Psychoanalyse und Kulturanalyse

Vom Nutzen eines Methodentransfers am Beispiel der tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation und deren Anwendung auf Kafkas "Vor dem Gesetz"


Magisterarbeit, 2002

76 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Kooperation Literatur - Psychoanalyse
1.2. Von der Anwendung zum Transfer
1.3. Gegenstand und Probleme

2. Die Theorie der Psychoanalyse
2.1. Der Traum: Transport, Transformation, Translation
2.2. Missing link: die sozialisierte Phantasie
2.3. Die Phantasie: Spiel, Form, Reservat
2.4. Traumdeutung oder Therapie als Paradigma der Textdeutung?

3. Die Praxis der Psychoanalyse
3.1. Orientierung am psychoanalytischen setting
3.1.1. Die Grundregel und ihr Gegenstück
3.1.2. Übertragung und Gegenübertragung
3.2. Gelingen und Aporie der Selbstanalyse

4. Die Theorie der Kulturanalyse
4.1. Tiefenhermeneutische Kulturanalyse/Lorenzer
4.1.1. Symbolisierung und Desymbolisierung
4.1.1.1. Symbole als kulturelle Leistung
4.1.1.2. Klischees
4.1.2. Szenisches Verstehen
4.1.3. Der Text als Träger der Szene
4.1.4. Rollenverteilung, Modifikationen
4.2. Tiefenhermeneutische Methode/Würker

5. Die Praxis der Kulturanalyse
5.0. Franz Kafka: Vor dem Gesetz
5.1. Tiefenhermeneutische Interpretation
5.1.1. Inversion der Szene
5.1.2. Schwellenangst: Freuds Zimmer
5.2. Ergebnisse

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1. Kooperation Literatur – Psychoanalyse

Die wechselseitigen Beeinflussungen von Literatur und Psychoanalyse sind so vielfältig und zahlreich an Beispielen, daß von einer gelungenen Kooperation zwischen beiden Gebieten gesprochen werden kann. Aufgrund des so unterschiedlichen Alters beider Disziplinen ist evident, daß zunächst der Blick des Psychoanalytikers auf die Literatur erfolgte, bevor sich - das aber fast ohne Zeitverzug - das Interesse der Literaten der Psychoanalyse zuwandte. An der Entstehung der Psychoanalyse läßt sich der Literatur ohne weiteres eine Beteiligung nachweisen, denn nicht zuletzt anhand der Freudschen Gedanken zur literarischen Produktion, Rezeption und Interpretation entwickelte sich die Erkenntnis der universellen Struktur des Unbewußten. So ist ohne den Rekurs Freuds auf Sophokles’ Drama die Beschreibung des Ödipuskomplexes unmöglich; die in der Traumdeutung enthaltenen Hamlet- und Ödipusinterpretationen dienten neben der Erläuterung typischer Träume auch der These, daß in beiden tragischen Helden vor allem „das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit“[1] sichtbar würde. Auf der Grundlage von Jensens Gradiva und den darin verarbeiteten Träumen versuchte Freud, literarische Produktionsbedingungen zu erschließen. Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken gaben ihm Anlaß, Gesetzmäßigkeiten der Paranoia zu erläutern.[2] Die Phantasie des Kindes, einer anderen Familie anzugehören als der eigenen unzulänglichen nannte Freud einen Familien roman und erkannte dessen Struktur in der Novelle Die Richterin von C. F. Meyer wieder.

Schon diese längst nicht vollständige Aufzählung Freudscher Forschung zeigt, daß es nicht nur einen Zugang der Psychoanalyse zur Literatur gibt, sondern daß verschiedene Probleme zum Gegenstand der Beschäftigung wurden. So hat Freud beispielsweise „Charaktertypen nach literarischen Figuren beschrieben: ‚Die am Erfolge scheitern’ etwa nach Lady Macbeth und an Rebekka West aus Ibsens ‚Rosmersholm’. Bei Freud herrscht in diesen Fällen das Kooperationsmodell zwischen Literatur und Psychoanalyse: die literarische Darstellung der Autoren antizipiert die analytische.“[3] Die Dichtung beschrieb schon seit Jahrtausenden menschliche Tragödien, und Freud war derjenige, der sich dieser künstlerischen Antizipation seiner Forschungen immer bewußt blieb.

Selbst Freuds Fallgeschichten, die sich für ihn wie Novellen lasen (was er eher erschrocken zur Kenntnis nahm), sind mittlerweile auch Teil der Literaturgeschichte. Die Beschreibung der menschlichen Beziehungen war keine Domäne der Dichtung mehr, sondern Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und therapeutischer Praxis einer neuen Disziplin geworden.

1.2. Von der Anwendung zum Transfer

Die Anfänge der psychoanalytischen Beschäftigung mit Literatur sind in der Hauptsache geprägt von Anwendungen verschiedener Erkenntnisse auf sie. Trotzdem es sich bei dieser Arbeit nicht um eine Wirkungs- oder Einflußgeschichte handelt, erscheint es mir notwendig, ihren historischen Standpunkt zu markieren. Deshalb möchte ich wenigstens in groben Umrissen die Hauptwege einer psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft nachzeichnen, da sich erst aus diesen Erfahrungen die zwingende Notwendigkeit einer Revision des Ansatzes ergab.

Am berüchtigtsten sind wohl die Arbeiten, die man dem Stichwort Biographismus zuordnen kann. Deren Ergebnisse waren oft reduktionistisch, so daß es nicht verwundert, wenn Theodor W. Adorno seine Einwände gegen eine psychoanalytische Deutung von Kunstwerken formuliert:

„Ihr [der Psychoanalyse, J.T.] gelten die Kunstwerke wesentlich als Projektionen des Unbewußten derer, die sie hervorgebracht haben, und sie vergißt die Formkategorien über der Hermeneutik der Stoffe, überträgt gleichsam die Banausie feinsinniger Ärzte auf das untauglichste Objekt, auf Lionardo oder Baudelaire. Das trotz aller Betonung des Sexus Spießbürgerliche ist daran zu demaskieren, daß durch die einschlägigen Arbeiten, vielfach Ableger der biographischen Mode, Künstler, deren œuvre die Negativität des Daseienden ohne Zensur objektiviert, als Neurotiker abgekanzelt werden.“[4]

Der Künstler ist das untaugliche Objekt der Analyse; er wird zum Opfer des banausischen Biographismus. Die naive Verschränkung von Werk und Leben des Autors in der Analyse leistete in den Augen ihrer Kritiker vor allem seiner Pathologisierung Vorschub. Am Ende derartiger Arbeiten war der Leser nur allzu oft mit einer Diagnose des Autors konfrontiert, die die Leistung des Werks vergessen ließ oder in Mißkredit brachte. Als, natürlich trotz allem verdienstvolle, Beispiele lassen sich hier Marie Bonapartes Studie Edgar Allen Poe und Freuds Betrachtungen zu Goethe und Dostojewski anführen.

Dieser grundsätzlichen Kritik am Biographismus ist entgegenzuhalten, daß von einem ,Pathologisieren’ eigentlich nicht die Rede sein dürfte. Denn vom theoretischen Standpunkt aus sind neurotische Symptome und Sublimierungsleistungen (d. h. kulturelle Leistungen) gleichartig, wie Freud immer wieder betonte:

„Nach der psychoanalytischen Theorie sind die Symptome der Neurosen entstellte Ersatzbefriedigungen von sexuellen Triebkräften, denen eine direkte Befriedigung durch innere Widerstände versagt worden ist. Später, als die Analyse über ihr ursprüngliches Arbeitsgebiet hinausgriff und sich auf das normale Seelenleben anwenden ließ, versuchte sie zu zeigen, daß dieselben Sexualkomponenten, die sich von ihren nächsten Zielen ablenken und auf anderes hinleiten lassen, die wichtigsten Beiträge zu den kulturellen Leistungen des einzelnen und der Gemeinschaft stellen.“[5]

Das Revolutionäre an Freuds Auffassung der Ätiologie der Neurosen war ja gerade die Feststellung, daß die Wege der Symptombildung keine krankheitsspezifischen sind, sondern nur der dafür verbrauchte Aufwand an Energie sie zu solchen macht - also eine Frage der Quantität ist. Trotzdem gehört wohl ein Biographismus, der den unmittelbaren Konnex von Leben und Werk sucht, indem er den Autor als Patienten auf die Couch legt und sein Werk als Hinweis auf die zugrundeliegende Störung betrachtet, der Vergangenheit an. Der Autor als Untersuchungsgegenstand einer psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft ist obsolet geworden.

Neben dieser pathobiographischen Anwendung war eine weitere verbreitet, die vor allem eine einfache Überblendung inhaltlicher Konzepte der Psychoanalyse auf die Literatur vornahm. Literatur wurde hier als Belegreservoir metapsychologischer Konstruktionen benutzt, so daß man letztlich in den meisten Texten lediglich Ausformungen des Narzißmus, des Inzests, der Paranoia usw. entdeckte. Im konkreten Fall wurde die Krankheitslehre einfach auf literarische Figuren angewandt. So gelang es zwar, ein der Handlungsstruktur zugrundeliegendes Motivationsmuster aufzudecken, aber gleichzeitig muß sich dieses Vorgehen den Vorwurf gefallen lassen, Brüche und Irritationen der Charaktere, die nicht ins Krankheitsbild passen, zu verschweigen. Noch dazu werden oft Figuren marginalisiert, die sich nicht einem gängigen Beziehungsmuster einfügen oder sich anderweitig nicht konform zur Theorie verhalten.

Zusammenfassend gibt es zwei Fallen, in die der Interpret tappen kann: erstens, indem er über den ‚Umweg’ des Textes den Autor analysiert; und zweitens, indem er literarische Figuren nach dem gleichen Muster wie lebendige Menschen analysiert.

Diese Ansätze haben gemeinsam, daß sie sich keiner methodischen Basis bewußt sind. Folgt man diesen Auffassungen, würde es ausreichen, Versatzstücke aus dem Bereich der Psychoanalyse zu extrahieren und die literarische Analyse mit ihnen zu spicken. Doch was nützt es letztlich, Hamlet als Hysteriker zu entlarven oder Kafka als neurotischen Charakter zu klassifizieren? Wenig bleibt von der Eigenart des Textes oder der Erklärung der Faszination für Generationen von Lesern. Die Befunde der Klinik lassen sich nicht auf die Literatur übertragen. Es ist die Frage nach Gegenstand und Methode einer psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft, die an dieser Stelle auftaucht.

Sicherlich, gerade diese Anwendungen hat Freud in seinen sich mit Kunst und Literatur explizit auseinandersetzenden Schriften vorgenommen. Allerdings existiert unter ihnen eine Ausnahme, wie Alfred Lorenzer und andere Autoren bemerkten. Es ist Der Moses des Michel­angelo, der die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern tiefenhermeneutisch-psychoanalytischer Provenienz auf sich zog. Freud zeigt in ihm nämlich eine ihnen verwandte Vorgehensweise: Er analysiert zunächst seine eigenen Emotionen, seine eigene Situation im Angesicht der Skulptur. Bevor er aber sein operatives Theoriebesteck zückt, läßt er sich bei dieser Arbeit auf die unmittelbare Wirkung ein. Freuds Analyse der Statue anhand der gestischen Progression liest sich deshalb beinahe wie ein Lehrstück im Sinne Lorenzers. Dessen Unternehmen, aus der Psychoanalyse ein Verfahren zur Kulturanalyse zu gewinnen, führt in eine neue Richtung. Statt pathobiographischer oder anderer Anwendungen der Psychoanalyse werden nun Wege gesucht, Erkenntnisse aus der Analogisierung von therapeutischem und literarischem Prozeß zu ziehen.[6] Das angestrebte „Projekt eines Methodentransfer[s]“[7], konzentriert sich stattdessen auf das Leser-Text-Verhältnis. Hierbei wird die tiefenhermeneutische Dimension der Psychoanalyse für die Literaturwissenschaft nutzbar gemacht. Eine gemeinsame Klammer bildet dabei das ‚szenische Verstehen’, das in Lorenzers kritischer Diskussion der psychoanalytischen Praxis eine Schlüsselstelle einnimmt. Das verbindendende Element von Psychoanalyse und Literaturinterpretation ist also die hermeneutische Ebene, der nicht versiegende Bedarf, die Äußerungen bzw. Texte zu deuten.

Ganz allgemein kann gesagt werden, daß bei der in dieser Arbeit vorgestellten Interpretationsmethode eine stärkere Gewichtung auf dem Rezeptionsaspekt liegt, denn die der Interpretationsleistung vorausgehende Lektüre (oder eben Betrachtung) verweilt mit Bedacht länger beim manifesten Inhalt, um keine vorzeitigen Schlüsse zu ziehen. Diese Gefahr ist gerade bei psychoanalytisch geschulten Interpreten gegeben, die mit einem metapsychologischen Theoriekonstrukt vertraut sind.

Trotz der Orientierung an den Lorenzerschen Reformulierungen soll die Arbeit jedoch mit einer Rückbesinnung auf Freud beginnen. Die von ihm geprägten Grundlagen der psychoanalytischen Beschäftigung mit Kunst und Literatur lassen verschiedene Optionen erkennen, denen sich der Interpret einer tiefenhermeneutisch-psychoanalytischen Richtung gegenübersieht. Nutzbar gemacht wurden Erkenntnisse über Bildung und Wirkung des Traumes genauso wie grundsätzliche Überlegungen zu Phantasietätigkeit und künstlerischer Produktion. Die Diskussion der technischen Ratschläge Freuds an den Therapeuten bildet ebenfalls ein eigenes Kapitel, da die in ihr reflektierte Situation des Analytikers Rückschlüsse auf diejenige des Interpreten erlaubt. Es liegt jedoch auf der Hand, daß bei aller Ähnlichkeit der hermeneutischen Basis gerade die unterschiedlichen settings in Therapie und Literatur einer methodischen Beschränkung und Grundierung bedürfen. Inwieweit sich diese verschiedenen Verfahrensweisen der Psychoanalyse anhand der Situation des Lesers und Interpreten modifizieren und eben transferieren lassen, wird ein Gegenstand dieser Arbeit sein.

Es zeichnen sich dabei vor allem zwei Wege ab, die in der Praxis der tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation zueinander kommen: Einerseits wird die Traumdeutung als Paradigma der Textdeutung gesehen und andererseits aus den Abläufen und Vorgängen des psychoanalytischen settings eine modifizierte Technik der Text-interpretation erarbeitet. Der eigentliche Methodentransfer kann nur auf einer Ebene der Ähnlichkeit des Verstehens zwischen psychoanalytischem Prozeß und literarischer Rezeption gelingen. Anhand des Versuchs Lorenzers, eine tiefenhermeneutische Kulturanalyse theoretisch zu begründen, möchte ich die Bedingungen dieses Transfers darstellen. Der Lorenzer nachfolgende Interpretationsansatz von Achim Würker, den ich lediglich in seinem methodischen Vorgehen bewerten will, soll dann die Diskussionsgrundlage für meinen Versuch einer tiefenhermeneutischen Kafka-Interpretation bilden.

1.3. Gegenstand und Probleme

Erkenntnisgegenstand der Psychoanalyse ist das Unbewußte des Analysanden, der einer tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation die latente Sinnstruktur des Textes. Allein die Sprache scheint auf den ersten Blick Untersuchungsgegenstand dieser beiden Disziplinen. Nun machen aber gerade, ausgewiesen in Freuds technischen Schriften, die Hinweise auf die Art und Weise der Durchführung der Psychoanalyse deutlich, daß sowohl die Äußerungen des Analysanden wie die Deutung des Analytikers sich nicht auf das Gesagte beschränken lassen. Die Notwendigkeit der Deutung des Analytikers ergibt sich aus der Annahme der Psychoanalyse, daß der Analysand das Gesagte nicht meint. In diese Sinnlücke muß der Analytiker einspringen. Seine Aufgabe besteht darin, dem Analysanden die Bedeutung des Gesagten zu erschließen. Das Unbewußte kann nicht ,gesagt’ werden, vielmehr kann die Semantik des Wunsches nur durch die Pragmatik der Analysesituation erschlossen werden. Denn in ihr laufen, nonverbal, Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgänge ab, die individuell auf bestimmte Beziehungsmuster verweisen. Diese müssen von den Beteiligten erst agiert und erkannt werden, um – verbal - bearbeitet werden zu können. Gerade diese technischen Schriften machen demnach deutlich, daß die Technik nicht von inhaltlichen Aspekten getrennt werden kann.

Einem ähnlichen Paradox sieht sich der Leser und Interpret gegenüber: Literatur handelt immer auch vom Unsagbaren. Nicht anders als in der Analyse ist es die spezielle Beziehung zwischen Interpret und Interpretandum, die diese Spanne überbrücken muß. Der Text enthält einen Mehrwert, der seine Wirksamkeit garantiert – da er aber nun einmal fixiert ist, muß sich die Interpretation immer wieder an ihm selbst bewähren. Der Text variiert nicht, bietet keine Assoziationen, dies hat der lesende Interpret zu leisten. Eine der Hauptquellen der psychoanalytischen Deutung allerdings ist die freie Assoziation des Analysanden. Wenn aber der Literaturwissenschaftler der Interpret des Textes ist, also die Rolle des Analytikers einnimmt, ist er angewiesen auf seine eigenen Assoziationen. Ungeklärt bei alledem erscheint bei einem ersten Blick also schon die Rollenverteilung. Wenn man von der Technik der klassischen Psychoanalyse ausgeht, müßte man wohl eher vermuten, daß der Text die Rolle des Analytikers übernimmt. Liest also der Interpret nicht viel eher sein Unbewußtes als das des Textes? Nicht unberechtigt demnach auch die Frage: Wer liest wen?

Daher ist zunächst die Offenlegung der eigenen Voraussetzungen und des methodischen Vorgehens des Interpreten bei einer psychoanalytisch operierenden Literaturwissenschaft unabdingbar, genauso wie es die Lehranalyse ist, um den Analytiker der Arbeit mit dem Analysanden zu befähigen.[8] Wenn man den Lorenzers Ansatz einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse als kritischer Wissenschaft analog der Psychoanalyse ins Gedächtnis ruft, so muß seine Zielsetzung, nämlich die gesellschaftlich-lebenspraktische Veränderung, zuerst beim Leser und Interpreten greifen:

„Erkenntnis hängt hier ab von der Verständigung über zugelassene oder verbotene Lebensformen, um die Regeln und Normen der Lebenspraxis muß es also auch in der Literatur gehen, sobald sie modo psychoanalytico untersucht werden soll. [...] Die gewünschten, aber verbotenen und deshalb nicht bewußtseinsfähigen Lebensentwürfe sind der Gegenstand der psychoanalytischen Hermeneutik in der Therapie. Sie sind es auch in der Literaturdeutung.“[9]

2. Psychoanalytische Theorie

2.1. Der Traum: Transport, Transformation, Translation

Beginnen möchte ich mit dem Traum, um eine Reihe zu eröffnen, die nicht erst seit Freud in einem engen Zusammenhang gesehen wurde: Traum-Tagtraum-Spiel-Kunstwerk. Die daran beteiligte Phantasieleistung, die Regie des Unbewußten sowie das formale Erscheinen sollen dabei das Interesse leiten.

Es ist vor allem eine Kernthese, auf der Freuds Traumdeutung basiert: Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Dieses ökonomische Faktum möchte ich zunächst lediglich festhalten, und mich zuerst auf die Art und Weise konzentrieren, wie sich der Traum darstellt. Ich denke, es ist weder notwendig als auch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, Freuds allseits bekannte Ausführungen zum Traum zu wiederholen, deshalb möchte ich meine Überlegungen um folgende Aspekte der Traumdeutung gruppieren:

- der Traum ist die via regia zum Unbewußten
- manifester und latenter Inhalt stehen in einem Translationsverhältnis

zueinander.

Diese werde ich vor allem mit meiner Beobachtung des Prozesses von der Traumarbeit bis zur Deutung konfrontieren, denn meiner Ansicht nach durchläuft der Traum eine Reihe von Transformationen, die mit der Umwandlung von latentem in manifesten Inhalt und zurück nicht zureichend beschrieben ist.

Welches ist das Ausgangsmaterial? Zunächst einmal hat der Träumer ein Traumbild vor Augen, bevor er einen Traumtext erzählen kann. Dieser Dominanz des Bildes tragen die zahlreichen Vergleiche Freuds Rechnung, in denen er vom Traum als einem Bilderrätsel spricht. Die Traumarbeit wird mit Rücksicht auf Darstellbarkeit verrichtet, und nicht mit Rücksicht auf Erzählbarkeit. Jeder kennt das Erlebnis des Traums, das Gefangensein in der Situation, das auf die Distanzlosigkeit des Träumers zum Geschehen zurückzuführen ist. Im Traum agiert der Träumer in der Szene. Dieses Involviertsein kann erst in einem zweiten Schritt, der Traumerzählung, aufgehoben werden. Diese ist eine Rückkehr in die Logik der Sprache, denn nach Freuds Auffassung verläßt der Traum diese:

„Wenn dann die ganze Masse dieser Traumgedanken der Pressung der Traumarbeit unterliegt, wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden, etwa wie treibendes Eis, so entsteht die Frage, was aus den logischen Banden wird, welche bishin das Gefüge gebildet hatten. Welche Darstellung erfahren im Traum das ,Wenn, weil, gleichwie, obgleich, entweder - oder’ und alle anderen Präpositionen, ohne die wir Satz und Rede nicht verstehen können?

Man muß zunächst darauf antworten, der Traum hat für diese logischen Relationen unter den Traumgedanken keine Mittel der Darstellung zur Verfügung. Zumeist läßt er all diese Präpositionen unberücksichtigt und übernimmt nur den sachlichen Inhalt der Traumgedanken zur Bearbeitung. Der Traumdeutung bleibt es überlassen, den Zusammenhang wieder herzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat.“[10]

Freud fragt nach der Syntax des Traums: Im Traum erscheinen die logischen Relationen der einzelnen Elemente zueinander aufgehoben. Sie wurden von der Traumarbeit vernichtet, dies ist im Gegensatz zur Entstellung der Inhalte im Bild die radikalere Variante der Zensur. Erschlossen werden kann das Ganze nur durch die Traumdeutung, die den syntaktischen Gehalt wieder herstellt. Der Traum, so wie er sich dem Bewußten darstellt, ist eine Art Bilderrätsel. Die Dominanz der Form prägt die Wahrnehmung. Diese asyntaktische Erscheinungsform des Traums ist typisch für den Primärvorgang.

Und dennoch äußert Freud im mehrfach ausgebauten Vergleich der Übersetzung die These von den beiden Sprachen:

„Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte.“[11]

Freud vergleicht den manifesten Inhalt mit einer Bilder schrift. Es ist eine Art von Rück-Übersetzung zu leisten, denn diese Bilderschrift muß in die Sprache der Traumgedanken übertragen werden; genau diese Traumgedanken haben aber erst die Visualisierung in Gang gesetzt, die die verschlüsselte Art ihrer Erscheinung der Existenz der Traumzensur zu verdanken haben. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken stehen zueinander in einem Verhältnis der grundsätzlichen Übersetzbarkeit. Der Eigenwert der Bilder ist für die Deutung irrelevant; der Versuch einer Deutung innerhalb der Sphäre der Abbildung würde lediglich zu einem weiterhin verschlüsselten Symbolismus führen:

„Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos.“[12]

Die Ersetzung des Bildes durch Silbe oder Wort – eben die Übersetzung – enthüllt den Sinn, den latenten Inhalt. Die Traumbilder in ihre Zeichenbeziehung zu setzen, ist demnach eine Übersetzungsaufgabe und mit der gelungenen Übersetzung ist auch schon die Deutung, womöglich in Form des ‚sinnreichsten Dichterspruchs’ geleistet. Die Traumbilder, die vorher ihren semantischen Gehalt - den erfüllten Wunsch - nicht preisgaben, sondern nur transportierten, werden durch die Deutung wieder lesbar.

Zwei Dinge erscheinen an dieser Übersetzungsthese irritierend:

Erstens: An welcher Station erfolgt die Übersetzung, wenn die Deutung schon mit dem Ersetzen des Bildes durch das Wort geleistet ist? Die Traumerzählung ist offensichtlich ein Ersetzen des Bildes durch das Wort, aber noch keine Deutung. Deshalb möchte ich differenzierter nach den Stationen der Versprachlichung des Traumes fragen.

Zweitens: Eine wesentliche Annahme Freuds ist es, die Traumgedanken als zuvor geformtes, von der Traumarbeit dann transformiertes Gebilde zu betrachten. Die ‚Sprache der Traumgedanken’ ist also die erste Sprache. Die Übersetzung wäre eine Rückübersetzung in die erste Sprache. Wie verträgt sich diese Auffassung damit, daß das Unbewußte alogisch und asyntaktisch ist? Die latenten Traumgedanken wären, dank ihrer ‚logischen Bande’, demnach dem System Bewußt zuzuordnen. Wie kann der Traum dann die via regia zum Unbewußten sein?

Eindeutig aber lassen die Freudschen Annahmen das Resümee zu, daß die Transformation dem Transport der latenten Gedanken dient.

Um Klarheit zu gewinnen, möchte ich den verschiedenen Stationen folgen. Der Traum durchläuft auf seinem Weg vom Träumen zum Deuten eine ganze Anzahl Transformationen, die m. E. mit der Translation einer Sprache in eine andere nicht ganz zu fassen ist. Die Bedeutung, die schon hier der Formfrage anhaftet, kann der Äußerung Freuds entnommen werden: „Kurz, was nach der Meinung der Autoren [der Traumerzählung, J.T.] eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text.“[13] Es werden keine ästhetischen Kriterien, etwa von Wohlgeformtheit oder Stringenz, von außen herangetragen, sondern zunächst zählt der Blick auf das ‚heilige’ Dokument.

Schematisiert sehen die verschiedenen Stufen, die der Traum durchläuft, etwa folgendermaßen aus[14]:

Traumarbeit-Verschiebung und Verdichtung der Traumgedanken

Traumbild-manifester Inhalt und latente Gedanken

Traumerinnerung-manifester Inhalt

Traumerzählung-manifester Inhalt

Traumassoziation-latente Gedanken

Traumdeutung-latente Gedanken

Im ersten Schritt unterliegen die Traumgedanken der Traumarbeit. Sie werden entstellt, verschoben, überdeteminiert, so daß eine Form entsteht, die den nicht Ich-gerechten Wunsch unkenntlich macht: das Traumbild. Dieser manifeste Traum, der die latenten Gedanken transportiert, ist das Produkt des Träumers. So weit der Träumer den Traum erinnert, ist er schon gezwungen, ihn in eine Traumerzählung zu verwandeln, wenn er den Traum mitteilen soll. Lücken und unzureichender Zusammenhang, die manchmal durch die sekundäre Bearbeitung beseitigt werden, hinterlassen beim Traumerzähler oftmals das Gefühl, nicht alles sagen zu können oder das meiste vom Traum vergessen zu haben. Er hat den Eindruck, einen improvisierten Text zu produzieren, der gegen sein ursprüngliches Produkt, den Traum, abfällt. Aber genau diese angeblich improvisierte Erzählung des manifesten Inhalts wollte Freud wie einen heiligen Text behandelt wissen. Heilig im Sinne einer Exegese auch der scheinbar unbedeutenden Anteile: Jedes Wort zählt, keines ist überflüssig; denn die Verschiebung bewirkt zumeist ein Verstecken der Hauptsache in einer vermeintlichen Nebensächlichkeit und umgekehrt.

Der Erzähler des Traums hat nicht nur den Traum nicht vergessen, er verhält sich schon als distanzierter Beobachter. Ihm ist es gelungen, sich aus der Zwangssituation, die der mit Macht andrängende Wunsch gebietet, zu befreien. Mit dem Erwachen erfolgt die Befreiung aus der Szene, deren bildliche Präsenz zur Erzählung umgeformt werden muß.

Ein geschulter Deuter fragt nun nach den Assoziationen des Träumers zu den Bildern. Der Träumer wird ihm ein ganzes Netz an Bezügen offenbaren, das sich aus Tagesresten und Bedeutungsaufladungen früherer, infantiler Zeit zusammensetzt. Dem ursprünglichen ‚heiligen’ Text werden Assoziationen beigefügt, die den Traumtext in seiner individuellen Determination aufschließen. Die einzelnen Elemente erweisen sich somit nicht als Posten eines Symbolkatalogs, sondern als originäres Material des Produzenten.[15] Indem nun die Traumerzählung und die zugehörigen Assoziationen interpretiert werden, entsteht die Entzifferung bzw. Lösung des Rebus. Dabei kann die Mitteilung der Deutung, d. h. die Mitteilung der latenten Gedanken, ebenso wie in der psychoanalytischen Praxis, beim Träumer verschiedene Reaktionen, nämlich Einverständnis oder Abwehr, hervorrufen. Genaugenommen wird also die Traumerzählung gedeutet und nicht der Traum in seiner bildlichen Erscheinungsform.

Rückübersetzung bedeutet auch, daß kein Unterschied zwischen den Traumgedanken vor der Traumarbeit und denen in der mitgeteilten Deutung besteht. Freud benutzt den Terminus ‚Traumgedanken’ für beide Zustände. Damit besteht das Ziel der Deutung darin, anstelle des manifesten Inhalts die latenten Gedanken zu setzen, die ursprünglich schon vorhanden waren. Der Schritt vom Bild zur Traumerzählung bedeutet dann zwar Transformation und Translation, die Gedanken bleiben aber in ihrem latenten Transportzustand. Die Traumerzählung ist zwar eine Translation von einer Sprache in die andere, sie findet aber lediglich innerhalb der manifesten Erscheinungsform statt. Die zweite Translation, nämlich vom manifesten Inhalt zum latenten, erfolgt durch den Deuter.

Meine anfangs formulierten Irritationen wurden teils durch die Undeutlichkeit der Übersetzungsthese, teils von meiner Vorannahme, daß es sich bei den latenten Gedanken um unbewußte Inhalte handelt, hervorgerufen. Neben dem beschriebenen Übersetzungsprozedere des Traums liegt die Lösung wohl in folgendem Zitat:

„Nehmen wir an, wir überblicken in einem bestimmten Falle alle die latenten, mehr oder minder affektiv geladenen Gedanken, durch die sich nach vollzogener Traumdeutung der manifeste Traum ersetzt hat. Dann fällt uns unter ihnen ein Unterschied auf, und dieser Unterschied wird uns weit führen. Fast alle dieser Traumgedanken werden vom Träumer erkannt oder anerkannt; er gibt zu, er hat so gedacht, diesmal oder ein ander Mal, oder er hätte so denken können. Nur gegen die Annahme eines einzigen sträubt er sich; der ist ihm fremd, vielleicht sogar widerlich; möglicherweise wird er ihn in leidenschaftlicher Erregung von sich weisen. Nun wird uns klar, die anderen Gedanken sind Stücke eines bewußten, korrekter gesagt: vorbewußten Denkens; sie hätten auch im Wachleben gedacht werden können, haben sich auch wahrscheinlich tagsüber gebildet. Dieser eine verleugnete Gedanke aber, oder richtiger diese eine Regung, ist ein Kind der Nacht; sie gehört dem Unbewußten des Träumers an, wird darum von ihm verleugnet und verworfen.“[16]

Demnach ist die große Menge der latenten Gedanken bewußt oder vorbewußt und es gibt in der Traumdarstellung selbst keinen Unterschied zwischen den vorbewußt-latenten Gedanken und der unbewußt-latenten Regung. Freuds sprachliche Selbstkorrektur von ‚Gedanke’ in ‚Regung’ zeigt an, daß es problematisch ist, diese beiden Bestandteile unter dem Begriff ‚latente Gedanken’ zu summieren. In dieser Formulierung war ihm sicherlich die begriffliche und sachliche Differenz zum ‚manifesten Inhalt’ wichtiger, wobei jedoch auf den ersten Blick leicht zu übersehen ist, daß der Hauptanteil des latenten Inhalts aus bewußtem und vorbewußtem Material bestritten wird.

Neben der Verschiebung von der affektiven Haupt- zur Nebensache in der Darstellung bleibt als einziger Hinweis auf den verdrängten Anteil die Stärke des Widerstands. Die bewußten oder vorbewußten Anteile lassen sich ebenso indirekt durch die Akzeptanz der Deutung durch den Träumer bestimmen.

2.2. Missing link: die sozialisierte Phantasie

Während Freud 1900 in seiner Traumdeutung die Gesetzmäßigkeiten des nächtlichen Traums erforschte, lieferte sein Schüler Hanns Sachs 1924 eine Theorie der Genese des Kunstwerks aus dem gemeinsamen Tagtraum.[17] Er betrachtete den gemeinsamen Tagtraum als Zwischenstufe, als missing link zwischen Tagtraum und Kunstwerk.[18] Die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bildung sind ähnlich, was sie unterscheidet, ist ihre Beziehung zum Unbewußten, zur Zensur und ihre Ausrichtung auf ein Gegenüber.

Vorausgesetzt, man stellte sich eine Entwicklungsreihe vor, die ihre Gestalt aufgrund der fortschreitenden Elaboration der Phantasie annähme, würde sich die Abfolge: Traum - Tagtraum - gemeinsamer Tagtraum - Kunstwerk ergeben. Das Kunstwerk als Endprodukt dieser Reihe besitzt das Kennzeichen der Erschließbarkeit für eine große Zahl von Rezipienten. Der Tagtraum ist in dieser Folge das Produkt, dem man die größte Bewußtheit seitens des Autors zubilligt. Gleichzeitig ist es dasjenige, das für die anderen am schlechtesten rezipierbar ist. Begründet liegt dieser Umstand in der relativen Ungeformtheit des Tagtraums des einzelnen. Was dem Tagträumer Lust verschafft, gerät beim Rezipienten eher zur Unlust. Sachs sieht die Leistung, ein Kunstwerk zu schaffen, in der Differenz von individueller Wunscherfüllung zur Formung einer Wunschdarstellung, die für viele Gültigkeit besitzt: „Das Kunstwerk ist eine große soziale Leistung [...] der Tagtraum ist asozial.“[19] Der Übergang vom asozialen zum sozialen Phantasieren geschieht allerdings schon früher, nämlich in einem Akt gemeinsamen Phantasierens; im Schritt vom Tagtraum zum so genannten gemeinsamen Tagtraum.

Sachs hat für die Wahl des Tagtraums als Analogon für das Kunstwerk in Abgrenzung zum Nachttraum eine genrespezifische Erklärung parat: „der Traum [gemeint ist der Nachttraum, J.T.] dramatisiert, statt eines Privatromans schafft er ein Privattheater“[20]. Außerdem ist der „Traum für unsere Zwecke unbrauchbar, weil seine Abhängigkeit vom Schlaf veränderte seelische Voraussetzungen schafft und eine störende Scheidewand errichtet, die nirgends eine volle Gleichsetzung ermöglicht“[21].

Der Tagtraum ist das Produkt eines einzelnen, nicht zum allgemeinen Gebrauch bestimmt, er ist meist eine Wunscherfüllung erotischer oder ehrgeiziger Natur; die Wünsche sind hier also bereits ins Bewußtsein vorgedrungen. Für den gemeinsamen Tagtraum bedarf es eines Partners, mit dem gemeinsame, unbewußte Wünsche erfüllt werden. Die Entwicklung des gemeinsamen Tagtraums durch partnerschaftliches Phantasieren mindert das Schuldgefühl des einzelnen angesichts der verbotenen und bedrohlichen Wünsche. Es werden Szenarien entworfen, deren Verlauf und Ausgang von den Wünschen bestimmt werden, auf die sich die Partner einigen konnten. Diese Einigung erfolgt unbewußt, denn „die in der Mitarbeit eines Anderen zum Ausdruck kommende Zustimmung erlaubt die Herabsetzung der Verdrängungsschranke“[22]. Die Merkmale der Verdichtung und der Verwendung von Symbolen sind hier ebenso zu finden wie beim Nachttraum. Hervorzuheben am gemeinsamen Tagtraum ist die besondere Art der Koproduktion. In keinem Fall ist der Partner etwa das Zielobjekt der Wünsche. Ziel ist vielmehr die gemeinschaftliche Verstärkung des Lustprinzips, um die Herrschaft des Realitätsprinzips zu lockern. Der gemeinsame Tagtraum ist eine dyadisches Produkt. Das phantasierende Paar wird aber nicht aus der Notwendigkeit einer Rollenverteilung (der von Erzähler/Produzent - Zuhörer/Rezipient) gebildet, sondern der Hauptgrund dieser Koalition ist die Ent-Schuldung beider. Das Paar befindet sich hier in funktioneller Personalunion - als Produzent und Rezipient. So basiert der gemeinsame Tagtraum auf Koproduktion und Korezeption.

[...]


[1] Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt/M. 1991, S. 272

[2] Wobei dieses Beispiel aus dem Rahmen fällt: da es sich um das Zeugnis eines klinisch Kranken handelt, gehört es einer sehr spezifischen Literatur an.

[3] Michael Rutschky: Lektüre der Seele. Eine historische Studie über die Psychoanalyse der Literatur. Frankfurt/M. 1981, S. 108

[4] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1995, S. 19

[5] Sigmund Freud: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. In: Ders.: „Selbstdarstellung“. Frankfurt/M. 1999, S. 223-233, hier S. 228f.

[6] Vgl. dazu Alfred Lorenzer: Der Gegenstand psychoanalytischer Textinterpretation. In: Sebastian Goeppert (Hg.): Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Freiburg 1978, S. 71-81

[7] Achim Würker: Das Verhängnis der Wünsche. Unbewußte Lebensentwürfe in Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Mit Überlegungen zu einer Erneuerung der psychoanalytischen Literaturinterpretation. Würzburg 1997, S. 186ff.

[8] Ob diese Vor-Arbeit tatsächlich detailliert in einen interpretierenden Text einfließen soll, ist eine weitere Frage und hängt nicht zuletzt von den Adressaten ab.

[9] Alfred Lorenzer: Der Gegenstand psychoanalytischer Textinterpretation, S. 72

[10] Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 316

[11] Ebd., S. 284

[12] Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 285

[13] Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 506

[14] Zu berücksichtigen bleibt, daß sich der ganze Vorgang idealerweise zwischen zwei Personen abspielt: Der Traum wird einem Gegenüber erzählt, der ihn deutet.

[15] Was nicht ausschließt, daß zumeist in ‚typischen Träumen’ typische Symbole benutzt werden.

[16] Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1991, S. 21f.

[17] Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume. Leipzig u. a. 1924

[18] Sicherlich wäre hier auch ein Seitenblick auf Ernst Blochs Gedanken zum Tagtraum in Das Prinzip Hoffnung interessant, aber der begrenzte Umfang dieser Arbeit läßt dies nicht zu.

[19] Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume, S. 6

[20] Ebd.

[21] Ebd., S. 7

[22] Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume, S. 25

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Psychoanalyse und Kulturanalyse
Untertitel
Vom Nutzen eines Methodentransfers am Beispiel der tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation und deren Anwendung auf Kafkas "Vor dem Gesetz"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
76
Katalognummer
V85618
ISBN (eBook)
9783638892018
ISBN (Buch)
9783638892056
Dateigröße
675 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychoanalyse, Kulturanalyse
Arbeit zitieren
Jana Thiele (Autor:in), 2002, Psychoanalyse und Kulturanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85618

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