Die Wissenskluft-Hypothese


Term Paper, 2007

15 Pages, Grade: 1,3


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Gliederung

1. Einleitung

2. Die Ursprungshypothese

3. Weiterentwicklungen
3.1 Der „Decken“- oder „Ceiling“-Effekt
3.2 Die Differenzperspektive
3.3 Ursachen von Wissensklüften

4. Wissenskluftforschung und Neue Medien

5. Zusammenfassung und Kritik

6. Bibliographie

1. Einleitung

Jeden Tag neue Schlagzeilen, stundenweise hörbare Nachrichten, immer wieder neue Erkenntnisse und Wahrheiten, kommuniziert über mehrere Kanäle gleichzeitig. Die 24-Stunden-Informationsmöglichkeit ist das Verdienst der Massenmedien. Doch bedeutet mehr Information und ein besserer Informationszugang auch gleichzeitig mehr Wissen? Die Diffusionsforschung als Teil der Medienwirkungsforschung geht genau davon aus, nämlich dass Informiertheit in einem Sozialsystem gleichmäßig wächst, wenn auch der Informationsfluss steigt (vgl. Bonfadelli 2002: 579). Die Wissenskluft-Hypothese ist genau der entgegengesetzten Meinung:

„Nach ihr besteht ja gerade der Normalfall darin, dass auch bei einem voll ausgebildeten Mediensystem die Information sehr ungleichmäßig bzw. heterogen erfolgt.“ (Bonfadelli 2002: 579)

Sie wendet sich damit von der in den 1970er Jahren dominierenden, so genannten Klassischen Wirkungsforschung ab, „die sehr stark auf inhaltsspezifische, kurzfristige, individuumsbezogene und einstellungszentrierte Medienwirkungen fixiert war“ (Bonfadelli 2002: 578). Die Wissenskluftforschung manifestiert sich auf der Makroebene, d.h. sie berücksichtigt die Öffentlichkeit und untersucht längerfristige kognitive Effekte der Massenmedien (vgl. Bonfadelli 2002: 579).

Die vorliegende Arbeit stellt die ursprüngliche Wissensklufthypothese sowie deren Weiterentwicklungen vor. Aus Platzgründen werden nur die drei wichtigsten Weiterentwicklungen berücksichtigt. Besonders interessant, da aktualitätsbezogen, wirkt die Wissenskluftforschung in bezug auf die Neuen Medien: Inwieweit trägt das Internet zur „Digitalen Spaltung“ (Arnhold 2003: 9) der Gesellschaft bei? Dieser Frage soll anhand der aktuellen ARD/ZDF-Online-Studie nachgegangen werden.

2. Die Ursprungshypothese

1970 formulierten der Kommunikationswissenschaftler Philip J. Tichenor sowie die Soziologen George A. Donohue und Clarice N. Olien in der amerikanischen Fachzeitschrift „Public Opinion Quarterly“ folgende Hypothese:

„As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socio-economic status tend to acquire this information at a faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.” (Tichenor et al. 1970: 159 f.)

Die Aussage, dass Informationen aus Massenmedien von Bevölkerungsschichten mit höherem sozioökonomischen Status schneller aufgenommen und verarbeitet werden als von Bevölkerungsschichten mit niedrigerem sozioökonomischen Status, stellt die bis dato geläufige Vorstellung der Wirkung von Massenmedien in Frage. Denn man ging davon aus, „dass die durch die modernen Massenmedien in den westlichen Industriegesellschaften täglich verbreitete Information zur umfassenden Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger führe und darum funktional für die Gesellschaft sei“ (Bonfadelli 2002: 570). Die oben genannte Hypothese behauptet jedoch, dass Massenkommunikation dysfunktionale, d.h. nicht-integrierende Konsequenzen für eine Gesellschaft haben kann, da sich nicht alle Bevölkerungsschichten automatisch und gleichzeitig mehr Wissen aneignen, wenn mehr Information angeboten wird (vgl. Kunczik/ Zipfel 2005: 384.). Tichenor, Donohue und Olien beziehen ihre Hypothese der wachsenden Wissensklüfte vor allem auf politische und wissenschaftliche Themen, die über einen gewissen Zeitraum eine starke Publizität in den Medien, genauer in den Printmedien (s. unten: 5. Faktor) erfahren, weniger auf so genannte Softnews aus den Bereichen Sport, Hobby, Gesellschaft, Vermischtes etc. (vgl. Tichenor et al. 1970: 160). Sie betrachten diejenigen Bevölkerungsschichten als sozioökonomisch höherstehend, die ein hohes formales Bildungsniveau haben. Diese Segmente seien fähig, „das themenbezogene Informationsangebot der Medien schneller bzw. effektiver aufzunehmen“ (Bonfadelli 2002: 568) als die statusniedrigeren Segmente. Die Begründung hierfür sehen die drei Autoren in der Tatsache, dass bei Menschen, die viel lernen, auch das Interesse an verschiedenen Themen zunimmt und sie dadurch angetrieben werden, sich noch mehr Wissen anzueignen (vgl. Tichenor et al. 1970: 161), wodurch ein gewisser Übungseffekt im Lernen entsteht.

Die statusniedrigeren Segmente bleiben jedoch nicht komplett unwissend, sondern eignen sich in der selben Zeitspanne, in der der Informationsfluss zu einem bestimmten Thema ansteigt, vergleichsweise weniger Wissen an (vgl. Bonfadelli 2002: 569, Abb. 59).

Tichenor, Donohue und Olien (1970: 162) führen fünf Faktoren an, die zur Entstehung von Wissensklüften beitragen und mit dem Bildungsgrad zusammenhängen – sie prägen sich mit steigendem formalen Bildungsniveau stärker aus:

1. communication skills (Medienkompetenz): Personen mit höherer formaler Bildung haben bessere Lese- und Verständnisfertigkeiten, die zum Erwerb von politischem und wissenschaftlichem Wissen nötig sind.
2. stored information (Vorwissen): Durch Mediennutzung und Schulbildung vorinformierte Personen sind aufmerksamer Themen gegenüber, die in den Medien behandelt werden, und können diese leichter verstehen.
3. relevant social contact (Relevante soziale Kontakte): Ein höheres Bildungsniveau geht mit mehr sozialen Kontakten einher, durch die wiederum mehr Gelegenheit zu Diskussionen über komplexe Themen geboten ist.
4. selective exposure, acceptance, retention (Selektive Zuwendung, Akzeptanz und Behalten von Informationen): Höhere Bildungssegmente suchen freiwillig und aktiv nach Informationen und nutzen die Medien gezielter.
5. the nature of the mass media system (Mediensystem): Die meisten wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Themen werden durch die Printmedien verbreitet, die auf die Interessen von gebildeteren Personen abzielen und dementsprechend stärker von jenen genutzt werden.

Neben den genannten Faktoren, welche die Wissenskluft-Hypothese theoretisch begründen (vgl. Bonfadelli 2002: 576 f.), führen Tichenor, Donohue und Olien auch empirische Studien an, die die Ausgangshypothese bestätigen sollten. Sie beziehen sich auf ältere und neuere Untersuchungen der empirischen Medienwirkungsforschung (Diffusionsstudien, Trendanalysen, Zeitungsstreik-Studie, Feldexperiment) (vgl. Bonfadelli 1994: 65; Saxer 1987: 128) und führten selbst ein Rezeptionsexperiment durch. Sie befragten 600 Versuchspersonen zum Verständnis von Zeitungsartikeln, die sich medizinischen, biologischen und sozialwissenschaftlichen Themen widmen (vgl. Tichenor et al. 1970: 167 f.). Das Ergebnis dieser Querschnittsanalyse[1] fiel so aus, wie es die Wissensklufthypothese erwarten ließ: Höher gebildete Personen gaben den Inhalt der gelesenen Artikel korrekter wieder als weniger gebildete Personen, wenn es sich um Themen mit starker Publizität handelte.

In Folgeuntersuchungen zeigte sich jedoch beispielsweise bei lokalen Themen keine Wissenskluft, so dass die Forschergruppe nun auch unterschiedliche Parameter in Sozialsystemen berücksichtigte (Makrostrukturen), die mitverantwortlich für die Wissensverteilung sein können (vgl. Saxer 1987: 130), und ihre Ursprungshypothese folgendermaßen modifizieren musste (vgl. Kunczik/Zipfel 2005: 386):

- Sind Themen für eine Gemeinschaft von besonderer Wichtigkeit oder handelt es sich um konflikthafte Themen, entstehen Wissensklüfte eher selten.
- In kleinen, homogenen Gruppen ist eine Gleichverteilung von Wissen eher gewährleistet als in großen, heterogenen Gemeinschaften.
- Nimmt das öffentliche Interesse zu einem Thema ab, können sich Wissensklüfte wieder schließen.

Es handelt sich damit nicht um einen „dauerhaft anwachsenden, sondern nur einen zeitlich begrenzten Wissensvorsprung der Personen mit einem höheren formalen Bildungsniveau gegenüber den Personen mit einem niedrigeren formalen Bildungsniveau“ (Arnhold 2003: 90).

[...]


[1] Tichenor et al. äußern sich folgendermaßen zur Querschnittsanalyse, mit der es möglich sei, ihre Hypothese zu überprüfen: „At a given point of time, there should be a higher correlation between acquisition of knowledge and education for topics highly publicized in the media than for topics less highly publicized.” (Tichenor et al. 1970 : 163)

Excerpt out of 15 pages

Details

Title
Die Wissenskluft-Hypothese
College
LMU Munich  (Institut für Kommunikationswissenschaft)
Course
Proseminar: Theorien und Modelle der Massenkommunikation
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
15
Catalog Number
V85748
ISBN (eBook)
9783638008204
ISBN (Book)
9783638914116
File size
504 KB
Language
German
Keywords
Wissenskluft-Hypothese, Theorien, Modelle, Massenkommunikation, Digital Divide, Tichenor, Donohue, knowledge gap, Massenmedien, Medienwirkungsforschung
Quote paper
Evelyn Glose (Author), 2007, Die Wissenskluft-Hypothese, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85748

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Title: Die Wissenskluft-Hypothese



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