Sergej Lukianenko: Jenseits von Gut und Böse


Seminar Paper, 2007

18 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Einige einführende Erklärungen
1.1 Wer sind die Anderen?
1.2 Der erste Eintritt ins Zwielicht
1.3 Wer sind die Guten und wie gut sind sie wirklich?
1.4 Wer sind die Bösen und wie böse sind sie?

2. Anton
2.1 Die erste Begegnung mit Anton Gorodezki
2.2 Antons existenzielle Krise in Die Wächter der Nacht

3. Einige Abschließende Überlegungen

Literaturangaben

Einleitung

[…]die Nachtwache und die Tagwache – das sind zwei Hälften eines Ganzen.“[1]

Beginnt man über Gut und Böse nachzudenken, ertappt man sich sehr schnell dabei, nach Gegensätzen zu suchen. Schaut man sich in Literatur oder Film um, springt dem Beobachter ein dualistisches Weltbild entgegen. Ein westliches Weltbild. Gen östlicher Weisheit blickend, stellt der Betrachter erstaunt fest, ein völlig anderes Verständnis von Gut und Böse zu finden. Die Gegensätze lösen sich auf und werden eins. Ying und Yang sind zwei Hälften in einem Kreis, die sich zu umarmen scheinen, schwarzweiß, deutlich unterscheidbar, aber eben dennoch von ein und demselben Kreis umfasst werden. Westlich-dualistisches Denken löst sich hier auf und Gegensätze werden zu zwei Polen desselben Prinzips.

Sergej Lukianenkos Wächter-Tetralogie bricht mit eben diesem dualistischen Weltbild und stellt Gut und Böse als ineinander verwoben dar. Er hebt die schmale Gradwanderung der Grenzen hervor und verdeutlicht, wie Licht und Dunkel letztendlich demselben Prinzip angehören. Im Folgenden werde ich verdeutlichen, wie das geschieht und welche Rolle Bildung, im Sinne von Entwicklung, spielt, um mit einem dualistisch geprägten Denken zu brechen.

Ich behaupte, nur eine Person die eine bestimmte geistig-moralische Entwicklungsstufe erreicht hat, ist in der Lage, diese conjunctio oppositorium[2] mehr als nur theoretisch zu fassen. Anton, den Protagonisten der Tetralogie, verstehe ich als eben diese Person, die über acht Jahre[3], denn um diese Zeitspanne handelt es sich vom ersten bis zum vierten Band, eine unglaubliche, nicht nur magische Entwicklung (vom fünften Grad bis zum Magier außerhalb jeder Kategorie), sondern auch moralisch-geistige Entwicklung durchmacht. Diese, ich nenne es Bewusstwerdung, erreicht er vor allem durch Situationen, in denen man sich auf keine kollektive Moralvorstellung mehr berufen kann, sondern nur für sich selbst, individuell Verantwortung übernehmen muss: indem man Entscheidungen trifft.

Die Stufe dieser Entwicklung könnte man daher als transkollektiv bezeichnen.

Aber vorerst möchte ich auf einige allgemeinere Thematiken eingehen, die sich aus den Erklärungen zu bestimmten Begriffen ergeben werden.

1. Einige einführende Erklärungen

1.1 Wer sind die Anderen?

In jedem Menschen findet sich »eine Neigung zur Zauberei«. […] Wenn die »Neigung« bei einem Menschen stärker ist als das Niveau der Magie in seiner Umwelt, dann wächst er zu einem ganz gewöhnlichen Menschen heran! Er wird nicht ins Zwielicht eintreten können […]. Wenn die »Neigung« in einem Menschen jedoch schwächer ist als in seiner Umwelt, wird er sich das Zwielicht zunutze machen können. […] Einmal angenommen, die Temperatur betrüge weltweit 36,5°C. Dann würden die meisten Menschen, deren Körpertemperatur ja höher ist, Wärme abgeben und damit »die Natur aufheizen«. Die wenigen jedoch, deren Körpertemperatur aus irgendeinem Grund unter 36,5° C liegen sollte, würde Wärme aufnehmen. Wenn nun der permanente Strom von Kraft auf sie stößt, können sie diese Kraft nutzen, während die wärmeren Menschen ziellos »die Natur aufheizen«.[4]

Hier hätten wir also eine beinahe wissenschaftliche Art der Erklärung für die Natur der Anderen. Indem sie die Energie um sich herum aktiv nutzen können, bietet sich ihnen die Möglichkeit ins Zwielicht einzutreten.

Das so genannte Zwielicht stellt dabei eine Art siebenschichtige Parallelwelt zu jener der Menschen dar. Ich meine hier Parallelen zu Lawrence Kohlbergs Theorie der stufenweisen Moralentwicklung ziehen zu können.[5] Kohlberg spricht von sechs bzw. sieben Stufen des Moralverständnisses, sowie der Andere sich durch die sieben Schichten des Zwielichts bewegen kann. Den „gewöhnlichen“ Anderen, also Magier eines mittleren Grades, verstehe ich als Person auf der fünften Stufe der Moralentwicklung.

Auf den Stufen 5 und 6 sind alle Forderungen des geschriebenen Rechts oder des moralischen (Natur-) Gesetzes in einem Konzept der Gerechtigkeit begründet, d.h. sie beruhen auf Übereinkommen, Vertrag und der Unvoreingenommenheit (Unparteilichkeit) des Gesetzes und seiner Funktion, die Rechte des Individuums zu bewahren.[6]

Tatsächlich sagt Kohlberg schon von der sechsten Stufe, diese sei mehr als moralisches Ziel zu verstehen, so universell sei hier das Verständnis von Gut und Böse, Schuld und Unschuld. Nur wenige Menschen erreichten diese Stufe.[7] Gleichwohl bedarf es eines immensen magischen Potenzials, um die sechste Schicht des Zwielichts zu erreichen. In die siebte Schicht gelangt nur Antons Tochter, Nadja, als Nullmagierin. Anton kann diese Schicht nur an der Hand seiner Tochter durchqueren. Bei Kohlberg lassen sich Überlegungen zu einer „hypothetical `soft` Stage 7[8] finden. Diese siebte Stufe der Moralentwicklung, wird gemäß Kohlberg als eine Stufe verstanden, die ein älterer, weiser Mensch erlangen kann „based on ethical and religious thinking.“ (ebd.). Hier wird das junge Mädchen nun zur Weisen.

1.2 Der erste Eintritt ins Zwielicht

Als nächstes ergibt sich nun die Frage, wie aus einem Anderen ein Lichter oder ein Dunkler wird. Dass die Grenze zwischen dieser Wahl eine sehr relative ist, wird von Anfang an betont[9] und soll von mir hervorgehoben werden, da es sich hier bereits um den ersten Teil meiner zu eingangs genannten These handelt. Zitieren möchte ich hier eine sehr anschauliche Geschichte, die Semjon, ein Wächter der Nacht, dem Protagonisten Anton erzählt:

Und lass uns, damit unser Beispiel möglichst anschaulich ist, zwei Brüder nehmen, zwei Andere. Der, der als Erster ins Zwielicht getreten ist, war in dem Moment vielleicht zum ersten Mal verliebt. Bei dem andern war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich den Magen mit unreifem Bambus verdorben, die Frau hatte ihn zurückgewiesen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte und vom Abschaben der Felle müde war. So ging es weiter. Der eine führt die anderen zum Mammut und ist zufrieden. Der andere verlangt ein Stück vom Rüssel und als Dreingabe noch die Häuptlingstochter. So teilten wir uns in Dunkle und Lichte, in Gute und Böse.[10]

Lukianenko betont also ganz klar, dass beide Seiten in uns schlummern und es einer absolut zufälligen Reihenfolge von Geschehnissen bedarf, um sich der einen oder anderen Seite zuzuwenden. Nicht umsonst hat er den zweiten Roman zum Großteil aus der Sicht der Dunklen geschrieben. In die Wächter des Tages[11] blickt der Leser aus der Sicht von Alissa Donnikowa, einer Dunklen, einer Hexe, auf die Ereignisse, wobei durchaus Sympathie für die junge Hexe entsteht. Alissa erinnert sich in diesem ersten Teil des Romans an ihre eigene Initiierung. „Damals schwankte ich lange, ich Idiotin. Mir gefiel die Bezeichnung Dunkle nicht.[12] Aber ihre Entscheidung fällt sie in dem Moment, als für sie ihre kindliche Welt zusammenbricht, indem die ältere Hexe ihr ganz schlicht die Wahrheit erzählt über ihre beste Freundin, die Alissas größtes Geheimnis verraten hat und über den schlechten Zustand der Ehe ihrer Eltern und den Charakter ihres geliebten Vaters.[13] Sie war zum Zeitpunkt ihres ersten Eintritts ins Zwielicht also maximal dem Dunklen zugeneigt und voller Hass.[14] Igor, ein Wächter der Nacht, der sich in Alissa verliebt, erklärt Alissas Wahl wie folgt:

Eine Frau, die zu unserem Pech die Dunklen zuerst entdeckt haben. Sie haben für ihre Initiierung jenen Moment gewählt, als in ihrer Seele das Dunkel das Licht überwog. Bei heranwachsenden Frauen ist das sehr leicht […]. Danach lief dann alles wie am Schnürchen. Das Zwielicht saugte ihre ganze Güte aus ihr heraus. Das Zwielicht hat sie zu dem gemacht, was sie dann war.[15]

Interessant ist, dass die Wahrheit, also grundsätzlich etwas Gutes, hier einen Menschen bzw. einen Anderen, zum Dunkel geführt hat. Das Thema Wahrheit und Lüge begleitet auch Anton kontinuierlich, wobei er erkennen muss, dass die Wahrheit zur falschen Zeit schlimmer als jede Lüge wirken kann.[16] Dieser innere Konflikt Antons wird sich durch die vier Romane hindurch ziehen und ist mit ausschlaggebend für seine, sagen wir, existenzielle Krise gegen Ende des ersten Romans:

[...]


[1] Lukianenko, Sergej, Die Wächter des Zwielichts, Wilhelm Heyne Verlag, München, 2006, S. 430.

[2] „Eines steht fest: jeder Versuch, Gut und Böse mit der Denkform der Polarität in Verbindung zu bringen, führt die Schatten des großen, des ungeheuerlichen Gedankens der conjunctio oppositorium herauf. […]das menschliche Bewusstsein sieht sich gefragt nach seiner Fähigkeit, dem Paradoxon sich zu öffnen. Denn es gilt, die Einung der Gegensätze nicht nur als unverbindliches Gedankenspiel zu versuchen, sondern sie - so sie Ereignis wird - zum Erlebnis werden zu lassen.“ Seifert, Friedrich, Psychologische Aspekte des Problems von Gut und Böse, S. 7- 28, in: Gut und Böse in der Psychotherapie, Hrsg.: Dr. med. Dr. phil. Bitter, Wilhelm, Stuttgarter Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger“, Stuttgart, 1959, S. 12.

[3] Lukianenko, Sergej, Die Wächter der Ewigkeit, Wilhelm Heyne Verlag, München, 2007, S. 347.

[4] Lukianenko, Sergej, Die Wächter des Zwielichts, a. a. O., S. 225/226.

[5] Vgl. Kohlberg, Lawrence, Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1994, S. 51ff.

[6] Ebd., S.30.

[7] „Die Entwicklung des vollkommenen prinzipienorientierten Denkens, also des Denkens auf Stufe 6, sind wahrscheinlich […] dieser Art, aber es gibt bislang keine Daten über die Entwicklung zu dieser höchsten Stufe moralischen Urteilens.“ Ebd., S. 109.

[8] Kohlberg, Lawrence, Levine, Charles, Hewer, Alexandra, Moral Stages: A Current Formulation and a Response to Critics, S. Karger, Buffalo u. a., 1983.

[9] Vgl. Lukianenko, Sergej, Die Wächter der Nacht, Wilhelm Heyne Verlag, München, 2005, S. 26 oder S. 102/103.

[10] Ebd. S. 433.

[11] Lukianenko, Sergej, Die Wächter des Tages, Wilhelm Heyne Verlag, München, 2006.

[12] Ebd. S. 147.

[13] Ebd. S. 148.

[14] In den Wächtern der Ewigkeit, a. a. O., erfahren wir dazu: „Man muss einen Anderen im richtigen Moment initiieren, also wenn er dem Licht maximal zugeneigt ist.“ S. 329. In Alissas Fall war es ebenso, bloß umgekehrt.

[15] Lukianenko, Sergej, Die Wächter des Tages, a. a. O., S. 453.

[16] Vgl. Lukianenko, Sergej, Die Wächter der Nacht, a. a. O., S. 255 oder S.30.

Excerpt out of 18 pages

Details

Title
Sergej Lukianenko: Jenseits von Gut und Böse
College
Free University of Berlin  (Peter-Szondi-Institut für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft)
Course
Schauerlandschaften: Vampire, Hexen und Dämonen in Osteuropa
Grade
1,0
Author
Year
2007
Pages
18
Catalog Number
V85673
ISBN (eBook)
9783638014557
File size
452 KB
Language
German
Keywords
Sergej, Lukianenko, Jenseits, Böse, Schauerlandschaften, Vampire, Hexen, Dämonen, Osteuropa, Wächter der Nacht, Wächter des Tages, Wächter des Zwielichts, Wächter der Ewigkeit, Gut und Böse, Moralentwicklung, Lawrence Kohlberg, Dualismus
Quote paper
Laura Gemsemer (Author), 2007, Sergej Lukianenko: Jenseits von Gut und Böse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85673

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