängig (u.a. Hollmann & Hettinger, 2000, Weineck, 2002, Meinel & Schnabel, 2004, Klee & Wiemann, 2005):

- Gelenkstruktur (nicht beeinflussbar),
- Dehnfähigkeit der Sehnen, Bänder, Gelenkkapseln und Haut (wenig beeinflussbar),
- Umfang der Muskelmasse (beeinflussbar).

Der anatomische Bau eines Gelenks bzw. die Gelenkstruktur bezieht sich auf die Gestalt der gelenkbildenden Knochen und Gelenkflächen, die anlagebedingt und somit individuell verschieden ist und außerdem von Gelenk zu Gelenk variiert. Die Bewegungsmöglichkeiten werden durch den jeweiligen Gelenktyp und dessen sogenannte Freiheitsgrade bestimmt, die sich aus der Anzahl der Gelenkachsen ergeben. So besitzt ein Kugelgelenk wie das Schultergelenk Bewegungsmöglichkeiten um drei Achsen in allen drei Dimensionen, die in einem Scharniergelenk wie dem Ellenbogengelenk aufgrund einer geringeren Zahl an Freiheitsgraden niemals möglich sein werden.

Nach Hollmann und Hettinger (2000) oder Meinel und Schnabel (2004) ist die Gelenkstruktur ein nicht beeinflussbarer Faktor der Beweglichkeit. Dagegen zeigen Untersuchungen von Berquet (1979, zitiert nach Weineck, 2002, S. 318) an Balletttänzerinnen, dass es durchaus möglich ist, Gelenkstrukturen durch entsprechende Übungen zu beeinflussen. So ist die erhöhte Beweglichkeit der Balletttänzerinnen im Hüftgelenk auf eine belastungsinduzierte Gelenkveränderung zurückzuführen. Dennoch herrscht in der trainingswissenschaftlichen und sportmedizinischen Fachliteratur Einigkeit darüber, dass die Gelenkflächen selbst durch Training nicht beweglicher werden und ein Beweglichkeitstraining somit keine Veränderungen der Anatomie eines Gelenks auslösen kann.

Die Ursachen der Erreichung einer anormalen Beweglichkeit von Leistungsturnerinnen oder sogenannten Schlangenmenschen liegen in Anpassungen des Bandapparates, der Gelenkkapseln und im Zeitpunkt des Trainingsbeginns. Im Kindesalter sind die Eigenschaften der anatomischen Strukturen des passiven Bewegungsapparates am günstigsten, um eine Hypermobilität zu erreichen. Durch intensive Dehnungsübungen von früher Kindheit an werden die Längsbänder der Wirbelsäule stark überdehnt und die Bandverbindungen der kleinen Wirbelgelenke gelockert (Steinbrück, 1979, zitiert nach Hollmann & Hettinger, S. 157), woraufhin extreme Flexions- und Extensionsbewegungen der Wirbelsäule möglich werden. Tittel (2003, S. 91) weist auf das häufige Auftreten einer Osteochondrose[8] im Zusammenhang mit einer Hypermobilität der Wirbelsäule hin.

Die beschriebene Dehnfähigkeit von Bändern und Gelenkkapseln ist wie die Dehnfähigkeit von Sehnen und der Haut nur geringfügig durch Training zu beeinflussen, da Sehnen, Bänder und Kapseln vor allem gelenkstabilisierende Funktionen haben und deshalb nicht so stark verformt werden können wie die Muskeln. Während die stark dehnfähigen muskulären Strukturen bis zu 160% der Ruhelänge gedehnt werden können (siehe Kap. 2.3.2.2, S. 32) zeigen die Sehnen mit einer Längenzunahme von maximal 5% eine geringe Nachgiebigkeit (vgl. Knebel, 1985, S. 89-90). Ein entsprechendes Beweglichkeitstraining zielt dennoch darauf ab, die mechanische Belastbarkeit und die Dehnfähigkeit dieser Strukturen des passiven Bewegungsapparates zu verbessern (vgl. Froböse & Fiehn, in Froböse, Nellessen & Wilke, 2003, S. 74).

Der Umfang der Muskelmasse eines Menschen ist ein weiterer konstitutioneller Faktor, der sich leistungsbegrenzend auf die Beweglichkeit auswirken und im Gegensatz zu den anderen Faktoren beeinflusst werden kann. So stellt die Vergrößerung der Muskelmasse bzw. die Zunahme des Muskelfaserquerschnitts ein wesentliches Trainingsziel des Krafttrainings dar, das bei entsprechenden Krafttrainingsmethoden durch eine Hypertrophie[9] der Muskelfasern erreicht wird (vgl. u.a. Schmidtbleicher, 1987, Badtke, 1999, Tidow, 1999, Boeckh- Behrens & Buskies, 2002). Der Muskelmassenumfang ist zwar durch Training zu beeinflussen, zählt aber dennoch zu den konstitutionellen Faktoren, da er Ausdruck eines „äußeren Zustandes“ des Körpers bzw. der sogenannten Körperzusammensetzung (body composition) ist.

Die Muskelmasse kann der Fortsetzung einer Bewegung im Weg stehen, beispielsweise, wenn ein großer Oberarmumfang die maximale Beugung des Ellenbogengelenks verhindert. Bei muskelkräftigen Menschen wie Gewichthebern wird die Gelenkbeweglichkeit der Schulter häufig durch die Muskelmasse gehemmt (Meinel & Schnabel, 2004, S. 227). Klee und Wiemann (2005, S. 23) schreiben in diesem Zusammenhang von einer Massenhemmung, die bei der erwähnten Beugung des Ellenbogengelenks durch das Aufeinandertreffen der Unterarmvorderseite mit der Muskelmasse der Oberarmvorderseite ausgelöst wird.

Obwohl die Muskulatur zum aktiven Bewegungsapparat gehört, ist der Umfang der Muskelmasse ein passiver Faktor der Beweglichkeit, der im Moment einer Gelenkbewegung die Schwingungsweite nicht durch Kraft oder Muskeldehnfähigkeit, sondern einzig durch den Querschnitt des Muskels einschränkt.

2.3.2 Faktoren des aktiven Bewegungsapparates – die koordinative und die konditionelle Komponente

Sowohl die koordinativen als auch die konditionellen Grundlagen der Beweglichkeit als Faktoren des aktiven Bewegungsapparates können durch Training beeinflusst werden.

Nach Knebel (1985, zitiert nach Schnabel, Harre & Borde, 1998, S. 126) kann durch Training Einfluss auf Muskeln und Bindegewebe, auf den Gelenkstoffwechsel sowie auf sensomotorische Regulations- und psycho-vegetative Aktivierungsprozesse genommen werden, nicht jedoch auf Faktoren des passiven Bewegungsapparates wie die Gelenkform.

Beide Komponenten werden aus funktionellen Gründen gemeinsam in einem Abschnitt dargestellt, da sie zum Einen beide trainierbar sind und sich zum Anderen auch gegenseitig beeinflussen. Ein dritter Grund ist die unterschiedliche Zuordnung des bedeutenden Faktors der muskulären Dehnfähigkeit zu Konstitution, Kondition oder Koordination innerhalb der relevanten Literatur. In diesen Unterschieden kommt wiederum die Komplexität der motorischen Fähigkeit Beweglichkeit zum Ausdruck.

Schnabel et al. (1998, S. 124) zählen die Dehnfähigkeit von Muskeln zur konstitutionellen Grundlage der Beweglichkeit und Wydra (zitiert nach Bös & Brehm, 1998, S. 167) bezeichnet sie als nicht- energetische Eigenschaft. Dehnfähigkeit ist in gewisser Hinsicht von konstitutionellen Faktoren wie dem Aufbau und den damit verbundenen Eigenschaften der Muskulatur abhängig. Darüber hinaus wird sie aber auch durch senso- motorische und konditionelle Faktoren beeinflusst (Klee & Wiemann, 2005). In den Punkten 2.3.2.1 und 2.3.2.2 wird ausführlich beschrieben, wie die Dehnfähigkeit durch zentralnervöse Prozesse und durch die mechanischen Eigenschaften der Muskulatur beeinflusst wird.

Insgesamt wirken sich folgende Faktoren des aktiven Bewegungsapparates auf die Beweglichkeitsleistung aus:

- Kraftfähigkeit der Agonisten (bei aktiver Beweglichkeit),
- Intermuskuläre Koordination,
- Muskeltonus/ Entspannungsfähigkeit,
- Muskel- und Sehnenreflexe,
- Dehnfähigkeit der Muskulatur.

Konditionell bedingt ist die Beweglichkeit vor allem durch die Kraft der bewegenden Muskeln, die bei der aktiven Beweglichkeit von Bedeutung für die Schwingungsweite eines Gelenks ist. Meinel und Schnabel (2004, S. 227) verdeutlichen die Funktion dieses energetisch- konditionellen Faktors für die aktive Beweglichkeit am Beispiel des Hürdenschritts. So hängt die Ausführung des Hürdenschritts, bei dem eine Extension des Knies und eine Flexion der Hüfte erfolgt, neben der Dehnfähigkeit der Mm. ischiocrurales und der Glutäen[10] von einer hohen Kraftfähigkeit der Agonisten M. iliacus, M. psoas major und M. quadriceps femoris ab.

Ähnlich wie Schnelligkeits- und Kraftleistungen wird auch Beweglichkeit durch die intermuskuläre Koordination im Sinne eines optimalen Zusammenspiels der verschiedenen Muskelgruppen bestimmt. Diese neuromuskulären bzw. sensomotorischen Steuerungs- und Regelungsprozesse sollen ein zeitlich und graduell genau dosiertes Wechselspiel von Anspannung und Entspannung der Muskeln gewährleisten. Damit z.B. eine optimale Beweglichkeit des Schultergelenks beim Speerwurf erreicht wird, müssen alle Muskeln, die die Bewegungsleistung vollbringen und den Antagonisten dehnen, im richtigen Moment mit genau dosierter Stärke kontrahieren und alle Gegenspieler müssen sich zur rechten Zeit entspannen. In der Phase der Abwurfbewegung des Speers muss die Kontraktion von Brust-, vorderer Schulter- und Armstreckmuskulatur sowohl zeitlich als auch graduell optimal mit der Entspannung von Rücken-, hinterer Schulter- und Armbeugemuskulatur koordiniert sein. Bei einem guten Zusammenspiel von Agonisten und Antagonisten sind größere Gelenkamplituden möglich, weil sich die Antagonisten in einem Bewegungsablauf wie dem Speerwurf im richtigen Moment entspannen und somit der Bewegung keinen Widerstand entgegen setzen, wodurch der Agonist seine Kraft optimal entfalten kann (vgl. Froböse & Fiehn, in Froböse et al., 2003, S. 73). Neben diesen aktiven Bewegungen spielt die intermuskuläre Koordination auch eine Rolle für die passive Beweglichkeit, weil sie den Muskeltonus der zu dehnenden Muskeln beeinflusst (vgl. Schnabel et al., 1998, S. 125).

2.3.2.1 Beeinflussung der Dehnfähigkeit durch die zentralnervöse Versorgung der Muskulatur – Steuerung des Muskeltonus, Funktionsweise von Muskel- und Sehnenreflexen

Der Muskeltonus hat einen großen Einfluss auf die Beweglichkeit, da ein erhöhter Tonus bzw. eine verminderte Entspannungsfähigkeit den muskulären Widerstand gegenüber Dehnungsübungen heraufsetzt und somit die Dehnfähigkeit der Muskulatur und die Beweglichkeit im allgemeinen einschränken kann (vgl. Weineck, 2002, S. 319).

Allgemein steht der Begriff Tonus für den Spannungs- bzw. Erregungszustand der Muskulatur (vgl. Röthig & Prohl, 2003, S. 394). An dieser Stelle sei jedoch auf Unterschiede hingewiesen, die bezüglich der Verwendung des Begriffs Muskeltonus existieren und eine allgemein gültige Definition erschweren.

Nach Badtke (1998, S. 36-37) gibt der Tonus die Spannung des Muskels im entlasteten Zustand bzw. in der Ruhelänge des Muskels an, da auch in dieser Position motorische Einheiten[11] aktiviert werden und ein bestimmtes Maß an Spannung erzeugen.

Diese Verwendung des Begriffs bezieht sich auf den sogenannten Ruhetonus, der von der jeweiligen Aktivität abhängt und z.B. vor einer sportlichen Betätigung höher ist als im Schlaf. Ein gewisser Ruhetonus der Muskulatur muss immer vorhanden sein. So ist eine Mindestspannung von Bauch- und Rückenmuskulatur notwendig, um eine aufrechte Körperhaltung zu gewährleisten (vgl. Weineck, 2002, S. 319).

Freiwald et al. (1999, S. 4) bezeichnen die Spannung des Muskels in Ruhelage als muskuläre Spannung bzw. Muskelhärte und den Muskeltonus als Widerstand, den die Muskulatur passiver Bewegung entgegensetzt: „Tonus ist im neurologischen Anwendungsfeld als der Widerstand gegen ein passives Durchbewegen der Muskel/ Gelenkeinheit definiert“.

Eine gewisse muskuläre Aktivität in Form von Widerstand gegen eine Bewegung ist die Bedingung für eine Tonusentstehung. Verfahren zur Tonusbestimmung wie die manuelle Palpation[12] sind unzulässig, da der Muskel im völlig entspannten Zustand untersucht wird. Durch solche Untersuchungen wird nicht der Tonus, sondern die Muskelhärte bestimmt, die unabhängig von der elektrischen Aktivierung der Muskulatur ist. Freiwald et al. (1999, S. 4) gehen davon aus, dass beim Gesunden bei entspannter Lagerung keine elektrischen Aktivitäten der Muskulatur feststellbar sind. Der Muskeltonus wird erst bei der Verrichtung von Haltearbeit oder willkürlichen Bewegungen messbar, da die Muskulatur dafür elektrisch aktiv werden muss. Sollten bei einer Elektromyographie (EMG) des Muskels in Ruhelage, einem Verfahren zur Messung der elektrischen Vorgänge[13] im Muskel, dennoch Aktivitäten gemessen werden, wäre dies ein Hinweis auf muskuläre oder nervliche Erkrankungen.

Ein weiterer Begriff, der sich auf die Spannung des Muskels in Ruhelage bezieht, ist die sogenannte Ruhespannung (Wiemann, Klee & Startmann, 1998, S. 111- 112)

Bedingung für die Entstehung der Ruhespannung ist ebenfalls ein Widerstand des Muskels, der allerdings nicht vom Nervensystem angeregt wird und somit inaktiv ist. Die Ruhespannung stellt den Widerstand des passiven, inaktiven Muskels dar, eine Kontraktionsspannung gegen eine zumindest submaximale Dehnung zu entwickeln. Mit Hilfe von EMG- Messungen kann die Ruhespannung bestimmt werden, wenn bei den Messungen sichergestellt ist, dass sich der Muskel inaktiv verhält (Klee & Wiemann, 2005, S. 41).

Ein Muskel mit einer erhöhten Ruhespannung wird als hochtonig bezeichnet und schränkt die Beweglichkeit ein, da er bei mittlerer Gelenkstellung eine hohe Spannung auf das Gelenk ausübt. Ein niedertoniger Muskel ist lockerer und übt eine relativ niedrige Spannung auf das Gelenk aus (Klee & Wiemann, 2005, S. 47).

Die von Wiemann beschriebene Ruhespannung ist unabhängig von zentralnervösen Prozessen, da sie durch die elastischen Eigenschaften der Muskulatur entsteht. Auf die muskulären bzw. filamentären Strukturen, die für diese Spannung verantwortlich sind, wird im Punkt 2.3.2.2 eingegangen.

Die Spannung eines Muskels wird nicht nur durch filamentäre Strukturen, sondern auch durch Steuerungs- und Regelungsmechanismen des neuromuskulären Systems bestimmt, die entweder für ein Zu- oder für ein Abschalten von Muskelfasern sorgen.

Klee und Wiemann (2005, S. 32-37, 42) bezeichnen die von neuromuskulären Bedingungen abhängige Spannung als Entspannungsfähigkeit. Sie beschreibt das Vermögen eines Muskels, sich einer Dehnung nicht durch unwillkürliche oder reflektorische Kontraktionen zu widersetzen:

Im folgenden soll unter den Begriffen Muskeltonus bzw. Entspannungsfähigkeit die Spannung des Muskels verstanden werden, die nicht Ausdruck der elastischen Eigenschaften, sondern Ausdruck der zentralnervösen Steuerung der Muskulatur ist.

Neben der intermuskulären Koordination wird der Muskeltonus bzw. die Entspannungsfähigkeit von weiteren Faktoren beeinflusst. So kann sich der psycho- vegetative Zustand, z.B. in Form von Angst, Aufregung und Stress, die Art der muskulären Betätigung oder der Ermüdungszustand auf den Muskeltonus auswirken. Auch wenn der Muskel nicht sichtbar kontrahiert besitzt er je nach Situation einen unterschiedlichen Tonus. Vor einem Wettkampf ist der Muskeltonus höher als z.B. im Schlaf und unter Stress höher als in einer entspannten Situation. Ein weiterer beeinflussender Faktor der Entspannungsfähigkeit der Muskulatur ist die Temperatur. Bei Kälte zieht sich die Muskulatur spürbar zusammen und der Muskeltonus ist erhöht, weil eine erhöhte Muskelspannung Energie und Wärme abgibt, um die Körperkerntemperatur aufrecht zu erhalten.

Aufgrund der zahlreichen Einflüsse, denen der Muskeltonus unterliegt, ist eine Überprüfung der Wirkung von Dehnungsübungen auf muskuläre Spannungszustände schwierig (vgl. Albrecht, Meyer & Zahner, 1997, S. 24).

Neben verschiedenen Dehnungsmethoden, die sowohl entspannend als auch tonisierend wirken können, kann der Muskeltonus durch verschiedene Maßnahmen wie Massagen, Saunagänge oder psycho- vegetativ wirksame Entspannungstechniken beeinflusst werden.

Die Regulierung des Muskeltonus bzw. der Entspannungsfähigkeit erfolgt über den komplexen Vorgang der senso- motorischen Versorgung der Muskulatur durch das zentrale Nervensystem (ZNS) und das Rückenmark. Das für die Vorbereitung, Programmierung und Steuerung menschlicher Bewegungen verantwortliche zentrale motorische System ist in einer hierarchischen Struktur aufgebaut, die sich in kortikale Zentren der motorischen Rindenfelder, motorischen Subkortex mit Kleinhirn, Basalganglien und Hirnstamm sowie spinale Strukturen gliedert (vgl. Illert, in Schmidt, 1995, S. 114-115). Während die höheren Zentren für bewusste, willensgesteuerte Programme der sogenannten Zielmotorik verantwortlich sind, werden einfache Bewegungsmuster wie Halte- und Stellreflexe, die nicht bewusstseinsfähig sind, durch die Spinalmotorik bzw. das Rückenmark gesteuert, wobei die Steuerung weitgehend unabhängig von den sogenannten supraspinalen[14] Strukturen ist (vgl. Illert, in Schmidt, 1995, S. 144, de Marées, 2002, S. 69). Neben der Steuerung der Fortbewegung und der aufrechten Körperhaltung ist die Spinalmotorik für die Regulierung des Muskeltonus verantwortlich (vgl. Noth, 1996, in Bartmus, Heck, Mester, Schumann & Tidow, S. 7-10) und bedarf deshalb einer genaueren Darstellung.

Von entscheidender Bedeutung für die Regulierung des Muskeltonus sind die Rezeptoren des kinästhetischen Analysators[15], die Informationen über Dehnungs- und Spannungszustände der Muskulatur an im Rückenmark liegende Motoneurone und an Nervenzellen weiterleiten, die für die motorische Ansteuerung der Arbeitsmuskulatur verantwortlich sind. Diese als Propriorezeptoren bezeichneten „Messwertempfänger“ liegen in den Bewegungsorganen und können dadurch jeden Bewegungsvorgang unmittelbar signalisieren, weil gerade beginnende Spannungs-, Längen- und Gelenkwinkeländerungen sofort aufgenommen werden (Meinel & Schnabel, 2004, S. 48). Bereits 1908 stellte Setšenov (zitiert nach Meinel & Schnabel, 2004, S. 49) fest, dass der kinästhetische Analysator Empfindungen wie die Entfernung und die Höhe von Gegenständen sowie die Richtung und Geschwindigkeit ihrer Bewegungen widerspiegelt.

Die an den Faserhüllen der Muskelfasern befestigten Propriorezeptoren werden als Muskelspindeln bezeichnet und messen die Länge und den Dehnungsgrad eines Muskels und die sogenannten Golgi- Sehnenorgane die Spannung der Sehne.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Sensorentypen innerhalb der Gelenkstruktur, die Informationen über die Stellung von Gelenken aufnehmen bzw. den Stellungssinn widerspiegeln (vgl. Wilke & Froböse, in Froböse et al., 2003, S. 147). Von diesen Gelenkrezeptoren gibt es vier verschiedene Typen, die als Ruffini- Endigungen (Typ I), Pacini- oder Vater- Pacini- Körperchen (Typ II), Golgi- Sehnenorgan- Endigungen (Typ III) und freie Nervenendigungen (Typ IV) bezeichnet werden. Bezüglich der ersten beiden Typen ist noch nicht genau erforscht, in welchen Strukturen des Gelenks sie sich befinden. Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Pacini- Körperchen nah an der Gelenkkapsel und an den Übergängen der Bänder zu den Knochen befinden (vgl. Johannson, Sjölander & Sojka, 1991, S. 341).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbb. 4: Vereinfachende Darstellung der neuronalen Verschaltung einer motorischen Einheit (aus Klee & Wiemann, 2005, S. 33).

links (eingekreist): Rückenmarkszentrum; rechts: Agonist, auf eine Muskelfaser und eine Muskelspindel reduziert; α) Alpha- Motoneurone mit motorischer Nervenfaser; γ) Gamma- Motoneuron mit motorischer Nervenfaser zur Muskelspindel; grau) sensorische (afferente) Meldungen aus dem Agonisten; punktiert: sonstige Einflüsse.

Von den verschiedenen Rezeptoren des kinästhetischen Analysators sind die Muskelspindeln und die Golgi- Sehnenorgane von besonderem Interesse, da sie für die zentralnervöse Regulierung des Muskeltonus verantwortlich sind und Muskel- und Sehnenreflexe, die von den Rezeptoren ausgelöst werden, ebenfalls einen großen Einfluss auf die Beweglichkeit haben.

Muskelspindeln sind wenige Millimeter lange, sogenannte intrafusale Muskelfasern, deren mittlerer Teil in eine bindegewebige, spindelförmige Hülle eingelagert ist. Sie sind parallel zu den Kraft erzeugenden extrafusalen Fasern der Arbeitsmuskulatur angeordnet, die außerhalb der Hülle liegen (u.a. Hollmann & Hettinger, 2000, S. 38-39 Hohmann et al., 2003, S. 97-100 Weineck, 2002, S. 71-72).

Im Gegensatz zu den extrafusalen Muskelfasern sind sie nur in ihren Endabschnitten kontraktionsfähig. Da der mittlere Teil keine Myofibrillen enthält, sondern mit Zellkernen aufgefüllt ist, wird er auch als Kernsackregion bezeichnet, die von spiralförmigen, sensorischen Fasern umschlossen wird, die in Ia- und II- Fasern unterschieden werden. Diese afferenten Fasern fungieren als Dehnungsrezeptoren und informieren Motoneurone im Rückenmark und sensorische Zentren im Gehirn über den Dehnungszustand der Arbeitsmuskulatur (vgl. Hollmann & Hettinger, 2000, S. 38-39, Weineck, 2002, S. 71-72, Ehrhardt, 2003, S. 18-19, Hohmann et al., 2003, S. 97-100, Wilke & Froböse, in Froböse et al., 2003, S. 147, Klee & Wiemann, 2005, S. 34).

Von dieser Information ist abhängig, ob eine Aktivierung der extrafusalen Fasern durch die Alpha- Motoneurone erfolgt. Bei einer Dehnung der Muskulatur werden die Dehnungsrezeptoren mitgedehnt, wobei sich die afferente Impulsfrequenz der Rezeptoren proportional zum Ausmaß der Dehnung verhält. Je stärker die Kernsackregion mitgedehnt wird, desto höher ist die Impulsfrequenz, die durch Aktionspotentiale der Ia- und II- Fasern entsteht und ins Rückenmark weitergeleitet wird. Im Rückenmark wird der Impuls auf die Alpha- Motoneurone übertragen und es kommt zu einer Kontraktion der extrafusalen Muskelfasern, wodurch die Kernsackregion entdehnt wird und die Erregung der Dehnungsrezeptoren zurückgeht.

Der eben beschriebene Ablauf ist der Reflexbogen des monosynaptischen Dehnungsreflexes, der dem Muskel als Schutzmechanismus vor zu starken Dehnungen dient, die möglicherweise Verletzungen wie Zerrungen oder Muskelfaserrisse hervorrufen könnten (vgl. u.a. Hohmann et al., 2003, S. 97). Ein Beispiel für einen solchen Reflex ist der Patellarsehnenreflex[16], der als Eigenreflex bezeichnet wird, weil Rezeptor und Effektor im gleichen Organ liegen.[17]

Neben der Dehnung der extrafusalen Fasern, die eine sensible Innervation der Kernsackregion auslöst, besitzen die Muskelspindeln eine zweite Möglichkeit, afferente Impulse zu senden, ohne die eine Auslösung von reflektorischen Mechanismen wie dem Dehnungsreflex gar nicht möglich wäre.

Sogenannte Gamma- Motoneurone, die ebenfalls im Rückenmark sitzen, regulieren die Länge und Spannung der Muskelspindel durch motorische Innervation ihrer kontraktilen Endabschnitte. Die Längenänderung der Endabschnitte bzw. Spindelpole führt auch zu einer Veränderung des Dehnungszustands im Mittelstück und bewirkt entweder eine Steigerung oder eine Reduktion der Empfindlichkeit der Dehnungsrezeptoren. Bei einer Dehnung der extrafusalen Fasern kommt es zu einer Kontraktion der Spindelpole, wodurch eine starke Aktivierung der Rezeptoren in der Kernsackregion ausgelöst wird. Die durch das gamma- motorische System erregten Muskelspindeln lösen umgehend den Dehnungsreflex aus, der neben der Kontraktion der Arbeitsmuskulatur über Alpha- Motoneurone zu einer Erschlaffung der Spindelpole und somit zu einem Erregungsrückgang in den Muskelspindeln führt (vgl. Weineck, 2002, S. 73).

Durch die eigene motorische Innervation der Muskelspindel können die Dehnungsrezeptoren die wechselnde Länge der extrafusalen Muskelfasern erkennen und z.B. bei starken Dehnungen oder hohen Dehnungsgeschwindigkeiten durch Auslösung des Dehnungsreflexes entsprechend kontrollieren. Aufgrund dieser Fähigkeit wird die Muskelspindel auch als Längen- Kontrollsystem bezeichnet.

In Bezug auf den Muskeltonus bleibt festzuhalten, dass er durch das gamma- motorische System eingestellt wird. Die gamma- motorische Innervation und somit der Tonus kann insbesondere durch psychische Faktoren wie emotionale Erregung, Stress oder Angst beeinflusst werden, weshalb Knebel (1985, zitiert nach Schnabel et al., 1998, S. 125) den Muskeltonus bzw. die Entspannungsfähigkeit als psycho- vegetativ bedingte Leistungsvoraussetzung bezeichnet. Je weniger sich ein Muskel einer Dehnung durch reflektorische Kontraktion der extrafusalen Muskulatur widersetzt, desto größer ist seine Entspannungsfähigkeit bzw. desto niedriger ist sein Tonus.

Zur Unterstützung des Dehnungsreflexes kann die Muskelspindel auch den Antagonisten des gedehnten Muskels beeinflussen[18]. Wenn z.B. der M. quadriceps femoris zu stark gedehnt wird, lösen die Dehnungsrezeptoren eine Entladung der Alpha- Motoneurone aus, damit die Kontraktion der Muskelfasern des vierköpfigen Oberschenkelmuskels der Dehnung entgegenwirkt. Gleichzeitig können die Rezeptoren die Alpha- Motoneurone hemmen, die für eine Innervation der antagonistischen ischiocruralen Muskulatur verantwortlich sind (siehe Abb. 4). Dadurch kontrahieren nicht beide Muskelgruppen gleichzeitig, sondern nur der Agonist, der somit ungestört auf die Dehnung reagieren kann. Diese Hemmung des Antagonisten wird als Reflex der reziproken Hemmung bezeichnet (vgl. Illert, in Schmidt, 1995, S. 130, Klee & Wiemann, 2005, S. 35).

Neben dem Längen- Kontrollsystem der Muskelspindel ist das Spannungs-Kontrollsystem der Golgi- Sehnenorgane Auslöser von Reflexen, die sich leistungsbestimmend auf die Beweglichkeit auswirken können. Die Sehnenorgane messen die Spannung der Sehne und leiten diese Information über afferente Ib- Fasern an hemmende und erregende Schaltzellen der Alpha- Motoneurone und an sensorische Zentren im ZNS weiter (siehe Abb. 4). Die Reflexe der Sehnenorgane sind polysynaptisch, da die Verschaltung der Ib- Afferenzen mit den Motoneuronen über mehrere Synapsen verläuft (Illert, in Schmidt, 1995, S. 131- 132).

Wenn eine Sehne sehr stark gedehnt wird, werden die Alpha- Motoneurone des gedehnten Muskels gehemmt, wodurch es zu einer Abschwächung der Muskelaktivität und einer Verminderung der muskulären Spannung kommt. Dieser Reflex, der als Spannungsreflex oder Reflex der autogenen Hemmung bezeichnet wird, soll die Sehne bzw. die Muskel- Sehnen- Einheit vor zu großen Spannungen und demzufolge vor Verletzungen schützen (vgl. de Marées, 2002, S. 72).

Während der monosynaptische Dehnungsreflex durch eine sehr schnelle Dehnung des Muskels ausgelöst wird, erfolgt eine Hemmung der agonistischen Muskulatur durch den Spannungsreflex bei einer langsamen Dehnung. Die Spannung der Sehne muss sehr hoch sein, da die Golgi- Sehnenorgane bei Dehnungen des Muskels eine hohe Reizschwelle besitzen[19], um die Motoneurone zu inhibieren und eine Entspannung des Muskels zu bewirken (vgl. Kissner & Colby, 2000, S. 125).

Analog zu den Muskelspindeln leiten auch die Sehnenorgane die Information über den Spannungszustand gleichzeitig an den Antagonisten weiter, jedoch lösen die afferenten Impulse wiederum eine umgekehrte Reaktion in der Muskulatur aus. Im Gegensatz zum Reflex der reziproken Hemmung der Dehnungsrezeptoren wird eine Bahnung der Alpha- Motoneurone und somit eine Kontraktion der antagonistischen Muskulatur ausgelöst. Dieser Reflex der reziproken Erregung sorgt für eine zusätzliche Reduktion der Dehnungsspannung, die auf den bereits gehemmten Agonisten einwirkt.

Muskel- und Sehnenreflexe wirken sich sowohl auf die Alltagsmotorik als auch auf die Ausübung von sportartspezifischen Bewegungen und insbesondere von Dehnungsübungen aus.

Bei alltäglichen Bewegungen dienen die vom Längen- und Spannungs- Kontrollsystem der Muskeln und Sehnen ausgelösten Reflexe als Schutz vor schädigenden Dehnungsspannungen und Überdehnungen des Gelenks, da sie die Gelenkamplitude kurzfristig einschränken (Klee & Wiemann,2005, S. 35). Wenn eine Person z.B. beim Laufen über einen Gegenstand stolpert, besteht die Gefahr, dass der Fuß nach innen umknickt, worauf die Propriorezeptoren innerhalb von Sekundenbruchteilen reagieren müssen (vgl. Kothe, 2003, S. 34). Im Idealfall messen die Muskelspindeln den erhöhten Dehnungszustand von Muskeln wie dem M. triceps surae[20] oder dem M. tibialis anterior[21], die in Bezug auf das Beispiel durch die übermäßige Supination[22] im oberen Sprunggelenk stark gedehnt werden, und veranlassen über den beschriebenen Reflexbogen eine Kontraktion dieser Muskeln. Werden die Reflexe nicht ausgelöst, kommt es infolge des Stolperns zu einer Knöchelverstauchung durch Umknicken, der sogenannten Distorsion, die eine Zerrung, Überdehnung oder im schlimmsten Fall eine Ruptur des Bandapparates mit sich ziehen kann (vgl. Pschyrembel, Therapeutisches Wörterbuch, 1998, S. 166, 368).

Bei welcher Gelenkamplitude die Reflexe ausgelöst werden ist abhängig vom Trainingszustand und der jeweiligen Bewegungserfahrung. Eine trainierte Person ist an größere Gelenkamplituden gewöhnt und ihr Nervensystem ist mit entsprechenden Informationen über die möglichen Bewegungsreichweiten der Gelenke versorgt. Deshalb werden die schützenden Reflexe bei größeren Gelenkwinkeln und höheren Dehnungsspannungen ausgelöst als bei einer untrainierten Person, die mit der Bewegung weniger vertraut ist (vgl. Klee & Wiemann, 2005, S. 36-37).

Neben der schützenden Wirkung des Dehnungsreflexes und der damit verbundenen kurzfristigen Einschränkung der Beweglichkeit spielt er eine wichtige Rolle bei Schnellkraftleistungen. Bei sportartspezifischen Bewegungen mit hohem Schnellkraftanteil, insbesondere bei Reaktivkraftleistungen, soll der Dehnungsreflex zu einer Verstärkung der Kraft und somit zu einer Verbesserung der Leistung führen.

Die Reaktivkraft wird als das Vermögen bezeichnet, bei schneller Abfolge von nachgebender, exzentrischer und überwindender, konzentrischer Kontraktion einen maximalen konzentrischen Kraftstoß zu realisieren (Bührle, 1989, zitiert nach Begert & Hillebrecht, 2003, S. 7) und tritt vor allem bei Sprüngen, Sprints und Wurfbewegungen auf. In einem solchen Bewegungsablauf, der als Dehnungs- Verkürzungszyklus bezeichnet wird, wird der Dehnungsreflex genutzt, um über die gesteigerte Erregbarkeit der Alpha- Motoneurone eine erhöhte Vorspannung und bei der anschließenden konzentrischen Kontraktion eine höhere Anfangskraft der Muskulatur zu erreichen (vgl. Schnabel et al., 1998, S. 136, Hohmann et al., 2003, S. 99-100). Daneben wirkt sich die kinetische Energie, die bei einer schnellen Dehnung in den elastischen Elementen von Muskel und Sehne gespeichert und bei der anschließend folgenden Verkürzung wieder freigesetzt wird, leistungspotenzierend aus (vgl. Huijing, in Komi, 1994, S. 163 ). Auf die Wirkung verschiedener Dehntechniken auf den Dehnungsreflex der Muskelspindeln und auf die Leistungsfähigkeit bei Reaktiv- und Schnellkraftleistungen wird an dieser Stelle nicht eingegangen, da der Einfluss von Dehnung auf die Leistungsfähigkeit im Sport eine Fragestellung des Reviews ist, die im methodischen Teil der Arbeit untersucht werden soll.

An dieser Stelle sei abschließend darauf hingewiesen, dass die Auslösung von Muskel- und Sehnenreflexen eine positive Wirkung auf die Steigerung der Reaktivkraft haben kann. Zum Zwecke der Verbesserung der Dehnfähigkeit und der Vergrößerung der Bewegungsreichweite soll die Erregung der Muskelspindeln möglichst gering bleiben, was vor allem durch lang anhaltende, statisch durchgeführte Muskeldehnungen erreicht werden soll (Hohmann et al., 2003, S. 100, Klee & Wiemann, 2005, S. 37).

2.3.2.2 Beeinflussung der Dehnfähigkeit durch die Eigenschaften der muskulären Strukturen

Bewegungen mit einer optimalen Schwingungsweite der Gelenke ausführen zu können ist Ausdruck einer guten Dehnfähigkeit der Muskulatur. Sie äußert sich im Zustand der Inaktivität des Muskels, denn ein aktiver Muskel löst Gelenkbewegungen durch die Entwicklung von Kraft aus, die nicht von der Dehn- , sondern von der Kontraktionsfähigkeit des Muskels bestimmt wird.

Die Dehnfähigkeit wird als das Vermögen der entspannten, inaktiven Muskulatur definiert, dehnenden äußeren Kräften nachzugeben und dadurch die Gelenkreichweite zu beeinflussen (u.a. Klee & Wiemann, 2005, S. 12, 41).

Wie stark sich ein Muskel dehnen lässt hängt vom sogenannten Dehnungswiderstand ab, der gegen die äußeren Kräfte entwickelt und neben der beschriebenen sensomotorischen Versorgung und der Tonusregulation in hohem Maße durch die Eigenschaften der muskulären Strukturen bestimmt wird. Nach einer Erläuterung des Aufbaus der Muskulatur und dem Ablauf der Muskelkontraktion folgt deshalb eine genaue Betrachtung, wie die Dehnfähigkeit durch die mechanischen Eigenschaften der Muskulatur beeinflusst wird.

Aufbau und Funktion der Muskulatur:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Übersichtsdarstellung zur Struktur des Muskels (aus Wiemann, 1993, S. 1)

Jeder Muskel der quergestreiften Skelettmuskulatur, die für Bewegungen verantwortlich ist und im Gegensatz zur glatten Muskulatur der Organe willentlich gesteuert werden kann, besteht aus vielen einzelnen Muskelzellen. Die Muskelzellen sind die kleinste selbständige Baueinheit des Muskels und werden als Muskelfasern bezeichnet. Sie können bis zu 15cm lang und damit wesentlich größer als andere Körperzellen sein (vgl. Tittel, 2003, S. 52 ) und sind zu Hunderten von primären und sekundären Muskelfaserbündeln zusammengefasst, die den Muskel in Längsrichtung durchziehen. Primäre Faserbündel werden von einer bindegewebigen Hülle, dem Epimysium, umschlossen und wiederum zu Sekundärbündeln zusammengefasst, die vom Perimysium ummantelt sind (Tittel, 2003, S. 53, Klee & Wiemann, 2005, S. 28). Die Zusammenfassung aller Bündel ergibt den eigentlichen Muskel, der von einer sehr straffen und zugfesten Bindegewebshülle, der sogenannten Faszie, umschlossen wird, die den Muskel gegenüber der Umgebung abgrenzt.

Durch die Bindegewebshüllen wird eine freie Verschiebbarkeit der Faserbündel bei Verkürzung oder Dehnung gewährleistet und ein Kraftverlust durch die Herabsetzung der Reibung reduziert (Klee & Wiemann, 2005, S. 28).

Innerhalb des Perimysiums entspringen die meisten Muskelfasern und an ihren Enden gehen sie in die sehr dehnungsfesten, kollagenen Fasern der Sehne über, die den Muskel mit dem Skelett verbindet.

Auch die einzelnen Muskelfasern werden außen von einem dehnungsfähigen, gitterähnlich verwobenen Bindegewebsschlauch, dem sogenannten Sarkolemm, abgeschlossen (Klee & Wiemann, 2005, S. 28). Darüber liegt mit dem Endomysium eine weitere zarte Bindegewebsschicht, die Nervenfasern und Blutgefäße (Kapillaren) enthält, die sich eng an die Zellwand bzw. das Sarkolemm anschmiegen, um den Stofftaustausch mit der Muskelfaser zu gewährleisten (Albrecht, Meyer & Zahner, 1997, S. 22, Hollmann & Hettinger, 2000, S. 40, Tittel, 2003, S. 53).

Wie jede Zelle des Körpers beinhaltet auch die Muskelfaser Zell- bzw. Sarkoplasma, in dem sich neben dem Myoglobin und mehreren Zellkernen das sarkoplasmatische Retikulum und die Mitochondrien befinden. Hauptsächlich besteht die kleinste muskuläre Baueinheit jedoch aus kontraktilen Myofibrillen, die bis zu 80% des Volumens der Muskelfaser ausmachen können (vgl. de Marées, 2002, S. 28). Das Verhältnis von Sarkoplasma und Myofibrillen unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Muskelfasertypen. Langsame slow- twitch Fasern haben einen höheren Sarkoplasmaanteil und ermüden aufgrund der größeren Zahl an Mitochondrien und an sauerstoffbindendem Myoglobin später als die schnellen fast- twitch Fasern, die aufgrund des höheren Myofibrillenanteils eine größere Kraft entwickeln können (vgl. Tittel, 2003, S. 55- 56).

Eine Faser kann Tausende von Myofibrillen beinhalten, die jeweils parallel zueinander verlaufen und aus den Strukturproteinen Myosin und Aktin bestehen. Im Mikroskop erscheinen die dickeren Myosinfilamente aufgrund ihrer Lichtbrechung als dunkle und die dünneren Aktinfilamente als helle Streifen, wodurch die typische Querstreifung der Skelettmuskulatur sehr gut zu erkennen ist[23].

Im Hinblick auf die Eigenschaft der Muskulatur, Kraft zu entwickeln, sind die kontraktilen Muskelfibrillen von entscheidender Bedeutung. Das Grundelement bzw. die eigentliche kontraktile Einheit der Myofibrille sind die in Ruhelänge ca. 2,5µm langen Sarkomere, die sich jeweils zwischen zwei Z- Scheiben erstrecken und in der Fibrille hintereinander geschaltet sind. Die Z- Scheiben sind dickere Querlinien, an denen die Aktinfilamente angeheftet sind und zur Sarkomermitte verlaufen. Dort befindet sich der dünnere M- Streifen, an dem die Mysoinfilamente des Sarkomers mit ihrem mittleren Stück verbunden sind. Z- Scheiben und M- Streifen dienen höchstwahrscheinlich der mechanischen Querstabilisation des Aktomyosin- Systems (de Marées, 2002, S. 29).

Wie in Abb. 6 erkennbar überlappen sich Aktin- und Myosinfilamente in Ruhelänge um einen gewissen Betrag. Im Verlauf einer Kontraktion des Muskels nimmt der Grad der Überlappung weiter zu, weil Aktin- und Myosinfilamente entsprechend der Theory of sliding filaments nach A.F. Huxley und H. E. Huxley aneinander vorbei gleiten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Sarkomer in Ruhelänge und im kontrahierten Zustand (nach Leonhard, in de Marées, S. 29);

(H steht für den H- Abschnitt in der Mitte des Sarkomers, der im Ruhezustand frei von Aktin bleibt und heller erscheint als der Rest des A- Streifens)

Die einzelnen Schritte einer Kontraktion werden mit dem sogenannten Querbrückenzyklus beschrieben, der durch eine Interaktion von Milliarden von Myosinköpfen mit den Aktinfilamenten charakterisiert ist (vgl. Billeter & Hoppeler, in Komi, 1994, S. 54). Durch Freisetzung von Kalzium beugt sich der Myosinkopf und gleitet in den dünneren Streifen, wodurch eine Querbrücke gebildet wird. Durch diesen „Kraft- oder Ruderschlag“ des Myosinkopfes wird das Aktinfilament ca. 7nm zur Sarkomermitte gezogen. Anschließend löst sich der Kopf unter Energieverbrauch und greift erneut zu (Greif- Loslass- Zyklus), um das Aktinfilament noch weiter zur M- Linie zu ziehen. Die einzelnen Köpfe der Myosinfilamente müssen diesen Zyklus, der innerhalb von Millisekunden abläuft, mehrmals durchlaufen, um ein Anstoßen der Myosinfilamente an die Z- Scheiben und somit eine maximale Verkürzung des Sarkomers zu erreichen (vgl. De Marees, 2002, S. 31, Billeter & Hoppeler, in Komi, 1994, S. 56). Damit die Verkürzung auch makroskopisch sichtbar wird müssen die Querbrückenzyklen gleichzeitig in Zehntausenden von in Serie geschalteten Sarkomeren ablaufen.

Wenn der Muskel gedehnt wird erfolgt ein Rücktransport der Kalziumionen in das sarkoplasmatische Retikulum (Tittel, 2003, S. 53.). Demzufolge werden keine Querbrücken gebildet, da die Myosinköpfe ohne Kalzium nicht in der Lage sind, in die Aktinfilamente zu gleiten. Die dehnende Kraft wird über die Sehne und weitere Proteinstrukturen auf die Aktinfilamente der Muskelfasern übertragen, die dadurch aus dem dickeren A- Streifen herausgezogen werden. Das Sarkomer verlängert sich über seine Ruhelänge hinaus (größer als 3µm, vgl. de Marees, 2002, S. 31, größer als 4µm, vgl. Billeter & Hoppeler, in Komi, 1994, S. 58), was an dem größeren Abstand zwischen den Myosinfilamenten und den Z- Scheiben im Mikroskop zu erkennen ist. Ein Auseinandergleiten bis zu einem Punkt, an dem sich Aktin- und Myosinfilamente nicht mehr überlappen, kommt in der Regel nicht im lebenden Organismus vor. Die Aufhebung der Filamentüberlappung wird vor allem durch die Funktionsweise weiterer, nicht- kontraktiler Strukturproteine verhindert, die bei starker Dehnung das Sarkomer zusammenhalten (Billeter & Hoppeler, in Komi, 1994, S. 57). Dennoch stützten sich in der Vergangenheit Ausführungen über die Wirkungen einer Muskeldehnung, u.a. von Dordel (1975, zitiert nach Wiemann, Klee & Startmann, 1998, S. 113-114), auf solche unphysiologischen Dehnungsgrade.

Mechanische Eigenschaften der Muskulatur:

Mechanische Belastungen wirken bei sämtlichen Bewegungen auf den Körper ein, weshalb sowohl kontraktile als auch nicht- kontraktile Elemente des Muskels mechanische Eigenschaften besitzen müssen. Im Sport sind diese Belastungen besonders hoch, da die Muskulatur z.B. beim Hürdenlauf größere Kräfte entwickelt als beim normalen Gang und äußere Kräfte in höherem Maße auf den Körper einwirken.

Das bereits beschriebene Verhalten der Aktin- und Myosinfilamente bei Verkürzung und Dehnung ist durch die Fähigkeit der Formveränderung gekennzeichnet, die als plastische Eigenschaft bezeichnet wird. Die kontraktilen Elemente geben einer Dehnung relativ widerstandslos nach, lassen sich verformen und nehmen so eine größere Länge an.

Ein durch Kontraktion verkürzter Muskel kann sich nicht selbständig, sondern nur durch äußere Kräfte oder die Kontraktion seines Gegenspielers wieder verlängern. Im Gegensatz dazu kann ein gedehnter Muskel aufgrund elastischer Rückstellkräfte selbständig wieder in die Ruhelänge zurückkehren:

Neben dem Widerstand gegen eine Verformung ist die Fähigkeit, eine Verformung wieder rückgängig zu machen, Ausdruck der elastischen Eigenschaften des Muskels.

Wiemann et al. (1998) bezeichnen den Widerstand des passiven, inaktiven Muskels, eine Kontraktionsspannung gegen eine zumindest submaximale Dehnung zu entwickeln, als Ruhespannung (vgl. Kap. 2.3.2.1, S. 12). Für den Dehnungswiderstand und die anschließende Verkürzung des Muskels nach einer Dehnung, die passiv und somit ohne Energieverbrauch erfolgt, sind die elastischen, nicht- kontraktilen Elemente des Muskels verantwortlich. Je niedriger die Ruhespannung ist, desto geringer ist der Widerstand gegen eine Dehnung und desto dehnfähiger ist der Muskel.

De Marees und Mester (1991, S. 60-61) veranschaulichen den Unterschied zwischen plastischen und elastischen Materialeigenschaften am Beispiel von zwei Kugel aus Eisen und Knetgummi. Beim Fallenlassen einer Kugel aus Knetgummi verändert sich ihre Form, da sie der einwirkenden Kraft beim Aufprall auf den Boden keinen dauerhaften Widerstand entgegen setzt. Im Gegensatz zum plastischen Verhalten der Knetgummikugel verhält sich die Eisenkugel im physikalischen Sinne elastisch, weil sie ihre Form durch den Aufprall nur geringfügig verändert und unmittelbar danach keine Verformung mehr zeigt.

Das elastische Verhalten der Eisenkugel, bei der durch äußere Kräfte eine Deformation der Molekülstruktur erfolgt, die jedoch nach außen nicht sichtbar ist, dient bis auf die Eigenschaft, die Verformung rückgängig zu machen nicht zur Erklärung der Elastizität des Muskels. Vielmehr kann das Verhalten eines Muskels mit einem elastischen Gummi aus Kautschuk verglichen werden, das sich bei einer Dehnung sichtbar verformt. Wenn der Widerstand gegen die Dehnung gering ist lässt sich das Gummi weiter verformen als bei einem hohen Widerstand. Damit es nicht ausleiert sorgen elastische Rückstellkräfte dafür, es bei Nachlassen der mechanischen Belastung wieder in die Ruhelänge zurückzuführen.

Je elastischer ein Muskel ist, desto besser ist seine Dehnfähigkeit, da er äußeren Kräften aufgrund des geringeren Dehnungswiderstands in höherem Maße nachgibt, wodurch größere Gelenkamplituden erreicht werden.

Aufgrund des geringen Widerstandes zu Beginn einer Dehnung verhält sich der Muskel zunächst plastisch und verändert seine Form. Je größer die dehnende Kraft ist, desto stärker ist die Verformung der plastischen Elemente des Muskels. Die Myofibrillen können jedoch nicht bis zum „Zerreißen“ bzw. bis jenseits der Filamentüberlappung gedehnt werden, da das elastische Verhalten bzw. die Ruhespannung im Verlauf der Dehnung immer stärker ansteigt und der verformte Muskel seine Länge auch bei erheblichen Krafteinwirkungen kaum noch ändert. In Abb. 7 wird deutlich, dass die Ruhespannung nicht linear zu nimmt, sondern umso steiler ansteigt, je weiter die Dehnung fortschreitet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7: Verlauf einer Ruhespannungs- Dehnungskurve im physiologischen Dehnbereich sowie bis jenseits der Grenze der Filamentüberlappung (aus Wiemann et al., 1998, S. 112)

Ursprünglich wurde davon ausgegangen, dass die Elastizität des Muskels zum Einen durch den Dehnungswiderstand der Sehne bestimmt wird, die den Ursprung und Ansatz des Muskels am Knochen bildet, in Serie zu den plastischen, kontraktilen Elementen verläuft und demzufolge als serien- elastisches Element bezeichnet wird. Zum Anderen wurden die parallel zu den kontraktilen Elementen verlaufenden und deshalb als parallel- elastischen Elemente bezeichneten bindegewebigen Faserbündel und das Sarkolemm als Quellen der elastischen Eigenschaften vermutet (Schmidt & Thews 1977, zitiert nach Klee & Wiemann, 2005, S. 31). Diese Position wird in einer Vielzahl von, zum Teil älteren, trainingswissenschaftlichen und sportmedizinischen Veröffentlichungen vertreten, die oftmals das Trainingsziel formulieren, den Dehnungswiderstand der Faserhüllen zu reduzieren und dadurch größere Gelenkamplituden zu erreichen (u.a. de Marees & Mester, 1991, S. 62, Ullrich & Gollhofer, 1994, S. 337, Albrecht, Mayer & Zahner, 1997, S. 23, Schnabel et al., 1998, S. 124).

Durch eine Untersuchung von Magid und Law (1985) wurde nachgewiesen, dass die elastischen Spannungen nicht durch die Bindegewebshüllen erzeugt werden. Sie entfernten das Sarkolemm von der Myofibrille und stellten fest, dass sich das Dehnungsverhalten nicht änderte. Daraufhin schlussfolgerten sie, dass der elastische Widerstand in den Myofibrillen selbst entstehe. Die Faserhüllen hingegen würden sich erst bei Dehnungsgraden von 170% der Ruhelänge am Dehnungswiderstand beteiligen. Solche Dehnungsgrade, bei denen sich Aktin- und Myosinfilamente nicht mehr überlappen, kommen jedoch nicht im lebenden menschlichen Organismus vor, dessen am weitesten dehnbare Muskelgruppe die ischiocrurale Muskulatur ist, die sich bis maximal 160% der Ruhelänge verlängern kann (siehe Abb. 7).

Anfang der 80er Jahre wurde das „klassische Zwei- Filament- Sarkomermodell“ (Fürst, 1999, S. 218) aufgehoben, weil verschiedene Untersuchungen weitere Strukturproteine im Sarkomer entdeckten, die als tertiäre Filamente bezeichnet werden und für den Erhalt der Sarkomerstruktur und die Übertragung von inneren und äußeren Spannungen von zentraler Bedeutung sind. Nach Untersuchungen zum Dehnungsverhalten der neu entdeckten Strukturproteine gelang Wang et al. (1991, zitiert nach Wiemann et al., 1998, S. 112) durch chemische Auflösung der anderen tertiären Filamente schließlich der Nachweis, dass die Titinfilamente für die Ruhespannung des Muskels verantwortlich sind.

[...]


[1] M. rectus femoris: gerader Schenkelmuskel

[2] M. iliacus: Darmbeinmuskel, M. psoas major: großer Lendenmuskel (in umgangssprachlicher Bezeichnung werden beide zusammengefasst zum M. iliopsoas, dem sogenannten Hüftbeuger)

[3] Anatgonist (griech.: Gegenhandler): Gegenspieler des Agonisten, der gedehnt wird, wenn sich Agonist kontrahiert.

[4] Agonist (griech.: der Tätige, Handelnde): handelnder Muskel, der bei zunehmender Aktivität von seinem Gegenspieler gehemmt wird.

[5] Mm. ischiocrurales: zusammenfassende Bezeichnung für die zweigelenkigen Muskeln der Oberschenkelrückseite M. biceps femoris, M. semitendinosus und M. semimembranosus

[6] M. quadriceps femoris: vierköpfiger Oberschenkelmuskel

[7] Schnabel, Harre und Borde (1998, S. 127) verstehen unter Bewegungsreserve den nicht in Anspruch genommenen Grenzbereich der aktiven oder passiven Beweglichkeit.

[8] Osteochondrose: degenerative Erkrankung vor allem der Hals- und Lendenwirbelsäule mit ähnlichem Verlauf wie Arthrose, bei der zuerst die Bandscheibe und danach die Wirbelkörper betroffen sind.

[9] Hypertrophie: Größenzunahme von Zellen (physiologische Anpassung der Muskelzellen an Kraftbelastungen).

[10] Glutäen: Gesäßmuskeln

[11] Eine motorische Einheit ist die funktionelle Einheit aus motorischer Vorderhornzelle im Rückenmark (a- Motoneuron), dazugehörigem Nerv und den von der Nervenfaser innervierten Muskelfasern.

[12] Palpation: Abtasten der Körperoberfläche zur Beurteilung der Zusammensetzung, Beweglichkeit oder Schmerzempfindlichkeit von Körperstrukturen wie der Muskulatur.

[13] Im Ruhezustand sind die Muskelzellen negativ geladen (Ruhepotential zwischen -70 bis –90 mV). Durch Reize wird eine Änderung des Ladungszustandes (Depolarisation) ausgelöst und ein Aktionspotential entsteht (ca. +30mV). Jede Muskelkontraktion wird durch ein Aktionspotential begleitet, das durch ein EMG gemessen werden kann.

[14] supraspinal= oberhalb des Rückenmarks

[15] Der kinästhetische Analysator „misst“ durch Rezeptoren die Raum- Zeit- Wirkung einer Bewegung und übermittelt diese Information über afferente (aufsteigende) sensorische Nervenbahnen an ZNS. Gehört zu den Interorezeptoren (innerer Regelkreis), weil Rezeptor in den ausführenden Organen, d.h. Muskel, Sehne, Gelenk, liegt (genau wie vestibulärer Analysator im Ohr, der für den Gleichgewichtssinn verantwortlich ist). Der äußere Regelkreis(Exterorezeptoren) wird vom optischen, akustischen und taktilen Analysator gebildet.

[16] Patellarsehnenreflex: durch leichten Schlag auf die Patellarsehne erfolgt Streckung des Kniegelenks, weil Muskelspindeln im Oberschenkel die Spannungsänderung messen und Dehnungsreflex auslösen.

[17] Beim Fremdreflex liegen Rezeptor und Effektor in unterschiedlichen Organen, z.B. wenn Rezeptoren des taktilen Analysators in der Haut einen Reiz aufnehmen und ein Muskel den Reiz beantwortet. Fremdreflexe verlaufen über mehrere Neuronen und werden deshalb auch als polysynaptische Reflexe bezeichnet (vgl. Weineck, 2003).

[18] Da Reflexe von Muskelspindeln und Golgi- Sehnenorganen zuerst im gedehnten Muskel ausgelöst werden, ist er in solchen Fällen der handelnde Muskel und wird deshalb als Agonist bezeichnet (siehe Abb. 4), im Gegensatz zu den Formen der aktiven Beweglichkeit, bei denen der kontrahierte Muskel der Agonist ist (siehe Kap. 2.3.2, S. 9)

[19] Nach einer Kontraktion (Verkürzung der Fasern) des Muskels besitzen die Golgi- Sehnenorgane eine niedrige Reizschwelle und feuern bei geringen Kontraktionen, um eine schnelle Entspannung der zuvor verkürzten Muskelfasern zu bewirken (vgl. Kissner & Colby, 2000, S. 125)

[20] M. triceps surae: dreiköpfiger Wadenmuskel (zusammenfassende Bezeichnung für M. soleus und M. gastrocnemius)

[21] M. tibialis anterior: Vorderer Schienbeinmuskel

[22] Supination: Drehbewegung des Fußes nach innen durch Hebung des inneren Fußrandes

[23] Aufgrund der doppellichtbrechenden (= anisotropen) Eigenschaft des Myosins werden diese Streifen auch als A- Streifen bezeichnet. Aktin ist i sotrop, d.h. einfachlichtbrechend, und erscheint dadurch als heller Streifen im Mikroskop, der als I- Streifen bezeichnet wird.

Fin de l'extrait de 140 pages

Résumé des informations

Titre
Der Einfluß von Dehnungsmethoden auf Leistungsfähigkeit und Verletzungsprävention im Sport
Sous-titre
Ein systematischer Review
Université
Otto-von-Guericke-University Magdeburg
Note
1,5
Auteur
Année
2006
Pages
140
N° de catalogue
V85100
ISBN (ebook)
9783638900133
ISBN (Livre)
9783638905633
Taille d'un fichier
1414 KB
Langue
allemand
Mots clés
Dehnungsmethoden, Verletzungsprävention, Systematischer Review, Muskelphysiologie, Leistungsfähigkeit im Sport, Bewegungslehre
Citation du texte
M. A. Stefan Elbe (Auteur), 2006, Der Einfluß von Dehnungsmethoden auf Leistungsfähigkeit und Verletzungsprävention im Sport, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85100

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