Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer?


Dossier / Travail, 2007

21 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Jungen im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit

3. Wer ist nun das benachteiligte Geschlecht?

4. Feminisierung der Erziehung und Bildung als Grund der Benachteiligung
der Jungen?
4.1 Gefahr und Chance von medientypischen Blähungen

5. Der Genderbegriff
5.1 Geschlecht als Kategorie
5.2 Geschlecht als Konstruktion in der „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“

6. Männliche Inszenierungen

6. Männliche Inszenierungen

7. Das Variablenmodell „balanciertes“ Junge- und Mannsein
7.1 Entwicklung des Variablenmodells
7.2 Funktion des Variablenmodells
7.3 Folgerungen des Modells für die Praxis

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Ausarbeitung soll deutlich werden, dass die Problematik der Benachteiligung von Jungen hinsichtlich der Bildung durch den medienwirksam inszenierten

PISA-Schock ans Tageslicht geholt wurde. Es „werden Benachteiligungen im Geschlechterverhältnis angesichts des ´Aufholens´ von Mädchen [...] auch für Jungen konstatiert, insbesondere vor dem Hintergrund der besseren schulischen Leistungen von Mädchen und der ´riskanten´ Verhaltensweisen von Jungen. Infrage gestellt werden geschlechtstypische Strukturen auch mit der Diskussion um die ´Feminisierung´ von Erziehung und Bildung“ (RABE-KLEBERG 2005, S. 135).

Die Schlagzeilen der Presse, die so genannten „medientypischen Blähungen“ (WINTER 2005, S. 78-81) sollen als notwendige Inszenierungen entlarvt werden, die eine Chance für die Weiterentwicklung der Praxis darstellen. Allerdings soll auch darauf verwiesen werden, dass diese Dramatisierung ebenso eine große Gefahr in sich birgt. Durch das Aufzeigen von Fakten und Tatsachen aus der PISA-Studie sowie aus weiteren Untersuchungen soll aufgezeigt werden, dass sowohl Jungen als auch Mädchen von den „Bewältigungsanforderungen qua Geschlecht“ (VOIGT- KEHLENBECK 2005, S. 110) betroffen und demzufolge beide Geschlechter benachteiligt sind.

Da sich das Thema der Ausarbeitung lediglich auf die Jungen bezieht, jedoch keine Begründungen, sondern nur Hypothesen vorliegen, warum Jungen beispielsweise in der

PISA-Studie „so schlecht abschneiden“, wird im Folgenden die Problematik dargestellt, die auf einen Jungen im „Zeitalter der Entdramatisierung der Gegensätze“ zukommt. Es soll anhand eines nah am Text entwickelten Koordinatensystems die „Inszenierungsnot der Jungen“ erläutert werden (vgl. VOIGT- KEHLENBECK 2005, S. 107f.). Daran anschließend wird das Variablenmodell von Reinhard Winter und Gunter Neubauer als ein möglicher Handlungsansatz vorgestellt, der die Relevanz der in der Ausarbeitung dargestellten Erkenntnisse für die pädagogische Praxis im Umgang mit Jungen berücksichtigt.

2. Jungen im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit

Lange Zeit herrschten Bilder von benachteiligten Mädchen bzw. Frauen in der Geschlechterdebatte vor, die sich jedoch seit einigen Jahren gewandelt haben. Auf den neuen Bildern sind statt den benachteiligten Mädchen die benachteiligten Jungen zu sehen. Die Jungen haben in den letzten Jahren immer mehr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bzw. der Medien gefunden. „Folgt man den populären Printmedien, so werden Jungen im Vergleich zu Mädchen pädagogisch und bildungspolitisch schon lange vernachlässigt und benachteiligt“ (SCHULTHEIS/ FUHR 2006, S. 12). So kam es bereits ab dem Jahr 2000 zu den folgenden Schlagzeilen und Titeln in bekannten deutschen Zeitschriften und Zeitungen: „Jungs – das schwache Geschlecht“ (STERN 24/2000), „Schlaue Mädchen, Dumme Jungen“ (SPIEGEL 21/2001), „Arme Jungs“ (FOCUS 32/2002), „Sorgenkinder der Gesellschaft“ (GEO SPEZIAL 3/2003), „Böse Buben, kranke Knaben“ (SPIEGEL-ONLINE 2002), „angeknackste Helden“ (SPIEGEL 21/2004), „Risikofaktor Mann“ (TAZ 2003) oder „Mädchen als Gewinnerinnen, Jungen als Verlierer der Moderne“ (ROSE/ SCHMAUCH 2005).

Die oben aufgeführten Artikel befassen sich mit den Benachteiligungen von Jungen im Vergleich zu Mädchen. Die Beiträge werfen die Frage auf, ob und inwiefern Jungen hinsichtlich ihrer Sozialisation, ihrer Entwicklung, ihrer Bildungs- und Lebenschancen benachteiligt sind (vgl. SCHULTHEIS/ FUHR 2006, S. 12). Allerdings wird sich dieser Frage in den meisten Fällen nicht sachlich und objektiv, sondern eher medientypisch reißerisch genähert (vgl. NEUTZLING 2005, S. 55-76).

Ausgelöst bzw. angeregt wurde die oben genannte öffentliche Diskussion um die Probleme und Defizite von Jungen einerseits durch die internationale Schulleistungsstudie PISA, andererseits durch Gesundheitsstatistiken sowie durch die Forschung zur jugendlichen Gewalt. Gerade aber die Ergebnisse der PISA-Studie gaben dem Thema einen enormen Schub, denn die Ergebnisse – schlechtes Abschneiden der Jungen – boten einen Aufhänger für die Presse. So weist der Abschlussbericht der internationalen Schulleistungsstudie darauf hin, dass Jungen mehr in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken sind: „Bislang galt die Besorgnis über geschlechtsspezifische Unterschiede überwiegend den schwächeren Leistungen von Mädchen. Da die Mädchen den Rückstand zunächst wettgemacht und die Jungen in vielen Bildungsbereichen sodann überflügelt haben, fällt die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Leistungsdefizite bei Jungen. Die politischen Entscheidungsträger sollten sich daher eingehend mit den geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden auseinandersetzen“(zit. n. SCHULTHEIS/ FUHR 2006, S. 13).

Erwähnenswert ist, dass diese Erkenntnisse – auch wenn im Kontext der PISA-Studie der Eindruck entstehen könnte – nicht neu sind. Die Thematisierung von Jungenproblemen lässt sich bis in die 70er Jahre zurückverfolgen. Bereits 1972 wies Jürgen Zinnecker in seiner Dissertation „Emanzipation der Frau und Schulausbildung“ auf die Privilegierung der Mädchen in der Schule hin (vgl. SCHULTHEIS/ FUHR 2006). 12 Jahre später, im Jahr 1984 schrieb Monika Barz folgendes: „Jungen müssen also – gemäß gesellschaftlicher Erwartungen – besser sein als Mädchen. Sie sind es aber nicht – und hier liegt das Problem! Mädchen sind den Jungen im schulischen Kontext überlegen. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Mädchen häufig die besseren und erfolgreicheren sind, während die Jungen eher diejenigen sind, die nicht so gut klar kommen.“ (zit. n. BEHNISCH 2007, S. 178).

Daraus wird ersichtlich, dass die PISA-Studie als Aufhänger dient(e), um die Benachteiligung von Jungen medienwirksam in Szene zu setzen.

3. Wer ist nun das benachteiligte Geschlecht?

Bisher wurde das öffentliche Bild der Jungen dargestellt und der Auslöser dieses Mediendiskurses aufgezeigt. Jetzt gilt es zu klären, wer das benachteiligte Geschlecht in der heutigen Gesellschaft ist. Sind es die Jungen, so wie es die Presse derzeit darstellt, oder sind es die Mädchen, wie es schon seit Jahrzehnten gesehen wird?

Im Folgenden werden Benachteiligungen von Jungen und Mädchen gegenübergestellt, um somit im Anschluss die Frage nach dem benachteiligten Geschlecht beantworten zu können. Jungen schneiden schlechter als Mädchen in der Schule ab, das heißt, dass Jungen seltener das Abitur machen (46% Jungen ), seltener ein Gymnasium besuchen, häufiger sitzen bleiben, im Schnitt schlechtere Noten haben und häufiger ohne Schulabschluss sind (von den 22-Jährigen Personen ohne Schulabschluss aus dem Jahr 2000 waren 57% männlich). Des Weiteren schneiden Jungen im Bereich der Lesekompetenz schlechter ab als Mädchen (42 Punkte unter den Mädchen in Deutschland bei der PISA-Studie 2003). Zudem besucht ein hoher Anteil der Jungen eine Sonderschule (60% der Schülerschaft ist männlich an Schulen für Lernbehinderung und 75% der Schülerschaft ist männlich an Schulen für Erziehungsschwierige) (vgl. PREUSS-LAUSITZ 2004, S. 18; SCHULTHEIS/ FUHR 2006, S. 13; MINISTERIUM FÜR SCHULE, JUGEND UND KINDER DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN 2005, S. 12-13 und S. 53). Den zuvor erwähnten Defiziten, die Jungen im schulischen Bereich aufweisen, lassen sich jedoch Benachteiligungen der Mädchen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich entgegensetzen. Die Mädchen erreichten in der PISA-Studie im Jahr 2003 in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung lediglich 499 Punkte, dagegen schnitten die Jungen in diesem Bereich mit 508 Punkten deutlich besser ab. Eine weitere Benachteiligung der Mädchen ist bei Betrachtung der Prozentzahlen bezüglich der von ihnen erhaltenen unterrichtlichen Zuwendung zu erkennen. Die Wortbeiträge der Mädchen finden im Unterricht weniger Beachtung, ferner erhalten die Mädchen lediglich 40% der unterrichtlichen Zuwendung. Trotz der besseren Schulabschlüsse von jungen Frauen haben junge Männer bessere Chancen einen Ausbildungsplatz bzw. Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. DAIGLER/ YUPANQUI-WERNER/ BECK/ DÖRR 2003, S. 9)

Betrachtet man den Bereich der Gesundheit, so ist folgende Benachteiligung von Jungen anzuführen: Jungen sind in frühen Jahren ihres Lebens stärker anfällig für Krankheiten und weisen eine höhere Sterberate auf als Mädchen (vor dem 20. Lebensjahr sterben 1/3 mehr Jungen). Diese Benachteiligung kehrt sich allerdings ab einem Alter von ca. 12 Jahren in einen Vorteil um. Ab der Pubertät haben dann Mädchen mit höheren psychischen, seelischen sowie körperlichen Belastungen zu kämpfen und Jungen sind das „gesündere“ Geschlecht (vgl. JESSE 2002, S. 298; MINISTERIUM FÜR SCHULE, JUGEND UND KINDER DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN 2005, S. 53; ROHRMANN 1994, S. 71-75; SCHNACK/NEUTZLING 2000, S. 119-146; SCHULTHEIS/ FUHR 2006, S. 13). Bei den Hilfen zur Erziehung werden Jungen häufiger betreut als Mädchen (58% der Klientel ist männlich), aber auch in diesem Feld der Benachteiligung verändert sich das Bild mit zunehmendem Alter der Geschlechtsinhaber. Mit zunehmendem Alter steigt die quantitative Bedeutung der Mädchen und jungen Frauen beispielsweise im Leistungssegment der Beratung an. Ab einem Alter von 12 Jahren nimmt die Bedeutung der Mädchen als Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung deutlich zu, bis mehr Mädchen als Jungen gezählt werden (vgl. FENDRICH/ POTHMANN 2006, S. 3-4). Des Weiteren sind Mädchen benachteiligter in der Aneignung öffentlicher Räume, denn „Mädchen sind [...] deutlich weniger in der Öffentlichkeit präsent und konzentrieren sich auf geschütztere Innenräume von Wohnungen und Institutionen. Dadurch seien sie in der Entwicklung von Fähigkeiten, die im Zusammenhang mit Raumaneignung stehen, benachteiligt.“ (BÜTOW/ NENTWIG-GESEMANN 2002, S. 197). Diese geschilderte sozialräumliche Einschränkung hindert die Mädchen schon im frühen Alter und vor allem im Jugendalter daran, den öffentlichen Raum als den ihren wahrzunehmen (vgl. KUHLMANN 2002, S. 243).

Aus dieser Auflistung von Benachteiligungen auf Seiten der Jungen sowie der Mädchen lässt sich ableiten, dass die Jungen nicht das benachteiligte Geschlecht und demzufolge nicht die Verlierer sind. „Die Gesamtgruppe der Jungen ist auch nicht stärker benachteiligt als die Mädchen. Vielmehr sind beide Geschlechter betroffen von den Bewältigungsanforderungen qua Geschlecht.“ (VOIGT-KEHLENBECK 2005, S. 110).

4. Feminisierung der Erziehung und Bildung als Grund der Benachteiligung der Jungen?

In der Literatur, die das Thema der Benachteiligung von Jungen behandelt, wird vielfach ein Grund für die Benachteiligung in der Schule genannt, nämlich die Feminisierung der Pädagogik. Diese These findet ihren Bezug in einer Studie von Heike Diefenbach und Michael Klein (2002). In dieser Studie wurde der Anteil von Lehrerinnen mit dem Schulerfolg von Jungen in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis der Studie lautet folgendermaßen: Je geringer der Anteil männlicher Grundschulpädagogen ist, desto schlechter schneiden Jungen in der Schule ab (vgl. MINISTERIUM FÜR SCHULE, JUGEND UND KINDER DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN 2005, S. 13). Weitere Aussagen der Soziologin Heike Diefenbach sind: „Je mehr Lehrerinnen an einer Grundschule arbeiten, desto weniger Jungen schaffen den Wechsel aufs Gymnasium oder an die Realschule. Die Bildungschancen sinken mit dem höheren Frauenanteil dramatisch. [...] Jungen werden durch die weiblichen Strukturen an den Schulen benachteiligt.“ (NEUTZLING 2005, S. 56). Allerdings lassen sich auch von Seiten der Fachliteratur Stimmen finden, die in Frage stellen, ob aus dieser Wechselbeziehung (viele Frauen à schlechtes schulisches Abschneiden der Jungen) auf einen ursächlichen Zusammenhang geschlossen werden kann (vgl. MINISTERIUM FÜR SCHULE, JUGEND UND KINDER DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN 2005, S. 13).

Auch Rainer Neutzling sieht in der Feminisierung der Erziehung und Bildung keinen Zusammenhang mit den Defiziten der Jungen in der Schule. Neutzling führt die IGLU-Studie von April 2003 an, um die These der Feminisierung der Pädagogik als Grund für die Benachteiligung der Jungen zu entkräften. Die IGLU-Studie untersucht die Lesekompetenz von Viertklässlern. Bei dieser Untersuchung kam heraus, dass die Grundschulen in Deutschland im internationalen Vergleich mithalten können. Dabei, so Neutzling, wäre zu bedenken, dass in der Grundschule fast ausschließlich Frauen arbeiten.

[...]

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer?
Université
University of Dortmund
Cours
Chancengleichheit für Mädchen und Jungen - Vielfalt fördern!
Note
1,0
Auteurs
Année
2007
Pages
21
N° de catalogue
V86076
ISBN (ebook)
9783638010405
ISBN (Livre)
9783638940474
Taille d'un fichier
543 KB
Langue
allemand
Mots clés
Jungen, Bildungsverlierer, Chancengleichheit, Mädchen, Jungen, Vielfalt
Citation du texte
Corinna Kühn (Auteur)Elena Kramer (Auteur)Nira Leven (Auteur), 2007, Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86076

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