Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Interdisziplinäre Rechtfertigung von Bildung
3. Widerspruch zwischen Ökonomische und Pädagogik?
3.1 Bildungsökonomische Forderung
3.2 Zum Verhältnis zwischen Ökonomie und Pädagogik
4. Forderungen der Educandi: Berücksichtigung ihrer Individuallage
4.1 Bildungsbedingungen und Lebenswandel
4.2 Physiologische Lern-Bedingtheiten
4.3 Psychologische Lern-Bedingtheiten
4.4 Soziales Umfeld als Bildungsdeterminante
4.5 Bildungsbiographie als Resultat (auch) der Individuallage
5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Anhang
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bildung ist eine Grundlage für ein freies Leben, das mit Kant seinen Ausdruck in der aus geistiger Selbstbestimmtheit des Einzelnen resultierenden Mündigkeit findet. Hier schon zeigt sich die Abhängigkeit eines solchen Freiheitsbegriffs von der Bildung: Im Kontext von Aufklärung und Emanzipation kann sie verstanden werden als eine kritische „Distanz des aufgeklärten Menschen gegenüber der Fremdsteuerung durch Metaphysik, Theologie und herrschende Gesellschaftsklasse, die seine Autonomie in der ihm eigenen Vernunft begründet“.[1] Bildung ist demnach für eine Unabhängigkeit des Individuums von höheren Instanzen[2] sowie seine Möglichkeit einer eigenen, freien Lebensgestaltung vorauszusetzen.
Der Grad der Bildung als Ergebnis eines (kontinuierlichen) Lernprozesses ist zugleich (wesentlicher) Bestimmungsfaktor für die persönliche Positionierung durch die Gesellschaft. So hängt die für gesellschaftlichen Status maßgebliche „Employability“ in einem von zunehmender Komplexität und Dynamik bestimmten Lebens- und Arbeitsumfeld grundlegend vom Wissen, Werten und Handeln des Einzelnen ab.[3]
Dieser Aufsatz will zeigen, dass Bildungsansprüche in praxi mehrperspektivisch und inhaltlich different formuliert werden. Es sollen jene Kriterien reflektiert werden, die den Ausgang von Bildungsdiskussionen beeinflussen. Und denen es bei der Gestaltung eines Bildungsangebots, also der Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, Beachtung zu schenken gilt.
Im Vorspann wird eine interdisziplinäre Rechtfertigung für die Bedeutung der Frage nach Bildung gegeben: Aus politischer, gesamtwirtschaftlicher, anthropologischer, philosophischer und pädagogischer Sicht wird gezeigt, dass dieser Frage ein individuell wie gesellschaftlich existenzielles Gewicht beizumessen ist (Abschnitt 2).
Im weiteren Vorgehen soll eine Übersicht über dem nationalen Kontext soweit wie möglich enthobene bildungsökonomische Maximen und philosophisch-pädagogische Ideen für die „optimale“ Ausgestaltung von Bildung gegeben werden. In punkto Menschenbild, Zweckorientierung und daraus abgeleitet Handlungsansätzen unterscheiden sich diese für die Konstituierung von Rahmenbedingungen maßgeblichen Bereiche grundlegend voneinander (Abschnitt 3).
Die Argumentation ergreift anschließend die Situation des Einzelnen im Bildungskontext. Es gilt bei der Schaffung eines Bildungsangebots, einzigartige Individuallagen zu berücksichtigen; andernfalls verfehlte Bildung ihre „Zielgruppe“ und könnte keine Wirkung entfalten (Abschnitt 4).
Abschließend sollen Schlussfolgerungen aus den ökonomischen, pädagogischen und individuellen Bildungsansprüchen für die Gestaltung eines Bildungsangebots gezogen werden. Angesprochen werden dabei all jene, die für die Schaffung eines institutionellen, außerinstitutionellen aber auch familiären Bildungsangebots verantwortlich zeichnen sowie die Individuen selbst, die die letzte Verantwortung für ihren eigenen Bildungsgang tragen (Abschnitt 5).
Im Anhang findet sich ein Verzeichnis der für diesen Aufsatz zurate gezogenen Literatur.
Redaktionelle Anmerkung
Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes weder beabsichtigt, noch in dessen begrenztem Umfang möglich, die interdisziplinären Betrachtungen in der Tiefe zu führen. Als Streifzug sollen vielmehr einige nach dem Urteil des Verfassers wesentliche, da die Lebens- und Bildungspraxis dominierende, Positionen und Argumente reflektiert werden. Das so entstandene „normative“ Spannungsfeld, dem alle Gestaltung von Bildung sich ausgesetzt sieht, wird dadurch transparent. Bildungsverantwortliche sollen angeregt werden, ihre gestaltende Arbeit interdisziplinär zu führen und ihrer hohen und mannigfachen Verantwortung gerecht zu werden.
2. Interdisziplinäre Rechtfertigung von Bildung
Bildungszugang meint die tatsächliche Möglichkeit von Menschen, am bildungspraktischen Geschehen teilnehmen zu können und ist maßgeblich für die Gestaltung eines chancengerechten Bildungsangebots. Dies schließt den Zutritt zu Bildung fördernden Institutionen im Schul- und Hochschulwesen sowie im Rahmen beruflicher Bildung genauso ein wie die Partizipation an außerinstitutionellen Bildungs maßnahmen und -handlungen. Letztere sind so umfassend, dass sie einen Bogen von der Teilhabe an familiärer, bildender Erziehung bis hin zu Bildung förderndem „learning on the job spannen“.[4] Vor der eigentlichen Behandlung konkreter ökonomischer, pädagogischer und individueller Bildungsansprüche ist eine allgemeine Rechtfertigung der Frage nach Bildung bzw. Bildungszugang geboten:[5]
Politische Implikation
Besonders die Politikfelder „Innere Sicherheit“ und „Soziale Gerechtigkeit“ haben engsten Bezug zur Bildung: Ungleiche Bildungs- und damit gesellschaftliche Emanzipationschancen verursachen materielle und soziale Ungleichgewichte (vgl. als jüngstes Beispiel aus dem näheren regionalen Umfeld die Missstände in der Sozial-, Arbeits- und Bildungspolitik peinlich aufdeckenden Jugendkrawalle in Frankreich). Unausgewogene Lebensverhältnisse, die sich am deutlichsten an der personellen Verteilung des Volkseinkommens ablesen lassen, gefährden die innere Stabilität und mit ihr die auch außenpolitische Handlungsfähigkeit von Staaten. Sie münden zwangsläufig in sinkender Attraktivität der betroffenen Lebensräume mit all ihren sozialen (Abwanderung, Vereinsamung der Alten und Schwachen, Anfälligkeit für populistische Ver klärungspolitik, Bereitschaft oder Not zur Gewaltausübung[6]) und ökonomischen Konsequenzen (Transferkostenanstieg, Entwertung der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden, Kapital und Humankapital), wie etwa die Situation der neuen deutschen Bundesländer unschwer erkennen lässt. Abgesehen von ethischen Implikationen: Bildung kann als „gesellschaftlicher Befähiger“ nicht nur soziale und wirtschaftliche Härten kompensieren, sondern auch gezielt für den Ausbau von Chancengleichheit und zur Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt werden, was ein politisches Engagement für Bildungszugang in der Breite mehr als gebietet.[7]
Gesamtwirtschaftliche Implikation
Wie bereits angesprochen, verhilft Bildung in der modernen Gesellschaft dem Einzelnen zu Arbeit und damit materieller Existenz. Je höher das quantitative und qualitative Bildungsniveau einer ganzen Gesellschaft demgegenüber ist, auf desto mehr hochproduktives Arbeitskräftepotenzial wird sie zurückgreifen können: Mittelbar folgen aus dem hohen Schaffensniveau einer Volkswirtschaft deren Innovationskraft und damit ihre Fähigkeit, im mittlerweile globalen Wettbewerb eine gestaltende an Stelle einer reaktiven Rolle einzunehmen. Ihre relative Autonomie wird dieser Volkswirtschaft aber nicht nur in Form eines höheren Nationaleinkommens vergütet; auch die volkswirtschaftlichen Kosten, allen voran Transferzahlungen an aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossene Geringqualifizierte und Entwertung von Produktionsfaktoren, werden sinken. Verfügt sie dazu noch über einen „kompetenten“[8] Staatsapparat, so werden die Nationalökonomen sich mit einer Volkswirtschaft beschäftigen dürfen, die es aus immanenter Energie schafft, effizient zu sein. Es sollte daher verwundern, wäre eine nach Effizienz strebende Volkswirtschaft nicht daran interessiert, all ihren Bewohnern lebenslang so viel und so gute Bildung zu verschaffen wie irgend möglich.
Anthropologisches Erfordernis
„Als Anthropologie (werden) alle wissenschaftlichen Theorien (verstanden), die sich mit der Entwicklung der Menschheit und ihrer Besonderheiten im Vergleich zu anderen Lebewesen befassen (…) Die pädagogische Anthropologie betrachtet den Menschen als auf Erziehung angewiesenes und erziehbares Wesen.“[9] Die Anthropologie als auch empirische, deskriptive Wissenschaft begründet in ihrer pädagogischen Ausrichtung im Besonderen die Möglichkeit der Erziehung des erziehungsbedürftigen Menschen: Dieser wird im Gegensatz zu Tieren mit weit weniger überlebenswichtigen Instinkten ausgestattet in die Welt gesetzt („biologisches Mängelwesen“[10]). Sein Überleben in der Natur hängt demnach maßgeblich davon ab, wie gut er auf die Anforderungen seiner Umwelt mittels bewusster Erziehung vorbereitet wird. In seinem Denken, in seiner Sprachfähigkeit und in seiner kognitiven Reflexions- und Selbstbesinnungsfähigkeit hebt sich der Mensch als Lebewesen von den Tieren ab, die i.a. kognitiv unbewusst, genetisch veranlagt und triebhaft agieren. Es gilt daher für die aus anthropologischer Sicht „artgerechte“ Erziehung des Menschen, genau die ihn charakterisierenden Eigenschaften mit dem Ziel seiner eigenständigen Handlungsfähigkeit bestmöglich auszubilden. Auch aus anthropologischer Perspektive bestätigt sich, dass Bildung und mit ihr Bildungszugang für eine menschgerechte Entwicklung vorauszusetzen und von daher einzufordern sind.
[...]
[1] Vgl. Böhm W. (2000) mit eigenen Modifikationen (Hervorhebungen).
[2] Waren es bis zur westlichen Aufklärung vor allem der Geburtsstand oder die Auffassung kirchlicher Würdenträger, die den Menschen vorbestimmte Rollen und Bürden zuwiesen, so übernehmen in der modernen, westlich zivilisierten Gesellschaft schon mal sog. Sachzwänge oder vermeintlich wirtschaftliche Notwendigkeiten eine heteronome Funktion, die dem Einzelnen in fatalistischer Art und Weise die Kontrolle über die Verwendung seiner Lebenszeit zu entziehen trachten.
[3] Wissen, Werten und Handeln als konstitutive charakterliche Merkmale des Menschen ergeben sich aber nicht nur aus seiner Verarbeitung institutionell absolvierter Bildungsmaßnahmen, sondern sind mitunter entscheidend abhängig von seinem sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Umfeld, der elterlichen Erziehung und der eigenen Lebenserfahrung. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die geistige Verarbeitung, Schlussfolgerung und Ziehung von Konsequenzen aus eben der eigenen Individuallage durch den gegebenen Bildungsstand bedingt werden.
Zum Thema Komplexität und Dynamik des technologischen, wirtschaftlichen und Wertewandels, ihren Auswirkungen auf Unternehmen und damit die Konsequenzen auch für Arbeitsplätze vgl. bspw. die Ausführungen bei Bleicher K. (2004).
[4] Da nach Überzeugung des Autors Bildung ein Phänomen ist, das seine Ursachen und Wirkungen im gesamten, komplexen Lebensumfeld des Einzelnen erfährt, wird bewusst darauf verzichtet, Bildung oder Bildungszugang im weiteren Verlauf rein auf institutionelle Bildungsträger oder -maßnahmen zu beschränken.
[5] Selbstverständlich erheben die in diesem Abschnitt angeführten Argumente keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie möchten durch die interdisziplinäre Betrachtung einen umfassenden Überblick über „gute Gründe“ für die Frage nach dem Bildungszugang formulieren und ein Verständnis für die Interdependenz von Bildungsfragen stimulieren.
[6] Es sind hier die psychische wie die physische Dimension von Gewalt gegen sich oder andere angesprochen; zur direkten und indirekten Bildungswirkung auf die Gewaltausübung. Ein „entwickeltes“ Staatswesen schafft sich eine solche Infrastruktur, die objektive Notwendigkeiten zur Gewaltausübung dank faktischem Breitenzugang weitgehend obsolet macht (etwa Ver- und Entsorgungseinrichtungen für Nahrung, Wasser und Abwasser, Elektrizität und Heizenergie), vgl. auch Fn. 8.
[7] Im Beitrag von Seeber G. (2006, im Erscheinen) wird u.a. mit Bezugnahme auf die 2005er OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ die Investitionswirkung (Ertragswirkung) von Bildung beleuchtet: „Das Einkommen der 25- bis 64-Jährigen nach einem Abschluss des Sekundarbereichs II (z.B. Abitur, Berufsausbildung) wurde gleich 100 gesetzt. Die OECD unterscheidet dann in den Tertiärbereich B (z.B. Fachhochschulabschluss, Bachelor) und den Tertiärbereich A (z.B. Universitätsabschluss, Master). Für beide Segmente liegt das Einkommen teilweise deutlich höher als 100: Frauen und Männer mit Universitätsabschluss verdienen ca. 60 % mehr als sie mit einem Sekundarstufe II-Abschluss verdienen würden. Wer keine Berufsausbildung beendet und nur einen Abschluss der Sekundarstufe I oder keinen Abschluss hat, verdient als Mann nur 90 % und als Frau nur 81 % des ansonsten erreichten Einkommens.“
Ergänzend zum aus der Einkommensstatistik ersichtlichen Bildungsertragseffekt sind Gering- bis Nichtqualifizierte von Arbeitslosigkeit weit stärker betroffen als Absolventen einer Berufs- und / oder Hochschulausbildung: So betrug 2004 die Arbeitslosenquote in den Alten Bundesländern (inkl. Berlin West) 21,7 % bei Menschen ohne Berufsabschluss, 7,3 % bei Personen mit Lehr- oder Fachschulabschluss und lediglich 3,5 % bei (Fach-)Hochschulabsolventen. In den Neuen Bundesländern (einschl. Berlin Ost) war die Situation dramatischer: 51,2 % (ohne Berufsabschluss); 19,4 % (Lehr-/Fachschulabschluss); 6,0 % (Fach-/Hochschulabschluss), Quelle: Hummel M., Reinberg A. (2005).
[8] Aus idealischer Sicht sollte eine in punkto Bildung „entwickelte“ Gesellschaft imstande sein, professionelle, d.h. effektive und effiziente Staatsorgane sich zu installieren, die rational handeln und zum Wohle der Gesellschaft die objektiv weitestgehend besten Initiativen ergreifen können. Schon Platon sprach davon, dass die „Philosophen Könige und die Könige Philosophen“ sein sollten, womit er zweifelsfrei diejenigen gemeint hat, die sittlich, kognitiv und affektiv am meisten gebildet sind (Platon: Politeia, 484a – 487e).
[9] Schaub H., Zenke K. G. (2004) bei Anthropologie.
[10] Vgl. Kaiser A., Kaiser R. (1998), S. 36.