Ist politische Steuerung der Gesellschaft möglich?


Dossier / Travail, 2007

21 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft

3. Externe Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Funktionssysteme

4. Zum Begriff der Steuerung
4.1. Systemtheoretische Perspektive
4.2. Handlungstheoretische Perspektive

5. Voraussetzungen wirksamer politischer Steuerung

6. Systemtheoretische Steuerungsmodelle

7. Schlussbetrachtung

8. Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ist politische "Steuerung" der Gesellschaft möglich? Wird Gesellschaft angemessen begriffen, wenn man sie als System begreift?

Eine der Hauptthesen der Systemtheorie von Niklas Luhmann lautet, dass die modernen Gesellschaften sich im Laufe der sozialen Evolution zu hoch komplexen, funktionalen Systemen ausdifferenziert haben. Die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems in einzelne Subsysteme wie z. B. Wirtschafts-, Rechts-, Bildungs-, Gesundheits- oder Politisches System gilt als eines der Hauptmerkmale moderner Gesellschaften. Sie füllen in der Gesellschaft spezielle Funktionen aus und operieren durch bestimmte, ihrer internen Beschaffenheit zugrunde liegenden Codes und Semantiken. Luhmann erkennt eine gleichzeitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit zwischen den Funktionssystemen. Da jedes Teilsystem etwas Unentbehrliches beisteuert und auch von keinem anderen darin ersetzt werden kann, sind alle gleichermaßen wichtig, wodurch zwischen ihnen keine Rangdifferenzen bestehen. Das Teilsystem Politik besitzt demnach bei Luhmann keine besondere Steuerungswirkung mehr, da ja auch die anderen sozialen Teilsysteme der Gesellschaft die Umwelt der Gesellschaft beeinflussen. Luhmann ist insofern Steuerungspessimist. Man hat ihm daher – wie Fritz Scharpf in einer Rede schreibt – oft die Meinung zugeschrieben, „die politische Steuerung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme im Sinne der zielgenauen gesellschaftlichen Durchsetzung politisch formulierter Programme sei grundsätzlich unmöglich“ (Mayntz/Scharpf, MPIfG Working Paper 05/1, Januar 2005).

Doch es stellt sich die Frage, ob das denn eine theoretisch zwingende und empirisch nachvollziehbare Folgerung darstellt?

Geht man von der Existenz handlungsfähiger individueller, kollektiver und korporativer Akteure innerhalb der einzelnen Funktionssysteme aus, so kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass „eine im Sinne ihrer Ziele erfolgreiche Einwirkung der Politik auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zwar schwierig, aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen und unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich erscheint“ (Mayntz/Scharpf, MPIfG Working Paper 05/1, Januar 2005). Die vorliegende Arbeit soll deshalb diesen Bedingungen gelten, von denen der Erfolg ernsthafter politischer Steuerungsversuche beeinflusst wird. Zunächst folgt eine kurze Darstellung der sozialwissenschaftlichen Theorie selbsreferentieller Systeme, um der Argumentation einen angemessenen Hintergrund zu verleihen. Im Anschluss daran soll die Bedeutung des Steuerungsbegriffs sowohl aus systemtheoretischer als auch aus handlungstheoretischer

Perspektive beleuchtet werden. Ausgehend von Luhmanns Systemtheorie und mit Hilfe verwandter Theorieansätze von Renate Mayntz, Fritz Scharpf, Uwe Schimank und Helmut Willke habe ich anschließend Voraussetzungen für erfolgreiche politische Steuerung formuliert. Der letzte Abschnitt setzt sich schließlich mit der Frage auseinander, wie aus systemtheoretischer Perspektive staatliche Steuerung aussehen könnte. Es soll dabei deutlich werden, welche alternativen Vorstellungen von einer systemtheoretischen Steuerungstheorie vorgeschlagen werden, um gesellschaftliche Prozesse zu regulieren. Hierzu sollen u.a. Begriffe wie dezentrale Kontextsteuerung und reflexive Selbststeuerung eine große Bedeutung haben.

2 Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft

Der Aspekt der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft spielt bei der Suche nach den Voraussetzungen erfolgreicher politischer Steuerung eine zentrale Rolle. In dieser Hinsicht gilt die von Niklas Luhmann (1927 - 1998) entwickelte Systemtheorie als wegweisend. Um die systemtheoretische Betrachtungsweise der Gesellschaft nachvollziehen zu können, erscheint es deshalb notwendig, sich vorab mit Luhmanns Sichtweise auf moderne Gesellschaften vertraut zu machen.

Den Ausgangspunkt der Luhmannschen Systemtheorie stellt die im Laufe der sozialen Evolution vollzogene Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften zu hoch komplexen, funktionalen Systemen wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dar. Eines der wesentlichsten Merkmale dieser Teilsysteme ist ihre Autonomie, von Luhmann als Autopoiesis bezeichnet. Sie begründet das Phänomen der operationalen Geschlossenheit, wonach jedes funktionale Teilsystem über eine eigene Semantik (Leitdifferenz), einen „binären“ Code verfügt, mit dem gesellschaftliche Ereignisse selektiert und interpretiert werden. Dieser Vorgang wird bei Luhmann als Kommunikation bezeichnet. Für Luhmann sind nicht Akteure, Individuen oder Handlungen das kleinste Element eines Teilsystems, sondern Kommunikationen. Beispiele für diverse binäre Codes wären im Wissenschaftssystem die Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnissen, im Rechtsystem die Differenz von Recht und Unrecht und in der Politik die Auseinandersetzung um Macht (Regierung) oder Ohnmacht (Opposition).
Neben ihrer binären Codierung ist die relative Geschlossenheit autopoietischer Systeme ein weiterer Aspekt der funktionalen Differenzierung. Da Kommunikationen nur über die jeweilige Leitdifferenz eines Teilsystems vollzogen werden, ist das Teilsystem rekursiv, d.h. die Ergebnisse, die aus diesen Interaktionen entstehen, dienen ausschließlich dem eigenen Erhalt. Typische Kennzeichen autopoietischer Systeme sind Selbstreferentialität und Selbstreproduktion. Diese Selbstreferenz funktionaler Teilsysteme führt auch dazu, dass jedes gesellschaftliche Teilsystem seiner Außenwelt gegenüber eine „Schwelle der legitimen Indifferenz“ entwickelt (Rosewitz/Schimank 1988: 300), und sie dadurch in einem Verhältnis „wechselseitiger Intransparenz“ zueinander stehen (Rosewitz/Schimank 1988: 301). Als Folge dieser Differenzierung der modernen Gesellschaft in funktionale Teilsysteme, die jeweils als selbstreferentiell geschlossenes System operieren, werden diese autonom bzw. immun gegenüber funktionssystemfremden Einflussfaktoren, d.h. die Systeme 'verselbständigen' sich (vgl. Rosewitz/Schimank 1988: 299; Mayntz u.a. 1988) bzw. werden unsteuerbar. Im folgenden Kapitel soll dieser Sachverhalt etwas genauer beschrieben werden.

3 Externe Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Funktionssysteme 4

Geht man von der Tatsache aus, dass die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft aufgrund ihrer binären Codierung jeweils spezifische Funktionen gesellschaftlicher Reproduktion erfüllen, lassen sich mit Hilfe des Modells der Autopoiesis bzw. der operationalen Geschlossenheit funktionaler Teilsysteme drei Folgerungen ableiten; erstens: teilsystemspezifische Kommunikationen kommen nur in den jeweiligen funktionalen Teilsystemen vor und sonst nirgendwo in der Gesellschaft (wodurch die übergreifende substantielle Identität der Gesellschaft aufgehoben wird (Rosewitz/Schimank 1988:299)); zweitens: diese Kommunikationen können immer nur an andere Kommunikationen des gleichen Typs anschließen, die permanent neu hervorgebracht werden müssen, damit sich die Systeme reproduzieren können und drittens: die Dynamik der Funktionssysteme kann ihrerseits auch nur durch eigene Kommunikationen determiniert werden (Kleve 2001).

Das Modell der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft lässt nun seinerseits wiederum drei Schlussfolgerungen zu - erstens: Der selbstreferentiell geschlossene Operationsmodus funktional spezialisierter Teilsysteme macht diese autonom bzw. immun gegenüber systemexternen Einflussfaktoren, also u.a. auch gegen politische Steuerungsversuche von außen, oder anders ausgedrückt: die Teilsysteme 'verselbständigen' sich (Rosewitz/Schimank 1988: 301); zweitens: Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind jeweils aufeinander angewiesen, weil die Funktionsfähigkeit eines Teilsystems von der Funktionsfähigkeit seiner gesellschaftlichen Umwelt und damit der relevanten anderen Teilsysteme abhängig ist. Kein Funktionssystem kann die Funktionen eines anderen wahrnehmen; drittens: Es gibt außerhalb der Funktionssysteme keine Möglichkeit der gesellschaftlichen Reflexion. Damit lässt sich in der modernen Gesellschaft kein Zentrum oder keine Spitze mehr erkennen, die über dem gesamten System stehen und es steuern könnte (Kleve 2001).

In diesem Sinne erscheint die moderne Gesellschaft als polyzentrische Gesellschaft (Rosewitz/Schimank 1988: 299), weil in jedem Funktionssystem die eigene Perspektive gewissermaßen als die zentrale gesellschaftliche Perspektive angesehen wird. Denn kein Funktionssystem kann beobachten, wie die anderen Funktionssysteme die Gesellschaft interpretieren; es bleibt auf seine eigenen Beobachtungen angewiesen (Kleve 2001). So erscheinen gesellschaftliche Zustände in jedem Funktionssystem auf jeweils spezifische Weise. Rosewitz und Schimank sprechen in dieser Hinsicht von einem Relativismus teilsystemspezifischer Gesellschaftsbeschreibungen:

3 Externe Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Funktionssysteme 5

„So kann die Gesellschaft aus der Perspektive des Wirtschaftssystems als „Kapitalismus“, aus der Perspektive des Rechtssystems als „Rechtsstaat“, aus der Perspektive des Wissenschaftssystems als „Wissenschaftsgesellschaft“ oder aus der Perspektive des politischen Systems als „Wohlfahrtsstaat“ betrachtet werden […] Innerhalb eines Teilsystems genießt seine Gesellschaftsbeschreibung eine unangefochtene Hegemonie, wofür sie sich dann außerhalb – da dies für alle Teilsysteme gilt – den Gesellschaftsbeschreibungen der jeweils anderen Teilsysteme unterwerfen muss“ (Rosewitz/Schimank 1988: 299).

Eine diese verschiedenen Gesellschaftsbeschreibungen übergreifende allgemeingültige Gesellschaftsbeschreibung auf einer den Funktionssystemen übergeordneten Ebene der Gesellschaft lässt sich somit systemtheoretisch gesehen nicht mehr erkennen (Kleve 2001).

Dieser Erkenntnis folgend kann behauptet werden, dass die Möglichkeit erfolgreicher politischer Steuerung der Gesellschaft schon deshalb problematisch ist, weil auch politische Akteure ihrerseits selbst einem gesellschaftlichen Teilsystem, dem politischen System, angehören, und weil auch dieses an sich als gesellschaftliches Teilsystem an seine Umwelt gebunden ist und nicht losgelöst von dieser operieren kann. Aber was ist systemtheoretisch gesehen Steuerung überhaupt? Welche Bedeutung hat sie in der Theorie funktionaler Differenzierung, die nur die Möglichkeit zulässt, Gesellschaft als ein Sozialsystem unter anderen zu begreifen?

[...]

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Ist politische Steuerung der Gesellschaft möglich?
Université
University of Hamburg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Cours
Theorien politischer Steuerung
Note
1,7
Auteur
Année
2007
Pages
21
N° de catalogue
V85646
ISBN (ebook)
9783638014281
ISBN (Livre)
9783638921084
Taille d'un fichier
525 KB
Langue
allemand
Mots clés
Steuerung, Gesellschaft, Theorien, Steuerung
Citation du texte
Josip Pejic (Auteur), 2007, Ist politische Steuerung der Gesellschaft möglich? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85646

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