Alain Badiou und die Philosophie


Essai Scientifique, 2002

47 Pages


Extrait


Inhaltsangabe

Einleitung

Platonisches Schema

Badious Begriff der Wahrheit

Vernähungen in der Moderne

Aufgaben der zukünftigen Philosophie

Badious Philosophie

Bibliographie

Einleitung

Die Philosophie ist in der Krise. Zahlreich sind die Symptome, die auf diese Krise hinweisen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Frage nach dem „Wozu“, nach dem Sinn der Philosophie für die Gesellschaft, für die Welt. Denn die Krise der Philosophie befindet sich in ihrem Zentrum selbst. Die Geschichte der Philosophie kann auch als Geschichte einer fortlaufenden Selbstrücknahme verstanden werden. Mit der Kritik an der Metaphysik, die sich mit immer neuen Facetten wiederholt und die sich sicherlich auch gegen die oft überhöhten Ansprüche der Welt an die Philosophie richtet, wird die Philosophie in ihrem Selbstverständnis immer wieder angegriffen. Mag es gute Gründe für die Kritik an der Metaphysik geben - denn nicht nur in der modernen Philosophie ist jede Form von Transzendenz abzulehnen -, so besteht die Gefahr, daß die Philosophie mit der Metaphysik gleichgesetzt wird und jene mit dieser verschwindet. Denn aus einer ausschließlich kritischen Perspektive, d.h. ohne philosophischen Ort wird die Philosophie mit der Metaphysik ununterscheidbar, was dazu führt, daß mit der stetig sich erneuernden Kritik an der Metaphysik auch das nie endende Ende der Philosophie immer wieder eingeläutet wird.

Was bleibt dann noch von der Philosophie? Ist nur noch der skeptische bzw. der dekonstruktive Weg offen? Oder befinden wir uns schon im Stadium „Nach der Philosophie“ – um hier einen Buchtitel eines Philosophen aufzugreifen[1], also in einem Stadium in dem es nur noch „Philosophen“, aber keine Philosophie mehr gibt? Oder gibt es noch andere Wege die Philosophie zu denken, neue Konzeptionen von Philosophie, die aus den zeitgenössischen Sackgassen der Philosophie hinausführen und einen neuen Blick auf die Geschichte der Philosophie zulassen?

„Ich behaupte nicht nur, dass die Philosophie heutzutage möglich ist, sondern auch, daß diese Möglichkeit nicht im Durchgang durch ein Ende besteht. Es handelt sich ganz im Gegenteil darum zu wissen, was es heißt, einen Schritt weiter zu gehen. Einen einzigen Schritt. Einen Schritt in der modernen Konstellation, jener, die seit Descartes die drei Kernbegriffe, nämlich Sein, Wahrheit und Subjekt, an die Bedingungen der Philosophie knüpft.“ (MP, S.14)[2]

Daß die Philosophie nicht zu Ende sei, wie im 20. Jahrhundert immer wieder behauptet wurde; daß es trotz der Krise der Philosophie möglich sei, auf dem Weg der Philosophie einen Schritt weiterzugehen; und daß die Philosophie immer in Bezug zur Nicht-Philosophie, zum Außen der Philosophie stehe, das sind die zentralen Thesen von Alain Badious Manifest für die Philosophie. Badiou, dessen Werk in Deutschland bisher kaum bekannt ist[3], legt mit seinem Manifest für die Philosophie ein Buch vor, das sowohl eine Symptomatologie des zeitgenössischen philosophischen Denkens sein will und zugleich ein „Programm für die kommende Philosophie“[4] entwickelt. Im Mittelpunkt dieser Zusammenhänge steht das Verhältnis der Philosophie zu ihren „Bedingungen“, den anderen Formen des Denkens. Dies ist der fundamentale Ausgangspunkt von Badious Philosophie.

Nun handelt es sich bei dem Manifest nicht um die Darstellung seiner eigenen Philosophie. Diese hatte Badiou vor allem in seinem Hauptwerk L’etre et l’evenement[5] vorgelegt. Da hier das Manifest mit Badious programmatischen Äußerungen zur prekären Lage der gegenwärtigen Philosophie vorgestellt werden soll, kann die Philosophie von Badiou hier nur ansatzweise, soweit es für die Darstellung dieser Zusammenhänge notwendig ist, beschrieben werden. Auch wenn im Verlauf des Textes immer mehr Elemente und eine Vielzahl von Thesen seiner Philosophie angesprochen werden, so werden doch die grundlegenden Aspekte seines Denkens außer Acht gelassen. Dies sind seine, wie Badiou es selber nennt, ontologischen Entscheidungen[6] und seine Bezüge zur Mathematik, d.h. für ihn vor allem: Mengenlehre. Ausgangspunkt dieser Darstellung ist also nicht das Zentrum von Badious Philosophie, sondern seine Konzeption von Philosophie, so wie Badiou sie aus und für die Geschichte der Philosophie entwickelt.

Aber selbstverständlich kann die Symptomatologie der gegenwärtigen Philosophie nicht ohne eigene Philosophie auskommen. Um Geschichte der Philosophie zu machen, bedarf es immer einen Spannungsbogen zu der eigenen Philosophie. Weder kann es eine rein empirische philosophische Geschichtsschreibung, noch sollte es eine Geschichtsschreibung geben, bei der die Geschichte der Philosophie zur Illustration der eigenen Philosophie wird. Zwischen diesen beiden Polen die Spannung aufrecht zu halten, das ist die Kunst einer philosophischen Geschichtsschreibung, aber auch einer Symptomatologie der gegenwärtigen Philosophie. Wie nun Badiou in seinem Manifest dieses Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Philosophie und der Geschichte der Philosophie aufrecht hält, ohne die Konsistenz des Denkens zwischen den beiden Polen zu verlieren, wird sich im folgenden zeigen.[7]

Platonisches Schema

„Die Philosophie kann aber eben nicht anders als das Denken zu denken, das Denken als Denken des Denkens zu identifizieren.“
(KH, S.30)[8]

Auffallendes Merkmal von Badious Denken ist die immer wiederkehrende Rückwendung auf Platon. Badiou kritisiert den in der Moderne vorherrschenden Antiplatonismus; in den meisten seiner Schriften wird Platon als Ausgangspunkt für die unterschiedlichsten Themen herangezogen; er fordert einen modernen Platonismus, spricht von einem „Platonismus des Mannigfaltigen“ (MP, S.113) und bezieht sich auf den seiner Ansicht nach einzigen „unverhohlenen“ modernen Platonismus, nämlich auf den Mathematiker Albert Lautmann (MP, S.109). Nun handelt es sich bei Badious Rückwendung auf Platon nicht einfach um die Renaissance des Platonismus oder um eine Restitution der Ideenlehre, sondern um das, was Badiou „platonische Geste“ oder „platonische Initiative“ (MP, S.109) nennt. Die platonische Geste ist gleichbedeutend mit der philosophischen Geste und steht mit den Möglichkeitsbedingungen von Philosophie überhaupt in Zusammenhang.

Die Entstehung der Philosophie ist kontingent. Sie unterliegt bestimmten Bedingungen, durch die sie ermöglicht wird. Für Badiou liegt die Geburt der Philosophie wie allgemein angenommen in Griechenland, bestimmt aber Platon als den ersten Philosophen. Badiou greift in seiner Begründung für diese Bestimmung Heideggers Unterscheidung zwischen Denken und Philosophie auf. Dieser hatte die Philosophie seit Platon der Seinsvergessenheit bezichtigt und dagegen die Vorsokratiker als Denker des Seins bestimmt, die noch ein ursprüngliches Verhältnis zum Sein und das heißt zur Wahrheit hatten. Diesen Einschnitt in der Geschichte der Philosophie übernimmt Badiou, wendet ihn aber in eine ganz andere Richtung. Für Badiou ist die

Philosophie nicht in Griechenland entstanden, „weil es [das griechischen Denken] das Heilige in der mythischen Quelle der Dichtung bewahrte oder weil ihm die Verborgenheit von Präsenz als esoterische Rede über das Sein vertraut war“ (MP, 18). Sondern für Badiou – und hier wendet er sich gegen Heideggers Position - besteht der Ursprung der Philosophie in Griechenland gerade in der Abkehr von der Dichtung und deren Verbindung zum Mythos. Diese Abkehr wird von der Mathematik mitinitiiert. Die Entstehung der entmythisierenden Wissenschaft ist somit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung der Philosophie, aber nicht deren einzige Bedingung, wie Badiou in seiner Beschreibung der kontingenten Gründe Griechenlands für die Geburt der Philosophie zusammenfaßt:

„Die Besonderheit Griechenlands besteht vielmehr darin, die Erzählung von den Ursprüngen mit der laizisierten und abstrakten Rede unterbrochen, das Ansehen der Dichtung durch die Wissenschaft erschüttert, die Stadt als eine offene, umstrittene, unbesetzte Macht begriffen und die Gewitter der Leidenschaft auf den Schauplatz der Öffentlichkeit gebracht zu haben.“ (MP, S. 18)

Wenn Badiou in diesem Zitat die Gründe für die Entstehung der Philosophie in Griechenland anführt, so verweisen diese vier genannten Besonderheiten gleichzeitig auf das Schema der „Bedingungen“, das er anhand des Werkes von Platon für die Philosophie entwickelt. Für Badiou ist die Bedingtheit der Philosophie weder abstrakt noch diffus – im Sinne einer allgemeinen gesellschaftlichen Bedingtheit -, sondern sie ist sehr konkret und von daher bestimmbar: Dichtung, Wissenschaft, Politik und Liebe sind die vier Bedingungen der Philosophie und ermöglichen in ihrer Kompossibilität die Philosophie. Sie bilden das platonische bzw. philosophische Schema mit ihren vier Polen. Dieses Schema nimmt Badiou als Grundlage für die Philosophie, als Grundlage seiner Darstellung von Philosophie. Diese Übertragung der Bedingungen von Platon auf die ganze Philosophie begründet Badiou dadurch, daß sich Wissenschaft, Politik, Kunst und Liebe als Bedingungen der Philosophie in der Geschichte der Philosophie relativ konstant durchgehalten haben (MP, S.17)[9].

Von Bedingungen zu sprechen, heißt nun mehr als nur die Gründe für die Entstehung der Philosophie anzuführen: es handelt sich für Badiou nicht einfach um externe Bedingungen, sondern um interne, d.h. die Philosophie muß diese Bedingungen in ihrer Gesamtheit anerkennen und sie zu den Bezugspunkten ihres Denkens machen. Und darüber hinaus: Bei den vier Bedingungen der Philosophie handelt es sich um vier unabhängige Denkformen. So gibt es z.B. für Badiou einen Wesensunterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Zwar steht, wie wir gesehen haben, die Entstehung der Philosophie in enger Beziehung zur Entstehung der Wissenschaften, aber diese ist nur eine, wenn auch die wichtigste Bedingung für die Entstehung der Philosophie. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern sie hat die Aufgabe, das Mathem – Badiou spricht statt von Wissenschaft immer vom Mathem[10] - zu denken und zwar im Zusammenhang mit den drei anderen Bedingungen. Die Philosophie ist demnach eine Art Metadenken, ein Denken, das die anderen Formen des Denkens denkt. Und jeder dieser vier Denkformen ist ihre Wahrheit immanent. Es gibt für Badiou also nicht nur eine Wahrheit, sondern vier Wahrheiten. Liebe, Politik, Mathem und Kunst sind unabhängige und heterogene Wahrheitsprozesse, oder wie Badiou sie auch nennt: generische[11] Prozesse. Diese Denkformen sind also sowohl Bedingungen und Bezugspunkte der Philosophie als auch der durch ihre Konstellation gegebene Grund, auf dem sich die Philosophie konstituiert. Die Aufgabe der Philosophie besteht dann darin, diese vier Bedingungen oder generischen Prozesse in einem kompossiblen Denkraum zu versammeln und ihnen in ihrer Wahrheit und Heterogenität durch einen begrifflichen Rahmen Ausdruck zu verleihen. Und dadurch konstituiert die Philosophie sich ja auch selbst als Philosophie. Nur wenn die Philosophie diese Aufgabe erfüllt, dann handelt es sich wirklich um Philosophie. Fehlt einer dieser Bedingungen als Bezugspunkt, dann kann von Philosophie im strengen Sinne nicht mehr gesprochen werden: die Philosophie ist dann nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Bestimmung (MP, S.13).

Wenn in diesem Zusammenhang von Ausdruck gesprochen wird, dann soll darauf hingewiesen werden, daß es sich in dem Verhältnis der Philosophie zu den vier Polen des Denkens nicht um „Summationen oder Totalisierungen“ (MP, S.22) handelt, wie Badiou ausdrücklich betont, sondern sie können auch implizit vorhanden sein.

„Es ist selbst nicht immer notwendig, daß die Philosophie die Aussagen oder lokalen Gegebenheiten der generischen Prozesse erwähnt. Die philosophischen Begriffe rastern einen allgemeinen Raum, in dem das Denken zur Zeit, zu seiner Zeit kommt, insofern die Wahrheitsprozesse dort ihren Schutz ihrer Kompossibilität finden.“ (MP, S.23)

Diese Aufgabe, seine Zeit, das antike Denken in ihrer Kompossibilität zum Ausdruck zu bringen, hat Platon nach Badiou als erster erfüllt, deshalb ist er auch der erste Philosoph (MP, S.19) und „der Begründer der Philosophie“ (KH, S.7). Offensichtlich ist, daß Platon sich auf die vier Pole der Philosophie bezogen hat. So hatte ja Platon am Eingang der Akademie die Inschrift „Niemand soll hier eintreten, der nicht Geometrie studiert hat“ anbringen lassen[12]. So hatte Platon in seiner Politea die Dichtung aus dem Staat entfernen lassen, doch war es laut Badiou ein „schmerzliches Verabschieden“ (MP, S.19). So hat sich Platon mit der Liebe im Symposium und im Phaidon beschäftigt und ihr „in unübertrefflichen Texten die Verbindung zur Wahrheit“ (MP, S.19) gegeben. Und daß für Platon die Politik ein zentrales Anliegen und auch Motivationsgrund seiner Philosophie war, ist ja allgemein bekannt.

Anhand der Bedingung Politik kann hier kurz angedeutet werden, was „Denken der Bedingungen“ bei Badiou heißt und daß es eine Notwendigkeit des Denkens der Bedingungen für die Philosophie gibt. Dabei zeigt sich auch, wie sich die Interpretation eines philosophischen Textes wie Platons Politea verschieben kann.

„Der politische Entwurf schließlich wird als Textur des Denkens selbst verhandelt, denn am Ende des neunten Buches der Politea weist Platon ausdrücklich darauf hin, daß seine ideale Stadt weder ein Programm noch eine Wirklichkeit ist und die Frage, ob es sie gebe oder geben könnte, gleichgültig sei, daß es sich hier nicht einfach um Politik handelt, sondern um Politik als Bedingung des Denkens, um die innerphilosophische Ausformulierung der Gründe, weshalb es keine Philosophie gibt, ohne daß die Politik den realen Status eines möglichen Entwurfs hat.“ (MP, S.19)

Diese vier Bedingungen der Philosophie, der platonischen wie auch der Philosophie im Allgemeinen, lassen sich nun als die vier Pole der Philosophie schematisieren:

So tauchen die vier Wahrheitsprozesse also bei Platon als Bedingungen der Philosophie auf. Doch konstituieren diese Bedingungen ja auch die Philosophie von Platon: wie Badiou betont, gibt es immer Hauptbezugspunkte in der Konstellation der Bedingungen, die zur „Entfaltung der Kompossibilität der Bedingungen“ (MP, S.27) dienen. Für Platon sind diese Hauptbezugspunkte Mathematik und Politik. Und konkret heißt das in der Zusammenfassung von Badiou:

„So unternimmt es Platon im Kontext mit der politischen Krise der griechischen Städte und der geometrischen Neubearbeitung der Theorie der Größen durch Eudoxos[[13] ], aus der Mathematik und der Politik, aus der Theorie der Proportionen und der Stadt die axialen Referenten eines Denkraums zu machen, wobei das Wort ‚Dialektik’ die darin ausgeübte Tätigkeit bezeichnet. Inwiefern sind Mathematik und Politik ontologisch kompossibel? So stellt sich die platonische Frage, der der Operator der Idee einen Lösungsvektor liefern wird.“ (MP, S.27)

Die Philosophie Platons, wie jede Philosophie, entsteht also aus der Lösung einer gewissen Problemstellung, die aus der Konstellation der Bedingungen hervorgeht. Die Philosophie schafft Begriffe, mit denen Lösungen für diese Problemstellungen gefunden werden können. Da diese Begriffe immer im Verhältnis zu den Bedingungen stehen, bezeichnet Badiou diese Begriffe auch als Operatoren. Bei Platon ist es der Begriff der Idee, der als Operator in bezug zu den Bedingungen Mathematik und Politik steht. Wobei Badiou betont, daß sich Platon bei der Erschaffung des Begriffs der Idee an der Mathematik orientiert:

„Bei Platon zum Beispiel ist die Idee offensichtlich ein Operator, dessen darunterliegendes, ‚wahres’ Prinzip das Mathem ist, die Politik entwirft sich als Bedingung des Denkens unter der Gerichtsbarkeit der Idee (daher der Philosophenkönig und die bedeutende Rolle, die die Arithmetik und die Geometrie in der Erziehung dieses Königs oder Wächters spielt) [...]“ (MP, S.28)

Während so Platons Philosophie aus diesen Hauptbezugspunkten hervorgeht, werden die anderen Bezugspunkte mit der nun konstituierten Philosophie gedacht. Liebe und Kunst werden mit dem Begriff der Idee konfrontiert, die Philosophie entfaltet sich mit ihrem Operator im Denken der Bedingungen Liebe und Kunst. Während die Liebe mit der Idee kompatibel ist, wird ja bekannterweise die Dichtung in der Politea aus dem Staat ausgeschlossen. Eine ausführliche Interpretation von Platons Begründung dieses Ausschlusses legt Badiou in seinem Aufsatz Was ist ein Gedicht und wie denkt die Philosophie darüber? [14] vor. Nach Badiou schließt Platon die Dichtung nicht primär aus dem idealen Staat aus, weil die Dichtung „in doppelter Distanz zur Idee“ steht; also das bekannte Argument von der Dichtung als „zweite Nachahmung der ersten Nachahmung, die die Sinnenwelt ist“ (KH, S.28). Aus der Perspektive der Ideelehre kann man dieser Argumentation ja auch zustimmen, doch nach Badiou erklärt diese „vernunftorientierte Kritik an der Nachahmung“ (KH, S.28) nicht die Gewalt, die von der platonischen Geste des Ausschlusses des Gedichtes ausgeht.

Stattdessen geht es um den Widerstreit zwischen Dichtung und Philosophie. Zwar gesteht Platon nach Badiou der Dichtung zu, ein Denken zu sein und dadurch Zugang zur Wahrheit zu haben. Aber es handelt sich um ein unmittelbares Denken und ein unmittelbares Bild der Wahrheit mit einer illusionären Wirkung (KH, S.8), während das philosophische Denken durch ihre von der Mathematik vermittelte Diskursivität ein Denken ist, „das durchdringt“, ein verknüpfendes und deduzierendes Denken (MP, S.29)[15]. Dies impliziert zum einen, daß durch die Unmittelbarkeit Dichtung ein Denken ist, „das sich als Denken nicht ausmachen oder separat darstellen lässt“ (KH, S.30). Die Dichtung kann also nicht von der Philosophie gedacht werden, was ja ihre Aufgabe wäre. Sie widersetzt sich dem diskursiven Denken und lenkt von der langwierigen und schwerfälligen dialektischen Arbeit ab (KH, S.8): stattdessen ist sie Affirmation und Genuß (KH, S.29). Und zum anderen wird durch die Wahrheitswirkung der Dichtung eine unmittelbare Macht ausgeübt; eine Macht, die noch die Verbindung zum Mythos aufweist, deren sich die Sophisten bedienen und der jeder einzelne ausgesetzt ist[16]. Dadurch begründet sich auch die Gewalt der Geste Platons, mit der die Dichtung ausgeschlossen wird. Platon versucht diese Macht der Dichtung zu brechen, deshalb wird sie aus dem idealen Staat ausgeschlossen, denn nur dadurch kann sich die Philosophie konstituieren und die Verbindung mit der Politik eingehen, wie sie sich in der Polis herausgebildet hat[17].

„Die Philosophie kann nur in Gang kommen, kann sich der politischen Realität nur dann bemächtigen, wenn sie die Autorität des Mathems an die Stelle des Gedichts setzt.“ (KH, S.29)

Durch diese Gegenüberstellung von Mathem und Dichtung, von „transparentem Mathem und metaphorischer Obskurität des Gedichts“ (KH, S.31) begründete sich ja auch die Differenz Platons zu den Vorsokratikern und damit auch die Differenz zwischen der Philosophie und dem Denken, wie es bei den Vorsokratiker zu finden ist.

„Jene Dichtung, die in den Fragmenten von Parmenides und in den Sätzen von [Heraklit][18] noch allgegenwärtig ist, die jedoch die Funktion der Philosophie entwertet, denn das Denken nimmt sich hier noch das Recht heraus, unerklärbar zu sein, in einer von woanders stammenden Sprache als dem Denken, das sich als solches darstellt, machtvoll zu werden.“ (KH, S.31)

Und mit der Differenz von Philosophie und Denken schließt sich wieder der Kreis: im Durchgang durch die hier natürlich sehr verkürzte Darstellung der Philosophie Platons gelangt Badiou in seiner Begründung für den Ausschluß der Dichtung zu der zentralen Bedingungen von Platons Denken, aber auch der Philosophie überhaupt. Markiert die Differenz von Dichtung und Mathem die Differenz von Denken und Philosophie, so bietet die Loslösung von der Dichtung die Möglichkeit, die vier Pole der Philosophie zu denken: die Philosophie wird in diesem Moment das Denken der Bedingungen, d.h. das Denken des Denkens.

In Badious Einordnung der platonischen Philosophie zeigt sich, daß es bei einem Denken der Bedingungen nicht um das Wesen der Kunst, der Wissenschaft usw. geht, sondern um die konkrete Erscheinungsform und zwar in ihren historischen Kontext. Dies gilt auch für den Ausschluß der Dichtung bei Platon: als bedürfe der Gründungsakt der Philosophie dieser radikalen Geste. Daß die Kunst sich im Verlauf der Geschichte verändert und ganz andere Ausprägungen annimmt, das wird sich in den weiteren Ausführungen zu Badiou zeigen.

Um dieses Verhältnis der Philosophie zu den Denkformen der Wissenschaft, der Liebe, der Kunst und der Politik genauer bestimmen zu können, bedarf es der Analyse einiger Begriffe. Im Mittelpunkt des Verhältnisses der Philosophie und ihren Bedingungen steht der Begriff der Wahrheit, der im nächsten Abschnitt untersucht werden soll.

[...]


[1] Cavell, Stanley: Nach der Philosophie Essays Berlin 2001.

[2] Badiou, Alain: (Sg: MP) Manifeste pour la philosophie Paris 1989. Eine Auflistung der Siglen findet sich in der Bibliographie.

[3] Eine erste Erwähnung von Badiou im deutschsprachigen Raum findet sich in: Taureck, Bernhard: Französische Philosophie im 20. Jahrhundert Analysen, Texte, Kommentare Reinbeck bei Hamburg 1988, S. 126–128. Und die bisher erste ausführliche und auf deutsch erschienene kritische Auseinandersetzung findet sich in den Büchern von Slavoj Zizek. Zuerst in Zizek, Slavoj: Das Unbehagen im Subjekt Wien 1998 und dann etwas ausführlicher in Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts Frankfurt am Main 2001.

[4] Um an dieser Stelle an einen wenig beachteten Aufsatz von Benjamin zu erinnern. Benjamin, Walter: Über das Programm der kommenden Philosophie in: Gesammelte Schriften Band II Frankfurt am Main 1980, S. 157–171.

[5] Badiou, Alain: L'être et l'événement Paris 1988 und in Ansätzen schon in Badiou, Alain: Théorie du sujet Paris 1982.

[6] Um sie an dieser Stelle zumindest zu erwähnen: Badiou hatte einige in einem Aufsatz über Deleuze aufgezählt, um seine Unterschiede zu Deleuze zu markieren: „Der Autor dieser Zeilen hat eine andere ontologische Wahl vollzogen, zugunsten der Substraktion, der Leere und des Mathems. Für ihn spielen Zugehörigkeit und Inklusion eben die Rolle, die Deleuze Begriffen wie Falte und Welt zugedacht hat.“ Badiou, Alain: (Sg: DL) Deleuze, Leser von Leibniz Aus: Härle, Clemens-Carl (Hrsg.): Karten zu "Tausend Plateaus" Berlin 1993. S.153.

[7] Bei Bernhard Jensen möchte ich mich für Korrekturen und Hinweise und bei Ute Roskamm für das Zeichnen der Schemata bedanken.

[8] Badiou, Alain: (Sg: KH) Kleines Handbuch der In-Ästhetik Wien 2001.

[9] Nur einmal wird im Manifest die Frage gestellt, ob es auch mehr als vier Bedingungen der Philosophie geben könnte. Und zwar in bezug auf die Psychoanalyse. Für Badiou verschiebt sich also die Frage, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist, zu der Frage, ob sie eine eigenständige Bedingung der Philosophie ist. Ohne die Frage wirklich zu beantworten, ordnet Badiou die Psychoanalyse sogleich in die Bedingung der Liebe ein (MP, S.82f.).

[10] Zur Verwendung des Wortes Mathem bei Lacan vgl. Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan Bericht über ein Leben Geschichte eines Denksystems Köln 1996, S.531f. und zur Bestimmung des Mathems als das Lehrbare vgl. Lipowatz, Thanos: Die vier Diskurse Aus: Hombach, Dieter (Hrsg.): Zeta 2 Mit Lacan Berlin 1982, S.138f.

[11] Diesen Begriff der Generizität transformiert Badiou aus der Mathematik in die Philosophie. Später wird auf diesen Begriff noch zurückzukommen sein. Hier an dieser Stelle nur so viel: Für Badiou bestimmt sich dieser Begriff des Generischen durch das Denken des Ununterscheidbaren und gleichzeitig durch die Entstehung aus dem Ununterscheidbaren. Zizek weist auf die zwei Assoziationen hin, die der Neologismus „generisch“ nahe legt: „generell – das heißt ohne spezifische Eigenschaften – und die Wahrheit generierend.“ Zizek, Slavoj: Das Unbehagen im Subjekt Wien 1998, S.137.

[12] Vgl. Vernant, Jean-Pierre: Die Entstehung des griechischen Denkens Frankfurt am Main 1982, S.131.

[13] Zu Eudoxos von Knidos und der ersten Grundlagenkrise in der Mathematik vgl. Thiel, Christian: Philosophie und Mathematik Eine Einführung in die Wechselwirkung und in die Philosophie der Mathematik Darmstadt 1995, S.333.

[14] Badiou, Alain: Kleines Handbuch der In-Ästhetik Wien 2001, S. 27–41. Und schon vorher in etwas anderer Form: Badiou, Alain: Philosophie und Poesie: am Ort des Unnennbaren Aus: Dubost, Jean-Pierre (Hrsg.): Bildstörung Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung Leipzig 1994. S.39-54.

[15] Badiou weist auch darauf hin, daß es bei Platon wieder eine Annäherung an die Dichtung gibt. So unterwirft Platon an den Grenzen des diskursiven Denkens wiederum „die Sprache der Macht der dichterischen Rede“ (KH, S.31) und verwendet Bilder, Metaphern und Mythen zur Darstellung des nicht begrifflich Erfaßbaren. Doch handelt es sich im Gegensatz zu den Vorsokratikern um eine Verwendung der dichterischen Sprache im Durchgang durch das diskursive Denken und nur an den Stellen, wo dieses das Darzustellende nicht mehr durchdringen kann.

[16] Dies gilt auch für Platon selbst. Deshalb auch die Gewalt des platonischen Textes. „Eine Gewalt, der gegenüber Platon nicht verhehlt, dass sie sich auch gegen ihn, gegen den nicht zu unterdrückenden Einfluss des Gedichts auf seine Seele richtet. Eine vernunftorientierte Kritik an der Nachahmung rechtfertigt nicht voll und ganz, dass sämtliche Auswirkungen eines solchen Einflusses aus sich selbst herausgerissen werden müssen.“ (KH, S.28)

[17] Ganz ähnlich auch bei Vernant: daß sich die Wissenschaften und die Politik wechselseitig konstituieren, in dem sie sich vom Mythos lösen und dadurch das griechische Denken enstehen lassen, ist die zentrale These von Vernants Buch. Vgl. die Schlußfolgerung in: Vernant, Jean-Pierre: Die Entstehung des griechischen Denkens Frankfurt am Main 1982.

[18] Es handelt sich hier um einen „Druckfehler“ in der deutschen Übersetzung: statt Heraklit steht dort Herakles.

Fin de l'extrait de 47 pages

Résumé des informations

Titre
Alain Badiou und die Philosophie
Auteur
Année
2002
Pages
47
N° de catalogue
V85881
ISBN (ebook)
9783638020428
ISBN (Livre)
9783638922487
Taille d'un fichier
673 KB
Langue
allemand
Mots clés
Alain, Badiou, Philosophie
Citation du texte
Wilhelm Roskamm (Auteur), 2002, Alain Badiou und die Philosophie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85881

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