Die Perikopen vom Verlorenen

Eine historisch-kritische Exegese von Lukas 15, 1-32 und Lukas 19, 1-10


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2006

44 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Lukas 15, 1-32
2.1 Textkritik
2.1.1 Äußere Textkritik
2.1.2 Innere Textkritik
2.1.3 Ein weiteres Beispiel zur Textkritik
2.1.4 Die Übersetzung
2.2 Literarkritik
2.2.1 Einleitungsfragen
2.2.2 Kontext, Quellen und synoptischer Vergleich
2.2.3 Abgrenzung
2.2.4 Literarische Analyse
2.2.5 Gliederung
2.2.6 Wortfeldanalyse
2.3 Formkritik
2.3.1 Traditionsgeschichte
2.3.3 Rückfrage nach dem ursprünglichen Jesusgut, Funktion und Sitz im Leben
2.4 Redaktionskritik und Traditionskritik
2.4.1 Redaktion und Tradition von Lukas 15
2.4.2 Komposition und Intention des Lukas

3. Lukas 19, 1-10
3.1 Der Text
3.2 Literarkritik
3.2.1 Abgrenzung
3.2.3 Literarische Analyse
3.2.4 Einheitlichkeit
3.2.5 Gliederung:
3.2.6 Wortfeldanalyse
3.3 Tradition und Redaktion
3.4 Formkritik
3.4.1Gattungs- und Überlieferungsgeschichte, Sitz im Leben (und Redaktion)
3.5 Zur Besonderheit der Zachäusperikope

4. Abschließende Betrachtung

5. Literaturverzeichnis
5.1. Bibelausgaben und Übersetzungen
5.2 Hilfsmittel
5.3 Kommentare/Sekundärliteratur

1. Einleitung

Im Folgenden mache ich mir zur Aufgabe, die so bekannten Perikopen vom Verlorenen (Lk 15, Vom verlorenen Schaf, Von der Verlorenen Drachme, Vom verlorenen Sohn und Lk 19,1-10, Zachäus) historisch-kritisch zu untersuchen, also einmal anders zu beleuchten, als sie aus Grundschule und Kindergottesdienst bekannt sind.

In dieser Arbeit möchte ich die Zweiquellentheorie, die letztendlich auch nur Hypothese ist, zu Grunde legen. Sie besagt, dass das Markusevangelium sowohl Matthäus als auch Lukas als Quelle vorgelegen hat. Damit ist Markus das älteste Evangelium. Lukas und Matthäus haben zudem unabhängig voneinander die so genannte Logienquelle Q verwendet, die Markus unbekannt war. Außerdem haben Lukas und Matthäus so genanntes Sondergut benutzt, Überlieferungsstoff, der nur jeweils einem von ihnen vorgelegen hat.[1]

Ich werde so vorgehen, dass ich die wesentlichen Methodenschritte der neutestamentlichen historisch-kritischen Exegese, Textkritik, Literarkritik, Formkritik und Redaktionskritik zuerst für Lukas 15, im Anschluss bezogen auf Lk 19,1-10 nacheinander abhandeln werde. Überschneidungen werden sich dabei allerdings nicht vermeiden lassen. Abschließend soll eine zusammen schauende Schlussbetrachtung vorgenommen werden.

2. Lukas 15, 1-32

2.1 Textkritik

Am Anfang einer Exegese gilt es, die ursprüngliche Textgestalt oder die älteste erreichbare Textgestalt wiederherzustellen und eine Übersetzung des griechischen Textes vorzunehmen[2] .

Dies soll hier vorerst anhand des 15. Kapitels des Lukasevangeliums geschehen.

Weil die Perikopen Vom verlorenen Schaf (VV 15, 4-7), Von der verlorenen Drachme (VV 15,9-10) und Vom verlorenen Sohn (VV 15, 11-32) mir aufgrund der Einleitung (VV 15,1-3), die die Situation beschreibt, in der alle drei Gleichnisse „gesprochen“ werden, als zusammenhängend erscheinen[3] , werde ich sie hier nicht aufspalten, sondern zusammen mit ihrer Einleitung als Ganzes darstellen.

2.1.1 Äußere Textkritik

Bei meiner Überprüfung dieses Kapitels mit Hilfe des Textkritischen Apparates der 27. Auflage des Nestle-Aland[4] schien mir aufgrund der Kriterien der Äußeren Textkritik, die, um die ursprüngliche Form eines Textes wiederzugewinnen, nach Alter, Qualität und Quantität der eine Textgestalt überliefernden Handschriften fragt, zunächst der im Nestle-Aland abgedruckte Text übernommen werden zu können, weil dieser den Text der besten und ältesten Zeugen darstellt.[5]

Ein Blick in Kommentare und Sekundärliteratur weckte bei mir allerdings Zweifel an meinen Ergebnissen der äußeren Textkritik: So betrachten sowohl Wolfgang Wiefel[6] als auch François Bovon[7] das in V 16 bei Nestle-Aland stehende χορτασθη̃ναι (gesättigt sein) als sekundär, weil es eine Abschwächung des ursprünglichen γεμισαι την κοιλιαν αυτου (sich den Bauch füllen) darstelle. Bovon erklärt, dass die frühen Gelehrten diesen „vulgären“ Ausdruck als schockierend empfunden und ihn deshalb ersetzt hätten[8] . Deshalb möchte ich diese Stelle hier genauer untersuchen:

Der Ausdruck χορτασθη̃ναι wird bezeugt von P75א B D L f1.13 579.1241.2542 pc e f (syc ) sa.

γεμισαι την κοιλιαν αυτου ist die Variante der Handschriften A Θ Ψ M lat sy s.p.h bo.

Betrachten wir diese nach Alter, Qualität und Quantität:

Die erste Variante χορτασθη̃ναι überliefert

P75: das Bodmer-Papyrus, das die älteste erhaltene Lukashandschrift, nach Aland der Kategorie II zugehörig ist, also eine „Handschrift ganz besonderer Qualität“[9] darstellt,

א : der Codex Sinaiticus, der um 350 nach Christus entstanden ist und von Aland der Kategorie I zugeordnet ist,

B: der Codex Vaticanus, ebenfalls um 350 nach Christus, Kategorie I,

D: Bezea Cantabrigiensis, 5. Jahrhundert, Kategorie I,

L: 8. Jahrhundert, Kategorie II, eine Handschrift besonderer Qualität, die allerdings fremdbeeinflusst ist,

die Minuskelfamilien f1 aus dem 12. bis 14. Jh. und die Minuskelfamilie f13 aus dem 11. bis 15. Jahrhundert der Katergorie III, die für die Rekonstruktion des ursprünglichen Textes gebraucht werden, oft aber einen selbständigen Text enthalten und in erster Linie für die Textgeschichte wichtig sind

579 aus dem 13. Jh.. Kategorie II,

1241 aus dem 12. Jahrundert der Kategorie III, , 2542, Kategorie III aus dem 13. Jahrhundert und wenige griechische Textzeugen sowie die altlateinischen Schriften e und f aus dem 5. und 6. Jahrhundert und der Cureton-Syrer aus dem 5. Jahrhundert sowie der sahidische Text.

Die zweite Variante wird bezeugt von

A: Codex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert, davon Evv der Kategorie III zugehörig,

Θ: aus dem 9. Jahrhundert, Kategorie II,

Ψ: aus dem 8. und 9. Jahrhundert, Kategorie III,

M: Der Mehrheitstext, oft von geringerer Qualität, dazu gehört z.B. der byzantinische Text der Kategorie V.

lat: Ein Teil der Altlateiner und die Vulgata,

und der Sinai-Syrer aus dem 4. und 5. Jahrhundert, die Pesschitta, die Harclensis und die bohairische Übersetzung .[10]

Ergebnis: Da die erste Variante die älteren und besseren Zeugen aufweist, sehe ich vorerst keinen Grund anzunehmen, dass die zweite Variante die ursprüngliche ist. Dass der Mehrheitstext die zweite Variante enthält, die Quantität der Handschriften mit dieser Version also größer ist, ist kein Argument für die zweite Variante, weil die Qualität das entscheidende Kriterium ist.

2.1.2 Innere Textkritik

Nach den Kriterien der inneren Textkritik könnte χορτασθη̃ναι sekundär und eine Glättung der

Abschreiber sein, denen γεμισαι την κοιλιαν αυτου zu schwierig, zu lang oder zu anstößig war. Bovon führt an, dass die Gelehrten sich bei dieser Glättung von Lukas 16, 21 (επιθυμών (Strich) χορτασθη̃ναι) inspirieren ließen[11].

Weil er stärker ist, finde ich den Ausdruck γεμισαι την κοιλιαν αυτου im Grunde inhaltlich passender, denn schließlich ist es anstößig, dass der jüngere Sohn die Schweineschoten essen will, trotzdem scheinen mir die Argumente der Äußeren Textkritik hier weitaus gewichtiger und eindeutiger zu sein, so dass die Kriterien insgesamt damit für χορτασθη̃ναι als ursprüngliche Lesart sprechen. Ich werde in meiner Übersetzung die deutsche Version von γεμισαι την κοιλιαν αυτου in Klammern anführen.

2.1.3 Ein weiteres Beispiel zur Textkritik

Eine Erkenntnis der äußeren und inneren Textkritik erscheint mir außerdem interessant:

Die Verfasser der HandschriftenB D 33 u.a., die zur Kategorie I gehören und beide ersteren zu den ältesten Textzeugen, fügen in V 21 anders als die Handschriften P75 A L W Θ Ψ f1.13 M und einige Übersetzungen, die außer P75 nicht der ersten Kategorie angehören, den zweiten Teil aus V 19 ποιησον με ως ενα των μισθιων σου ein, so dass der jüngere Sohn in V 21 genau das sagt, was er sich in V 19 vorgenommen hatte. Inhaltlich scheint es aber wahrscheinlicher, das eben genannter Teil aus V 19 ursprünglich nicht zu den Worten des Sohnes gehörte, weil der Vater keinen Bezug auf diesen Satz nimmt und wahrscheinlich so schnell handelt, dass der Sohn gar nicht mehr dazu kommt, ihn zu sagen, so dass es sich um eine spätere Angleichung handeln und die Lesart der ältesten Lukashandschrift hier die ursprüngliche sein wird.[12]

2.1.4 Die Übersetzung

Nun möchte ich mit Hilfe der Interlinearübersetzung griechisch-deutsch und dem Vergleich ausgewählter Bibeln[13] das 15. Kapitel des Lukasevangeliums auf Deutsch darstellen. Meine Intention ist, den Text so wiederzugeben, dass er möglichst nah am griechischen Wortlaut bleibt, aber dennoch grammatikalisch dem heutigen Deutsch entspricht. Auffällige Unterschiede zwischen den Übersetzungen werde ich in Anmerkungen kommentieren.

15 1 Es näherten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und es murrten sowohl die Pharisäer als auch die Schriftgelehrten und sagten: Dieser nimmt Sünder an und isst mit ihnen.

3 Er sprach aber zu ihnen dieses Gleichnis und sagte: 4 Welcher Mensch[14] unter euch, der hundert Schafe hat und eins von ihnen verloren hat, lässt nicht die die neunundneunzig in der Einöde zurück und geht dem Verlorenen nach, bis er es findet? 5 Und wenn er es gefunden hat, legt er es auf seine Schultern und freut sich; 6 und wenn er nach Hause kommt, ruft er die Freunde und die Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der umkehrt[15], als über neunundneunzig Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen.

8 Oder welche Frau, die zehn Drachmen hat, zündet nicht, wenn sie eine davon verloren hat, eine Lampe an, kehrt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie sie findet? 9 Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, weil ich die Drachme gefunden habe, die ich verloren hatte! 10 So, sage ich euch, herrscht Freude bei den Engeln Gottes über einen umkehrenden Sünder!

11 Er aber sprach: Ein Mensch[16] hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zukommt. Er aber teilte ihnen die Habe zu. 13 Und als er nach nicht vielen Tagen alles zusammengebracht hatte, zog der jüngere Sohn fort in ein fernes Land und verschleuderte dort sein Vermögen, indem er zügellos lebte. 14 Aber als er alles aufgebraucht hatte, kam eine gewaltige Hungersnot in jenes Land und er begann, Mangel zu leiden. 15 Und er ging und hängte sich an einen Bürger jenes Landes, der ihn auf seine Felder schickte um Schweine zu hüten. 16 Und er begehrte, sich von/mit den Schoten, die die Schweine fraßen, zu sättigen (seinen Bauch zu füllen[17] ) und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot, ich aber komme hier vor Hunger um.

18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; 19 ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und empfand Erbarmen und lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sagte zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. 22 Aber der Vater sagte zu seinen Knechten: Schnell, bringt das beste Gewand heraus und zieht es ihm an, und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße, 23 und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns beim Essen fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Sein älterer Sohn war aber auf dem Feld und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Reigen, 26 und er rief einen der Knechte zu sich und fragte, was dieses sei. 27 Er aber sagte zu ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückerhalten hat. 28 Er aber wurde zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater kam aber hinaus und bat ihn. 29 Er antwortete aber, indem er zu seinem Vater sagte: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und ich habe nie ein Gebot von dir übertreten und mir hast du niemals ein Böckchen gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich sei, 30 als aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren aufgezehrt hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sagte zu ihm: Kind, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, ist dein, 32 aber man musste doch fröhlich sein und sich freuen, weil dieser dein Bruder tot war und wieder lebendig geworden, verloren war und gefunden worden ist.

2.2 Literarkritik

2.2.1 Einleitungsfragen

Nun sollen die zu untersuchenden Perikopen als Teil eines literarischen Werkes betrachtet werden. Darum werde ich zuerst das dritte Evangelium in den Blick nehmen (das zusammen mit der Apostelgeschichte das Doppelwerk des Lukas bildet), indem ich einleitend nach Verfasser, Entstehungsort und Entstehungszeit frage.

Zwar spricht er als einziger Evangelist von sich selbst als „ich“[18], dennoch kennen wir den Namen des Verfassers nicht, „Lukas“ ist eine spätere Hinzufügung, die aber auf Erinnerung basieren könnte.[19] Lukas besitzt eine hellenistische Bildung, zitiert griechische Dichter und verwendet Elemente der Rhetorik, er kennzeichnet sich durch gute Septuagintakenntnisse aus und übernimmt häufig die Sprache dieses griechischen Alten Testaments in sein Werk.[20]

Lukas gilt als Christ der dritten Generation und Heidenchrist[21], stammt aus dem Mittelmeerraum und ist wahrscheinlich Städter[22], so könnten ihm die Logienquelle Q und Markus in einem kirchlichen Zentrum zur Verfügung gestanden haben[23]. Klein hält es für wahrscheinlich, dass Lukas aus einer Stadt des östlichen Mittelmeerraumes, vielleicht aus Cäsarea, stammt, dort Jesusgeschichten erzählt und dann nach Makedonien gerufen wird, wo er die Jesusüberlieferung weiterverbreitet. Wahrscheinlich schreibt er hier seine Jesuserzählungen um 85 n.Chr. nieder.[24]

Lukas hat einen höheren literarischen und stilistischen Anspruch als die anderen Evangelien. Die hier zu behandelnden Perikopen stellen aufgrund ihres narrativen Charakters prägnante Beispiele für die Tatsache dar, dass Lukas sein Werk als „Erzählung“[25] konzipiert.[26]

2.2.2 Kontext, Quellen und synoptischer Vergleich

Das Lukasevangelium basiert auf dem Markusevangelium, der Logienquelle Q und dem lukanischen Sondergut.

LK 15 und 19, 1-10 gehören zum Reisebericht des Lukas (Lk 9,51-19,28). Dieser stellt nach Prolog, Vorgeschichte, der Vorbereitung des Wirkens Jesu (zusammen Lk 1,1-4,13) und dem ersten Hauptteil „Jesu Wirken in Galiläa“ (Lk 4,14-9,50), den zweiten Hauptteil des Lukasevangeliums dar, in dem Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem macht. Er basiert in erster Linie auf Sondergut und Q-Überlieferungen; Lukas verlässt hier also seinen Markusfaden, den er erst in 18,15 wieder aufnimmt.[27]

Ein Blick in die Synopse[28] zeigt, dass die Einleitung VV 15,1-3 ohne Parallele in den Evangelien ist.

Das sogenannte Gleichnis Vom verlorenen Schaf VV 15,4-7 hat eine Parallelstelle in Mt 18,12-14 und ist somit der Logienquelle zuzuordnen. Allerdings zeigen sich Unterschiede: Die lukanische Einleitung des Gleichnisses zeichnet eine Situation, in der Pharisäer und Schriftgelehrte Jesus dessen Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern vorwerfen, als letztere zu ihm kommen, um ihn zu hören. Jesus richtet daraufhin sein Gleichnis an die Pharisäer und Schriftgelehrten.

In Mt 18,10 fordert dagegen Jesus die Jünger auf (vgl. Mt 18,1) die „Kleinen“ nicht zu verachten. Auch das Gleichnis Mt 18,12-14 hat damit die Jünger als Adressaten, also andere Adressaten als das Gleichnis bei Lukas. Zuvor (18,6-9) warnt Jesus, diese „Kleinen“ nicht zum Abfall zu verführen. Gerade die nach den Maßstäben dieser Welt als „klein“ und „gering“ qualifizierten machen die Gefolgschaft Jesu aus und gehören in die Gemeinde, sie dürfen also nicht verloren gehen.[29] Das verlorene Schaf ist in Mt 18,12-14 eines dieser „Kleinen“, auf das die Jünger gut Acht geben sollen, damit es nicht verloren gehe (V 14). Diese Aussage steht bei Mt im Zentrum, während Lukas die Freude über den Sünder der umkehrt in den Mittelpunkt rückt ( V 7).

Gegenüber Lukas stellt Mt das Gleichnis kürzer dar, Lk Schilderung ist bildhafter und lebendiger: So ist die Freude des „Hirten“ nur bei Lukas dadurch illustriert, dass er das Schaf auf seine Schultern hebt. Dass der Mann nach Hause geht und Freunde und Nachbarn zusammenruft um sich mit ihnen über das Wiederfinden des Schafes zu freuen, steht nicht bei Mt.

Josef Ernst[30] erklärt sich die Unterschiede dadurch, dass es Mt um die Bemühung des Gemeindeleiters um die verlorenen Schafe gehe, während Lukas auf die „Freude Gottes über die Rettung der Verlorenen“[31] hinaus will.

Die Perikope Lk 15,8-10 Von der verlorenen Drachme steht nur bei Lk. Ob sie aber aus der Quelle des lukanischen Sonderguts stammt, erscheint fraglich. Schnider ist der Meinung, dass dieses Gleichnis auch aus Q stammt, weil hier ein palästinensisches Milieu beschrieben werde, das Lukas fremd sei.[32] Auch Hans Klein ist dieser Meinung und begründet das damit, dass Mt das Gleichnis von der Drachme zwar vorgefunden, es aber deshalb nicht übernommen habe, weil eine Drachme nicht in seine Konzeption passe, weil diese nicht in die Irre gehen könne. Dass das Drachmen-Gleichnis zum Sondergut gehört, hält er nicht für möglich, weil das Sondergut die Freude am Geld nicht teile.[33] Jeremias kann zeigen, dass das Gleichnis traditionell, d.h. keine eigenhändige lukanische Erfindung ist.[34] Bovon verweist auf u.a. Jeremias` stilanalytische Ergebnisse, legt aber dar, dass es ihm nicht ersichtlich sei, warum Mt dass Gleichnis hätte weglassen sollen, weil er es doch seiner Perspektive hätte anpassen können. Bovon fährt fort, dass entweder Lk eine andere Q-Quelle als Mt vorlag, das Gleichnis in Lukas´ Sondergut stand oder in beiden Quellen, da beide Quellen Doppelgleichnisse kennten oder dass Lk es selbst erfunden habe, letztendlich wüssten wir es nicht.[35]

Der Aussage, dass wir es letztlich nicht wissen können, schließe ich mich an, halte es aber besonders wegen des palästinensischen Mileus, das das Gleichnis zeigt und der Tatsache, dass das Sondergut die Freude am Geld nicht teilt, für nicht unwahrscheinlich, dass das Gleichnis von der Drachme in Q stand.

Lk 15,11-32 und die Zachäuserzählung Lk 19,1-10 haben keine Parallele und sind eindeutig zum Sondergut des Lk zu zählen.

Lk 15 steht an zentraler Stelle im Lukasevangelium.[36] Inhaltlich geht es im 15. Kapitel um die Liebe Gottes, die den Sünder immer wieder einholt[37], um die Sünderannahme Christi und Gottes sowie die Rechtfertigung der Sünderannahme[38] vor „Gerechten“[39] und die Werbung für die Gemeinschaft (Tischgemeinschaft) aller[40].

Im Zusammenhang steht das Kapitel 15 mit Jesu Auftrag, die Verlorenen zu retten. Die Gleichnisse vom Verlorenen sind deshalb in Verbindung mit Lk 5,27-32 zu sehen: Die Berufung des Levi und das Mahl mit den Zöllnern. Wie in der Einleitung zu Lk 15 empören sich auch hier die Pharisäer und Schriftgelehrten über die Mahlgemeinschaft Jesu mit Zöllnern und Sündern (V 5,30). Die Antwort Jesu in den Versen 31b-32 liest sich wie das Motto der hier zu behandelnden Perikopen: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten.“ Lk 5,27-32 hat die Parallelstellen Mt 9,9-13 und Mk 2,13-17. Lukas` Quelle ist also das Markusevangelium.

Sieht man Lk 15 aufgrund des Verses 15,2 vor allem im Lichte der Werbung für die Tischgemeinschaft aller[41], die hier von den Gerechten aber nicht akzeptiert wird, wird der Zusammenhang zum „Großen Gastmahl“ Lk 14, 15-24 aus Q deutlich (par Mt 22,1-10). Hier verweigern die oberen Kreise des Judentums (die Gerechten) die Teilnahme am gemeinsamen (endzeitlichen) Mahl, das schließlich mit den randständigen der Stadt, mit Armen und Behinderten und allen von der Straße, also allen Völkern gehalten wird.[42]

Ferner ist Lk 15 vor allem im Zusammenhang mit den Gleichnissen und Erzählungen des lukanischen Sondergutes zu betrachten: Die besondere Zuwendung Jesu und Gottes zu den randständigen und sozial-deklassierten und deren Vorteil gegenüber Gott und Jesus zeigt sich in den Gleichnissen der Kapitel Lk 14-18 besonders klar: LK 14 Vom großen Gastmahl wurde schon erläutert; in Lk 15 geht es z.B. um die Freude Gottes über umkehrende Sünder; Lk 16,1-9 zeigt den unehrlichen Verwalter, der durch sein kluges Handeln das Lob Gottes einheimst; die Perikope Lk 16,19-31 ist dazu zu zählen, in der der arme Lazarus in Abrahams Schoß getröstet wird, während der reiche Mann in der Hölle darbt und ihm nicht geholfen wird; Lk 18,1-8 stellt die Witwe dar, der von Gott erst recht geholfen wird, wenn ihr schon der ungerechte Richter hilft; Lk 18,9-14 ist der Abschnitt vom Pharisäer und Zöllner, in dem der sündige Zöllner nicht nur als gerechtfertigter nach Hause geht, sondern in dem, wie in Lk 15, 11-32, auch die Selbstgerechtigkeit des Pharisäers angeprangert wird. Diese „Verlorenen“ entbehren der gesellschaftlichen Anerkennung und nutzen die ihnen gebotene Chance.[43]

[...]


[1] Vgl. Conzelmann, Hans; Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, S. 73f..

[2] Ich richte mich bezüglich der Methodik, wo nicht anders erwähnt, nach den Handreichungen des neutestamentlichen Proseminars von Frau Lipphardt und im Falle der Textkritik auch nach Herrn Merkels.

[3] Siehe Literarkritik (2.).

[4] Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 271993.

[5] Vgl. Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, S. 210f. Zu Alter und Qualität der Handschriften vgl. Reader Lipphardt sowie Aland, Kurt u. Barbara, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982, S. 167f. Und Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 261979, S. 684ff.

[6] Vgl. Wiefel, Wolfgang, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 1988, S. 285.

[7] Bovon, François, Lukas in neuer Sicht. Gesammelte Aufsätze, Biblisch-theologische Studien; 8, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 146.

[8] Diese Erklärung ist ein Argument der inneren Textkritik, zuerst möchte ich nun aber den äußeren Überlieferungsstand ins Auge fassen.

[9] Aland, Kurt u. Barbara, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982, S. 167.

[10] Vgl. Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, S. 210f. Zu Alter und Qualität der Handschriften vgl. Reader Lipphardt sowie Aland, Kurt u. Barbara, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982, S. 167ff. Und Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 261979, S. 684ff. Und S. 7ff.

[11] Vgl. Bovon, Lukas in neuer Sicht, S. 146.

[12] Vgl. Bovon, Lukas in neuer Sicht, S. 146.

[13] Ich verwende hier: Das neue Testament. Interlinearübersetzung griechisch-deutsch, griechischer Text nach der Ausgabe von Nestle-Aland (26. Auflage), Stuttgart 41981; Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980; Stuttgarter Erklärungsbibel. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Einführungen und Erklärungen, Stuttgart 21992; Das Neue Testament. Revidierte Elberfelder Übersetzung, Wuppertal 1992; Münchener Neues Testament. Studienübersetzung, Düsseldorf 21989.

[14] Im Griechischen steht hier ανθρωπος (), nach dem Griechisch-deutschen Taschenwörterbuch zum Neuen Testament bedeutet dieses Wort 1. Mensch, 2. Ehemann, 3. unbetont: jemand, einer. Ich werde hier wie auch die Lutherbibel, die Elberfelder Übersetzung, das Münchener Neue Testament entgegen der Interlinearübersetzung, die mit „Mann“ übersetzt, mit „Mensch“ übersetzen. Die Einheitsübersetzung verwendet das unbetonte „einer“. Als Doppelgleichnis zum Gleichnis Die verlorenen Drachme betrachtet, dessen Protagonistin eine Frau ist, könnte an dieser Stelle aber auch „Mann „ als Gegenstück zu Frau gemeint sein.

[15] Im Nestle-Aland: μετανοουντι (Partizip). Nach dem Preuschen: μετανοέο: ich ändere meinen Sinn, ich bekehre mich, emfpinde Reue, tue Buße. Die Interlinear-Übersetzung setzt umdenken, Luther und Elberfelder Bibel Buße tun, die Einheitsbibel umkehren, das Münchener NT umkehren.

[16] Hier steht im Griechischen wieder ανθρωπος ()

[17] Die Interliearübersetzung, die sich nach dem Nestle-Aland Text richtet, übersetzt „begehrte, sich zu sättigen“, gemäß des χορτασθη̃ναι. So übersetzt auch das Münchner NT. Luther und Elberfelder Bibel übersetzen hingegen mit „begehrte, seinen Bauch zu füllen“. Sie berufen sich also auf die Handschriften der oben dargestellten zweiten Variante.

[18] So in Lk 1,3 und Apg 1,1. Vgl. Conzelmann, Hans; Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, S. 342.

[19] Vgl. Conzelmann, Lindemann, Arbeitsbuch., S. 342 und Roloff, Jürgen, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, S. 175.

[20] Vgl. Conzelmann; Lindemann, Arbeitsbuch, S. 343 und Klein, Lukasstudien, S. 32, letzterer vermerkt auf dieser S. In Fußnote 89, dass Lukas eine Tragödie des Euripides zitiere.

[21] Vgl. Roloff, Einführung, S. 177.

[22] Vgl. Klein, Lukasstudien, S. 19f.

[23] Vgl. Conzelmann; Lindemann, Arbeitsbuch, S. 344.

[24] Vgl. Klein, Lukasstudien, 19-26.

[25] Lukas selbst nennt seine Schrift in 1,1 einen Bericht oder Erzählung (δίήγησίς), den markinischen Ausdruck ευαγγελίον (Striche) „gute Botschaft“ verwendet er nicht. Vgl. Conzelmann, Hans; Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, S. 339 und Klein, Hans, Lukasstudien, Göttingen 2005, S. 21.

[26] Vgl. Conzelmann, Hans; Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, S. 338f.

[27] Vgl. a.a.O., S. 339.

[28] Ich verwende im Folgenden die Neue Zürcher Evangeliensynopse, hrsg. von Hans Weder, Zürich 2001.

[29] Vgl. Stuttgarter Erklärungsbibel, Anmerkungen zu Mt 11, 25-28 und 18, 10-14, S. 1199 und 1187.

[30] Vgl. Ernst, Josef, Lukas: ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1985, S. 122.

[31] Ernst, Josef, Lukas: ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1985, S. 122.

[32] Vgl. Schnider, Franz, Die verlorenen Söhne, Strukturanalytische und historisch-kritische Untersuchungen zu Lk 15, Göttingen 1977, S. 78.

[33] Klein, Hans, Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten, Studien zur Botschaft des lukanischen Sondergutes, Biblisch-theologische Studien 10, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 49.

[34] Vgl. Jeremias, Joachim, Die Sprache des Lukasevangeliums, Redaktion und Tradition im Nicht-Markusstoff des Lukasevangeliums, Göttingen 1980, S. 248.

[35] Vgl. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 3. Teilband Lk 15,1-19,27, EKK Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 18f.

[36] Vgl. a.a.O., S. 21.

[37] Vgl. Ernst, Josef, Lukas, S. 121.

[38] Vgl. Klein, Hans, Barmherzigkeit, S. 48.

[39] Siehe zu Werbung um Gerechte und Rechtfertigung vor Gerechten Rau, Eckhard, Jesu Auseinandersetzung mit Pharisäern über seine Zuwendung zu Sünderinnen und Sündern. Lk 15, 11-32 und Lk 18,10-14a als Worte des historischen Jesus, in: ZNW, Bd. 89, Berlin 1998.

[40] Vgl. Bovon, Evangelium, S. 15,19 und 21.

[41] Vgl. Bovon, Evangelium, S. 15.

[42] Vgl. Stuttgarter Erklärungsbibel, Anmerkungen zu Lk 14, 21-24, S. 1298. Schon in V. 14, 13 werden Gastgeber aufgefordert, Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde zum Gastmahl einzuladen, so wird diese Aufforderung in Lk 14,21f. in die Tat umgesetzt. Bei Matthäus finden sich diese Spezifizierung und Lk 14, 1-13 nicht, diese sind rein lukanisch.

[43] Vgl. Erlemann, Gleichnisauslegung: ein Lehr-und Arbeitsbuch, Tübingen 1999, S. 124.

Fin de l'extrait de 44 pages

Résumé des informations

Titre
Die Perikopen vom Verlorenen
Sous-titre
Eine historisch-kritische Exegese von Lukas 15, 1-32 und Lukas 19, 1-10
Université
University of Osnabrück  (Evangelische Theologie)
Note
1,0
Auteur
Année
2006
Pages
44
N° de catalogue
V85849
ISBN (ebook)
9783638018463
ISBN (Livre)
9783656057833
Taille d'un fichier
565 KB
Langue
allemand
Mots clés
Perikopen, Verlorenen
Citation du texte
Judith Overbecke (Auteur), 2006, Die Perikopen vom Verlorenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85849

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Titre: Die Perikopen vom Verlorenen



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