Die Rolle der pädagogischen Beratung als Teilaufgabe pädagogischer Förderung im Kontext von Verhaltensstörungen


Mémoire de Maîtrise, 2006

118 Pages, Note: 2,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Verhaltensstörungen: Begrifflichkeit - Definitionen - Abgrenzungen
2.1 Verhaltensstörung als Abweichung von pädagogisch definierten Regeln
2.2 Verhaltensstörung als „relativ überdauernde Disposition“
2.3 „Besondere erzieherische Hilfe“ als pädagogisch konstruktives Kriterium

3. Die Rolle der Heil- und Sonderpädagogik in der pädagogischen Förderung von Kindern mit Verhaltensstörungen
3.1 Der ökosystemische Ansatz in der Heil- und Sonderpädagogik
3.1.1 Paradigmenwechsel
3.1.2 Theoretische Grundlagen - ein Überblick
3.1.2.1 Ökologisch und systemisch - Anmerkungen zur Begrifflichkeit
3.1.2.2 Ökologische und systemische Theorieansätze in der Heil- und Sonderpädagogik - ausgewählte Aspekte
3.1.2.2.1 Der Mensch als autonomes System
3.1.2.2.2 Der Lebenswelt - Aspekt
3.1.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes
3.2 Die Einflussnahme ökosystemischer Theorieansätze auf die Entwicklungsförderung von Kindern mit Verhaltensstörungen
3.2.1 „Spezielle Erziehungserfordernisse“ als heilpädagogischer Legitimationsbegriff
3.2.2 Heilpädagogische Konsequenzen für die Entwicklungsförderung
3.2.3 Sonderpädagogische Handlungsebenen
3.3 Die Rolle des Sonderpädagogen in der Entwicklungsförderung von Kindern mit Verhaltensstörungen - Verortung der Beratung
3.3.1 Veränderungen in Tätigkeitsbereichen und Berufsrolle
3.3.2 Neue Orientierungen in der Arbeit des Sonderpädagogen
3.3.2.1 Von Instruktionen zu Interventionen
3.3.2.2 Die Bedeutung der Kooperation
3.3.2.3 Vom Konzept der Nähe zum Konzept der Intensität
3.3.2.4 Mehrparteilichkeit als wichtige Orientierung
3.3.3 Beratung als neue Aufgabe
3.4 Organisationsformen schulischer Förderung bei Verhaltensstörungen - ein Überblick

4. Pädagogische Beratung als Teilaufgabe pädagogischer Förderung bei Verhaltensstörungen
4.1 Teilaufgaben pädagogischer Förderung - ein Überblick
4.2 Pädagogische Beratung bei Verhaltensstörungen - ausgewählte Aspekte
4.2.1 Zur Begründung der Beratung in der Pädagogik
4.2.1.1 Beratungsbedarf in der Schule
4.2.1.2 Verortung pädagogischer Beratung
4.2.2 Grundlagen pädagogischer Beratung
4.2.2.1 Pädagogische Beratung - Charakteristika und Abgrenzungsmerkmale
4.2.2.1.1 Beratung, Erziehung und Therapie
4.2.2.1.2 Was ist pädagogische Beratung?
4.2.2.2 Aufgabenfelder und Ziele pädagogischer Beratung
4.2.2.2.1 Aufgabenfelder
4.2.2.2.2 Ziele
4.2.2.3 Das Verhältnis von Beratung und Förderung
4.2.2.4 Gestaltungsformen der Beratung in der schulischen Erziehungshilfe
4.2.3 Ökosystemische Einsichten und ihre Konsequenzen für die pädagogische Beratung
4.2.3.1 Dimensionen des Beratungsvorgangs
4.2.3.2 Konsequenzen für den Beratungsakt
4.3 Kooperation und Kommunikation - Möglichkeiten der Realisierung im Rahmen pädagogischer Beratung
4.3.1 Pädagogische Beratung als horizontale Beratung
4.3.2 Beziehungsgestaltung
4.3.2.1 Allgemeine Anmerkungen zur Beratungsbeziehung
4.3.2.2 Verhältnisformen der Beratungsbeziehung im Kontext von Förderung
4.3.3 Kooperierende Interaktion am Beispiel des Modells der Kooperativen Beratung
4.3.3.1 Konzeptionen des Beratungsansatzes
4.3.3.1.1 Bezugsrahmen der Kooperativen Beratung
4.3.3.1.2 Determinanten der Interaktion im Beratungsprozess
4.3.3.2 Elemente der Kooperativen Beratung
4.3.3.3 Schritte des methodischen Vorgehens
4.4 Grenzen und Probleme pädagogischer Beratung
4.4.1 Kooperations- und Kommunikationsprobleme zwischen Schule und Eltern
4.4.2 Kommunikationsprobleme
4.4.3 Statusprobleme
4.4.4 Weitere Schwierigkeiten

5. Pädagogische Beratung im Praxisfeld Schule
5.1 Das Betreuungslehrermodell in der Regelschule
5.2 Pädagogische Beratung im Rahmen des Betreuungslehrermodells - Erfahrungen aus der Praxis
5.2.1 Kooperation und Beziehungsgestaltung
5.2.2 Persönliche Reflexion

6. Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Handlungs- und Störungsmodell der Kooperativen Beratung

Abb. 2: Tätigkeitsbeschreibung von Betreuungslehrern

1. Einleitung

Die Schule als Ort des Lernens und der Vorbereitung auf die Anforderungen des Lebens in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft mit sich ständig wandelnden Anforderungen nimmt im Leben von Kindern und Jugendlichen einen wichtigen Platz ein. Sie verbringen einen Teil ihres Lebens an einem Ort, wo sie neben grundlegenden Kulturtechniken und Wissensinhalten auch Kompetenzen erlernen sollen, die eine befriedigende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.

Auf Grund eigener Berufserfahrungen als Hauptschullehrerin sowie der Aussagen von Berufskollegen kann festgestellt werden, dass die Vermittlung von Wissen und sozialen Kompetenzen unter immer schwierigeren Bedingungen stattfindet. Viele Lehrer haben den subjektiven Eindruck, dass Verhaltens- und Lernstörungen zunehmen und dadurch die Unterrichtstätigkeit erschwert wird.

Parallel dazu ist in meinem beruflichen Umfeld die Tendenz zu spüren, dass Pädagogen zunehmend aufgeschlossener werden, wenn es um das Annehmen von Unterstützung beim Umgang mit problematischen Kindern geht. Zum einen wächst die Bereitschaft zur Weiterbildung, zum anderen wird die Zusammenarbeit mit Sonder- bzw. Betreuungspädagogen als Chance und Hilfe für die integrative Betreuung von Kindern mit Verhaltens- und Lernstörungen geschätzt.

Durch neue Formen der Zusammenarbeit sowie durch die verstärkte Konfrontation mit Verhaltens- und Lernproblemen haben sich neue Herausforderungen im Hinblick auf meine berufliche Tätigkeit ergeben. Eine dieser Herausforderungen ist die Notwendigkeit der Aneignung beraterischer Kompetenzen. Es ist besonders bei der Förderung von Kindern mit Verhaltens- und Lernstörungen wichtig, mit den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen beratende Gespräche zu führen, um auf diese Weise eine kooperative Zusammenarbeit zu entwickeln.

Pädagogische Beratung hat auch in anderen Bereichen einen wichtigen Stellenwert. Sie ist beispielsweise ein integrierter Bestandteil des Tätigkeitsbereiches von Sonderpädagogen. In vielen österreichischen Pflichtschulen sind Betreuungs- bzw. Beratungslehrer tätig, die einen wichtigen Beitrag zur integrativen Förderung leisten. Auch ihre Arbeit beinhaltet die pädagogische Beratung. In Kooperation mit Lehrern, Eltern und Schülern wird versucht, Maßnahmen zur optimalen individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen zu entwickeln. Diese Beispiele aus der Praxis veranschaulichen die zunehmende Bedeutung der pädagogischen Beratung im Praxisfeld Schule. Sie stellt eine Teilaufgabe pädagogischer Förderung dar und ist zu einem wichtigen Bestandteil pädagogischer Arbeit geworden.

Im Wesentlichen soll es bei der pädagogischen Förderung darum gehen, Kooperations- und Kommunikationsstrukturen zwischen den für das Kind wichtigen Lebenswelten zu schaffen, um eine bessere Einsicht in die Probleme von Kindern zu erlangen und auf Basis dieser Erkenntnisse in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit aller am Problem Beteiligten Bedingungen für die optimale Entwicklungsförderung zu schaffen. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit bezieht sich darauf, welchen Beitrag die pädagogische Beratung als Teilaufgabe pädagogischer Förderung leisten kann, um offene Kommunikation und Kooperation zwischen allen am Problemkomplex Beteiligten zu ermöglichen.

Die zunehmende Bedeutung pädagogischer Beratung in meiner beruflichen Praxis war für mich ein Anlass, diese Fragestellung zu erläutern und ausgewählte Aspekte des Themenkomplexes darzustellen.

Zu Beginn der Arbeit findet eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Verhaltensstörung statt, wobei auf Probleme der Begrifflichkeit hingewiesen wird. Ob Schülerverhalten von Pädagogen als störend oder nicht störend empfunden wird, ist subjektiv sehr unterschiedlich. Innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik wird versucht zu klären, was aus pädagogischer Sicht unter Verhaltensstörung verstanden wird. Einige Überlegungen zu dieser Thematik werden angeführt.

Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über die Rolle der Heil- und Sonderpädagogik bei der Förderung von Kindern mit Verhaltensstörungen. In diesem Zusammenhang werden Grundzüge des ökosystemischen Paradigmas sowie mögliche Konsequenzen ökosystemischer Einsichten für die Entwicklungsförderung dargestellt.

Durch die zunehmende Bedeutung der integrativen Förderung haben sich Tätigkeitsbereiche und Berufsrolle von Sonderpädagogen verändert. Die pädagogische Beratung als neue Aufgabe nimmt einen wichtigen Stellenwert ein.

Diese Veränderungen und neuen Orientierungen in der Arbeit von Sonderpädagogen werden aufgegriffen, weil sie Hinweise auf die Verortung pädagogischer Beratung geben. Schließlich erfolgt ein Überblick über Organisationsformen schulischer Förderung bei Verhaltensstörungen.

Der Themenkomplex der pädagogische Beratung wird im vierten Kapitel behandelt, wobei Aspekte wie Fragen zur Begründung der Beratung in der Pädagogik, Grundlagen pädagogischer Beratung und mögliche Konsequenzen ökosystemischer Einsichten für die Beratung aufgegriffen werden. Es werden Überlegungen angestellt, in wie weit sich Kooperation und Kommunikation im Rahmen pädagogischer Beratung realisieren lassen. In diesem Zusammenhang werden Fragen der Beziehungsgestaltung bzw. der Gestaltung von Interaktionsmustern in der Beratungssituation erläutert und die Realisierung kooperierender Interaktion am Beispiel des Modells der Kooperativen Beratung dargestellt. Schließlich werden die Grenzen pädagogischer Beratung am Beispiel möglicher Probleme und Schwierigkeiten aufgezeigt.

Im fünften Kapitel wird als Beispiel pädagogischer Beratung im Praxisfeld Schule ein Modell beschrieben, welches im Hinblick auf die Förderung von Kindern mit Verhaltensstörungen österreichweit Verbreitung gefunden hat. Bei dieser Organisationsform schulischer Förderung sind Betreuungspädagogen an Pflichtschulen tätig, um dort in gemeinsamer Arbeit mit Regelschullehrern Kinder und Jugendliche mit Problemen zu betreuen und durch die integrative Förderung einen Verbleib dieser Kinder in der Regelschule zu ermöglichen. Auf Basis persönlicher Erfahrungen und empirischer Ergebnisse soll aufgezeigt werden, welche Chancen und Probleme es bei der Verwirklichung von kooperativen Strukturen im Rahmen pädagogischer Beratung gibt.

Im letzten Kapitel erfolgen eine Zusammenfassung der wichtigsten Überlegungen und ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen auf dem Gebiet der pädagogischen Beratung.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass aus Gründen der leichteren Lesbarkeit des Textes zum überwiegenden Teil nur eine Personalform verwendet wird. Grundsätzlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

2. Verhaltensstörungen: Begrifflichkeit - Definitionen - Abgrenzungen

Pädagogen, Erzieher und Sozialpädagogen sind im Rahmen ihrer Arbeit häufig mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, welche mit sich selbst oder ihrer Umwelt Schwierigkeiten haben und diese nicht alleine bewältigen können. Der Erfahrungsaustausch unter Kollegen zeigt, dass sich Probleme, welche Schüler mit sich, der Schule oder den Eltern haben, oft durch auffälliges und störendes Verhalten äußern. Das breite Spektrum problematischer Verhaltensweisen und die Zunahme ihrer Auftretenshäufigkeit beeinträchtigen Erziehung und Unterricht.

Nach Goetze (2001, S. 11) beschäftigt sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit einer

Schülerklientel, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich pädagogischen Bemühungen mehr oder weniger nachhaltig verschließt. Es geht um Kinder und Jugendliche, denen gemeinsam ist, dass

- sie negative Gefühle bei anderen auslösen,
- schlechte Schulleistungen aufweisen,
- sie sozial abgelehnt oder nur widerwillig in einen sozialen Verband aufgenommen werden,
- man eher die Begegnung mit ihnen meidet,
- sie ein negatives Selbstbild aufweisen,
- sie einen erschwerten Zugang zu den sich normalerweise anbietenden Lerngelegenheiten finden.

In der pädagogischen Praxis wird der Begriff Verhaltensstörungen für eine ganze Bandbreite auffälliger, störender und von Normen abweichender Verhaltensweisen verwendet. In Gesprächen mit Kollegen zeigt sich, dass es individuell unterschiedliche Ansichten und Meinungen im Hinblick darauf gibt, was unter Verhaltens- oder Lernstörung zu verstehen sei, worin diese begründet sein könnten und welche Hilfsmaßnahmen angebracht seien. Es ist zu bemerken, dass der subjektive Moment eine wichtige Rolle spielt. Es gibt große individuelle Unterschiede hinsichtlich des Empfindens, ob und wie stark ein Schüler das Unterrichtsgeschehen durch sein Verhalten belastet. Im Rahmen sowohl pädagogischer Konferenzen als auch informeller Gespräche zeigt sich, dass die Unsicherheiten im Hinblick auf Diagnostik sowie Maßnahmen bei Verhaltensstörungen groß sind.

Auch zwischen und innerhalb der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, welche sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, gab und gibt es Diskussionen um die Fragen, was unter gestörtem Verhalten zu verstehen sei und unter welchen Begriffen dieses subsumiert werden kann. Bezeichnungen wie Erziehungsschwierigkeit, Verwahrlosung, Schwererziehbarkeit oder Entwicklungsstörung sind in der fachwissenschaftlichen Literatur zu finden. Auf wissenschaftlicher und administrativer Ebene hat sich jedoch der Begriff Verhaltensstörung weitgehend durchgesetzt, weil er interdisziplinär verständlich ist und problemlos in verschiedene Sprachen übersetzt werden kann (Myschker, 2002, S. 41).

Es wird hier nicht näher auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Verhaltensstörung eingegangen, ein kritischer Punkt hinsichtlich der sachlichen und sprachlichen Begriffslegitimation soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Verhaltensweisen, die nicht den Normen oder Vorstellungen des Beurteilers entsprechen als Verhaltensstörungen einzuschätzen, können für das Individuum schwerwiegende Folgen im Sinne von Etikettierung und Stigmatisierung haben. Es wird diskutiert, ob durch eine Vermeidung der Benennung problematischen Verhaltens negative Auswirkungen für den Betroffenen ausgeschlossen werden können. Andererseits sind die Benennung von Problemen und eine möglichst präzise Beschreibung des individuellen Problemkomplexes für die zielgerichtete Planung von Hilfs- und Fördermaßnahmen unabdingbar. Bach (1989b, S. 5) spricht davon, dass „bei einem Verzicht auf die Benennung des Phänomenfeldes die Prozesse der Stigmatisierung keineswegs aufzuheben wären. Sie wären eher der Reflexion entzogen, würden aus dem Blickfeld geraten und sich anderer Instrumente als des Etiketts ‚Verhaltensstörung’ bedienen.“

In seinen Überlegungen zur Begriffsverwendung geht Speck (1979) davon aus, dass Verhaltensweisen immer in einen normativen Bezugsrahmen gestellt werden müssen. Erst dann kann beurteilt werden, ob gezeigtes Verhalten normal oder gestört sei. Ansonsten gibt es kein Verhalten, dass alleine von seinem Begriffsinhalt her als abweichend gelten kann.

Der Autor (1979, S. 2) warnt vor der Verwendung der pauschalierenden Kurzformel „Verhaltensgestörte“ bzw. davor, ein Kind als verhaltensgestörtes Kind zu bezeichnen. Dies impliziert eine Sichtweise, welche die Ursache der Störung allein im Individuum selbst vermutet. Die Komplexität der Bedingungsfaktoren wird vernachlässigt. Weiters wird der pädagogische Sachverhalt verkürzt, denn ein Kind mit Verhaltensstörungen ist nicht nur verhaltensgestört. Es muss in seiner Ganzheit, in seiner „ganzen personalen und sozialen Komplexität und Potentialität“ (Speck 1979, S. 2) betrachtet werden.

Abgesehen von den Diskussionen um Begriffslegitimation und -verwendung gibt es eine Bandbreite unterschiedlicher Definitionen des Begriffes Verhaltensstörung. Innerhalb der Sonderpädagogik wird diskutiert, was aus pädagogischer Sicht unter Verhaltensstörung verstanden wird. Dies ist bedeutend für die Planung und Durchführung von Fördermaßnahmen, welche in den Bereichen der Prävention und Behandlung von Verhaltensstörungen eine wichtige Rolle spielen.

2.1 Verhaltensstörung als Abweichung von pädagogisch definierten Regeln

Havers (1978) prägt den Begriff der Erziehungsschwierigkeit und versteht darunter den Verstoß gegen schulische Normen. Regelübertretungen können im Bereich der schulischen Anforderungen (z.B. Konzentrationsstörungen), im Interaktionsbereich mit Mitschülern, Lehrern oder anderem Schulpersonal (z.B. Hänseleien, Ungehorsam), im Normenbereich der Schulkasse oder Schule (z.B. Verspätung, Mogeln) oder im Bereich der residualen Verhaltensabweichungen (z.B. übermäßige Angst, Nervosität) liegen.

Ein wesentliches Merkmal der Beurteilung störenden Verhaltens als Erziehungsschwierigkeit ist der konstituierende normative Bezugsrahmen und die daran orientierten Verhaltenserwartungen des Pädagogen.

Da nicht jede Störung oder Regelübertretung als Erziehungsschwierigkeit gilt, werden die Aspekte Anzahl (gemeint ist die Zahl verschiedenartiger Störungen), Häufigkeit, Intensität, Schweregrad und kritischer Wert (wie viele Verhaltensstörungen müssen wie oft vorkommen, um von einem erziehungsschwierigen Schüler zu sprechen) als Richtwerte bei der Einschätzung störenden Verhaltens als Erziehungsschwierigkeit angeführt. Hier zeigt sich die Problematik der Subjektivität auf Seiten des Beurteilers. So kann ein Lehrer den Eindruck gewinnen, dass ein Schüler, der schon vorher unangenehm aufgefallen ist, viel häufiger stört als andere, auch wenn dieser objektiv gesehen nicht öfter durch auffälliges Verhalten in Erscheinung tritt als seine Schulkollegen. Das subjektive Urteil des Pädagogen ist entscheidend dafür, ob ein Schüler als verhaltensgestört bezeichnet wird. Dieses Urteil ist abhängig von der Toleranzschwelle des einzelnen Lehrers und den Persönlichkeitsmerkmalen sowohl des Beurteilers als auch des Schülers. So kann etwa die Interpretation der schulischen Normen durch den Lehrer oder seine Weltanschauung eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung von Schülerverhalten spielen.

Eine Regelübertretung wird also erst dann zur Erziehungsschwierigkeit, wenn sie vom Lehrer wahrgenommen und als störend und unangemessen beurteilt wird. Ein Schüler gilt als verhaltensgestört, „wenn seine Erziehungsschwierigkeiten nach dem Urteil eines schulischen Erziehers so häufig, zahlreich, intensiv und schwerwiegend sind, dass sie über das normale und tolerierbare Maß hinausgehen.“ (Havers, 1978, S. 29 - 30)

Der Autor geht der Frage nach, unter welchen Bedingungen ein Kind mit gelegentlichen Verhaltensstörungen zu einem erziehungsschwierigen Schüler wird und thematisiert in diesem Zusammenhang das Problem der Etikettierung. Nicht allein die Einschätzung des Schülers als erziehungsschwierig, sondern das Öffentlich machen im Rahmen von Lehrer- und Elterngesprächen oder beim Erstellen von Gutachten kann problematische Folgen haben. Das Kind integriert das negative Etikett in sein Selbstkonzept. Dies trägt zur Entwicklung einer devianten, von sozialen Normen abweichenden Identität mit allen ihren negativen Auswirkungen auf die personale und soziale Integration des Individuums bei (vgl. Havers, 1978).

2.2 Verhaltensstörung als „relativ überdauernde Disposition“

Heinz Bach (1989b) schafft den Oberbegriff Verhaltensbeeinträchtigung und ordnet diesem die Phänomene Pseudoverhaltensstörung, Verhaltensbehinderung und Verhaltensstörung unter.

Pseudoverhaltensstörungen sind dadurch charakterisiert, dass sie auf Grund von Wahrnehmungsfehlern oder situationsbedingten Fehleinschätzungen auf Seiten des Beobachters konstatiert werden. Zu dieser Gruppe zählen auch Verhaltensweisen, die „zufällig aufgrund äußeren Zwangs, direkt durch motorische, sensorielle Schäden, durch Schäden der Sprechwerkzeuge, durch intellektuelle Schäden oder durch akute organische Erkrankungen“ (Bach 1989b, S. 8) auftreten.

Unter Verhaltensbehinderungen subsumiert der Autor abweichende Verhaltensweisen extremen und langfristigen Umfangs, welche auf „generalisierte, relativ fixierte…Fehldispositionen der Person“ (Bach, 1975, S. 141; zitiert nach Benkmann, 1992, S. 22) schließen lassen. Psychotisches, autistisches oder auf Grund von Hirnschädigungen auftretendes Verhalten sind dieser Kategorie zuzurechnen (Bach 1989b, S. 8).

Der Autor (1989b, S. 6) grenzt Verhaltensstörungen von den beiden oben genannten Begriffen deutlich ab:

Unter Verhaltensstörung soll die Art des Umgangs eines Menschen mit anderen, mit sich selbst und mit Sachen verstanden werden, die von der erwarteten Handlungsweise negativ abweicht, indem sie als sinnvolle Zustände oder Handlungsabläufe, Zusammenleben oder individuale Entwicklung gefährdend, beeinträchtigend oder verhindernd angesehen wird.

Verhaltensstörungen äußern sich, indem „ein bestimmtes Verhalten einer Person von den Erwartungen einer anderen (oder einer Gruppe) negativ abweicht.“ (Bach, 1989b, S. 3).

Sie konstituieren sich durch das Zusammenwirken von gezeigtem Verhalten und dem Urteil des Beobachters, wobei die Störung auf Grund einer Diskrepanz zwischen beiden Komponenten entsteht. Das Hauptaugenmerk liegt auf den individualen, „relativ überdauernden, aber beeinflussbaren Dispositionen“ (Bach 1978, S. 22; zitiert nach Benkmann, 1992, S. 21) einer Person, welche ausschlaggebend für das Entstehen der Diskrepanz zwischen Störung und Verhaltenserwartung sind. Unter Dispositionen sind vermutete Bereitschaften für Störungen zu verstehen, die als „verhaltenssteuernde Gewordenheiten“ (Bach, 1989b, S. 7) zu betrachten sind. Erst wenn diese auf Grund verlässlicher Beobachtung als überwiegend bestimmend für das Auftreten der Störung erkannt worden sind, ist von Verhaltensstörung zu sprechen. Werden Verhaltensweisen jedoch auf Grund situativer Bedingungen oder Beobachtungsfehler als störend eingeschätzt, dann handelt es sich um Pseudoverhaltensstörungen.

In Abgrenzung zu Pseudoverhaltensstörungen und Verhaltensbehinderungen konkretisiert der Autor (1978, S. 22; zitiert nach Benkmann, 1992, S. 21):

Unter einer Verhaltensstörung soll nur verstanden werden ein

- von allgemein erwartetem Regelverhalten (nicht nur von objektiven Anforderungen),
- häufiger (nicht nur einmalig),
- längerfristig (nicht nur über wenige Tage oder Wochen),
- aus der Sicht verschiedener Beobachter (nicht nur nach Meinung einzelner Bezugspersonen), abweichendes Verhalten
- gegenüber anderen Personen und / oder
- gegenüber der eigenen Person und / oder
- gegenüber Sachen
- bewusster oder unbewusster Art,
- mit oder ohne Leidensdruck / Skrupel.

Die Normen, an welchen Verhalten ausgerichtet sein soll, resultieren aus sozialen Prozessen, in welche das Individuum eingebettet ist. An ihnen wird gemessen, ob und in welchem Ausmaß abweichendes Verhalten zu beobachten ist. Durch die Differenzierung sowohl der Begriffe als auch der damit beschriebenen Problemfelder leistet Bach einen wichtigen Beitrag zur Terminologieproblematik. Indem der Autor eine präzise Beschreibung und Abgrenzung der Phänomene Verhaltensstörung und Verhaltensbehinderung vornimmt, impliziert er die Notwendigkeit der Planung unterschiedlicher pädagogische Interventionen (vgl. Benkmann, 1992).

Die Unterscheidung der Begriffe zielt nicht auf die Kategorisierung von Personen, sondern auf die Beschreibung von unterschiedlichen Zuständen, welche wiederum auf spezifische Entstehungsbedingungen zurückzuführen sind. Auf dieser Basis können zur Behandlung von Verhaltensbehinderungen und -störungen „nach Umfang und zeitlicher Ausdehnung unterscheidbare Interventionen, die sowohl individuumszentrierte, auf zeitkonstante Änderungen dispositioneller Gegebenheiten einer Person abzielende als auch bezugsfeldorientierte Hilfen und Fördermaßnahmen“ (Benkmann, 1992, S. 26) entwickelt und eingesetzt werden. Dies heißt aber nicht, dass bei Pseudoverhaltensstörungen keine Maßnahmen angebracht sind. Gerade in diesem Bereich sind Interventionen notwendig, die bei den wichtigen Bezugspersonen des Kindes ansetzen, um eine Sensibilisierung der Wahrnehmung oder eine allfällige Veränderung der Einstellungen zu erreichen und so der Entstehung von Verhaltensstörungen vorzubeugen (vgl. Benkmann, 1992).

2.3 „Besondere erzieherische Hilfe“ als pädagogisch konstruktives Kriterium

Otto Speck (1979) beschäftigt sich mit der Thematik, welche Verhaltensweisen als pädagogisch bedeutsame Störungen gelten. In diesem Zusammenhang haben sowohl der normative Bezugsrahmen als auch die Rolle des Beurteilenden einen wichtigen Stellenwert.

„Wenn im pädagogischen Feld von Verhaltensstörungen die Rede ist, so liegen Verhaltensweisen vor, die pädagogisch so zu beurteilen sind, dass sie das Erreichen des Erziehungszieles erschweren oder gefährden.“ (Speck, 1979, S. 3) Es sind nicht primär motorische oder kognitive Schädigungen für die drohende personale und soziale Desintegration verantwortlich, sondern es sind vielmehr komplexe Störungen der sozialen Interaktion, welche sich auf die Entwicklung des Kindes negativ auswirken und die Erziehung belasten. Der Autor (1979, S. 3) spricht in diesem Zusammenhang auch von „Sozialisationsstörungen“.

Besteht auf Grund problematischen Verhaltens die Gefahr der Nichterreichung von Erziehungszielen, dann ist eine besondere erzieherische Hilfe notwendig, welche als „pädagogisch konstruktives Kriterium für die Zuschreibung von Verhaltensstörungen gilt“ (Speck, 1979, S. 9).

Damit wird auch der Aufgabenbereich der Verhaltensgestörtenpädagogik skizziert, deren Hauptanliegen es ist, den pädagogischen Aspekt der Problematik hervorzuheben. In diesem Zusammenhang wird eine pädagogische Kategorie geschaffen, welche es erlaubt, einen Bezugsrahmen zu bilden, vor dessen Hintergrund Störungen als pädagogisch relevant beurteilt werden können. Als Bezugsgrößen dienen der finale und normative Aspekt des Erziehungsziels. Unter finalem Aspekt erscheint die personale und soziale Integration des Individuums gefährdet. Es ist eine der pädagogischen Aufgaben, dem Kind Hilfestellung im Hinblick auf Identitätsfindung und Entwicklung von Selbstvertrauen zu bieten, um die personale Integration zu erleichtern.

Störungen sind jedoch nicht alleine im Kind begründet, deshalb darf sich die erzieherische Hilfe nicht nur auf personale Integration beschränken. In sozialwissenschaftlichen Ansätzen und Interaktionsmodellen werden Verhaltensstörungen als Störungen der Interaktion, Kommunikation und Kooperation betrachtet. Interaktionsmodelle haben den Vorteil, situative Komponenten stärker in den Mittelpunkt zu rücken und die Situationsabhängigkeit abweichenden Verhaltens im pädagogischen Feld zu berücksichtigen (vgl. Benkmann, 1992). Speck (1979) nimmt Bezug auf die Überlegungen Mollenhauers (1974) zum Thema Erziehungsnormen.

Demnach ist Erziehungshandeln als kommunikatives Handeln zu verstehen, wobei Mollenhauer (1974, S. 42) dazu meint:

’Kommunikatives Handeln’ nennen wir solches Handeln, das seine Zwecke in den daran beteiligten Subjekten selbst hat; das nicht auf Naturbeherrschung direkt aus ist, …sondern Verständigung über Sinn - Orientierungen und Handlungsziele erreichen will. Das pädagogische Handeln ist von dieser Art.

Dieses Erziehungshandeln, welches nach Mollenhauer (1974, S. 41) immer eine „intersubjektive Verständigung“ ist, zielt auf die Integration in ein bestehendes Nomensystem ab. Diese Verständigung kommt jedoch nach Ansicht Specks (1979, S. 5) zwischen Kindern mit Verhaltensstörungen und ihren Interaktionspartnern nicht oder nur unzureichend zustande.

Hier gewinnt der normative Aspekt des Erziehungsziels an Bedeutung. Pädagogen oder Erzieher haben mit Kindern zu tun, die „sich an pädagogisch definierte, also gültige Regeln oder Normen nicht halten, von ihnen abweichen, sie verletzen.“ (Speck, 1979, S. 7)

Es stellt sich die Frage, wann eine solche Abweichung vorliegt, denn nicht jedes problematische Einzelverhalten stellt eine Verhaltensstörung dar. Goffman (1974, S. 61; zitiert nach Speck, 1979, S. 7) beschreibt den Sachverhalt so: „Verhaltensgestört ist, wer als verhaltensgestört bezeichnet wird.“ Diese Aussage greift das Problem der Subjektivität auf. Zuschreibungen hängen in starkem Maße von beurteilenden Instanzen und deren subjektiven Urteilen ab. Untersuchungen zeigen, dass es in der pädagogischen Praxis gravierende Unterschiede gibt, wenn verschiedene Fachleute beurteilen sollen, ob ein Kind Verhaltensstörungen hat oder nicht.

Um voreilige Zuschreibungen zu vermeiden, soll ein gewisser Spielraum, eine „Toleranzbreite“ (Speck, 1979, S. 7) berücksichtigt werden. Dadurch soll verhindert werden, dass ein Kind vorschnell mit dem Etikett Problemschüler versehen wird. Gleichzeitig bietet dieser Spielraum Pädagogen und Erziehern die Möglichkeit, ihre eigene Erträglichkeitsschwelle festzulegen und sich so vor unzumutbaren Verhaltensweisen zu schützen.

Das Überschreiten der Erträglichkeitsschwelle ist ein wichtiges Kriterium für das Vorliegen von Verhaltensstörungen und für die Notwendigkeit besonderer pädagogischer Hilfe. Speck konkretisiert (1979, S. 8):

Verhaltensstörungen oder Erziehungsschwierigkeiten liegen dann vor, wenn die von einer - pädagogischen - Beurteilungsinstanz ausgemachte Abweichung vom Regelverhalten im Erziehungsprozess derart gravierend ist, dass sie eine besondere erzieherische Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen erforderlich macht, um soziale Desintegration abzuwenden und soziale Integration zu ermöglichen.

Im Hinblick auf die Beurteilung und Diagnostik von Verhaltensstörungen betont der Autor die Wichtigkeit der Prüfung subjektiver Urteile und Sanktionen. Devianzurteile müssen intersubjektiv überprüfbar sein und im Expertenteam erfolgen: „Praktizierte soziale und pädagogische Kontrolle bedarf ihrerseits der Kontrolle und Überprüfung, gewissermaßen einer pädagogischen Berufungsinstanz.“ (Speck, 1979, S. 7)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch den Begriff der pädagogischen Kategorie ein „Bezugssystem existentieller und gesellschaftlicher Verantwortung für die Persönlichkeit des in Schwierigkeiten geratenen, des gefährdeten Menschen“ (Speck, 1979, S. 10) geschaffen wird, in welchem die Überprüfbarkeit sowohl pädagogischer Maßnahmen als auch der Handlungsnormen möglich wird. Besonders betont wird die Interaktionalität der Erziehung. Die Betonung der sozialen Interaktion zwischen Schüler und Lehrer impliziert eine Abwendung von der Einseitigkeit sowohl des erzieherischen Umgangs als auch der Beziehungsgestaltung zwischen Erwachsenem und Kind.

Selbstbestimmung und Aktivität des Individuums - zwei Faktoren, die in der Heilund Sonderpädagogik einen wichtigen Stellenwert haben, treten in der Arbeit mit Kindern mit Verhaltensstörungen in den Vordergrund.

Diese Überlegungen werden im nächsten Kapitel, welches die Rolle der Heil- und Sonderpädagogik bei Verhaltensstörungen thematisiert, fortgeführt.

3. Die Rolle der Heil- und Sonderpädagogik in der pädagogischen Förderung von Kindern mit Verhaltensstörungen

3.1 Der ökosystemische Ansatz in der Heil- und Sonderpädagogik

3.1.1 Paradigmenwechsel

Die Entwicklung innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik ist gekennzeichnet von einen Wandel vom Behinderungsparadigma zu einem heilpädagogisch - ökologischen Paradigma (vgl. Speck, 1996).

Speck (1996) gibt einen Überblick über die Diskussionen hinsichtlich des Behinderungsbegriffes bzw. -paradigmas und deren Unzulänglichkeiten. Obwohl die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und kontroversen Standpunkte hier nicht näher analysiert werden, kann festgestellt werden, dass der Behinderungsbegriff aus folgenden Gründen sowohl als Leit- als auch als Differenzierungsbegriff nicht geeignet ist:

- Durch die Fixierung auf den Behinderungsbegriff wird die Schädigung des Individuums in den Mittelpunkt gerückt. Pädagogische und erzieherische Maßnahmen sollen sich jedoch nicht an der Schädigung oder an Defiziten orientieren, sondern die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in den Mittelpunkt rücken.

- Aus pädagogischer Sicht bleibt unklar, welche erzieherischen Maßnahmen erforderlich sind, um das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen.

- Eine klare Abgrenzung zwischen Behinderung und Nichtbehinderung ist kaum möglich. Das Phänomen der Störung lässt sich nicht eindeutig beschreiben wie z.B. eine medizinische Krankheit. Der Behinderungsbegriff ist relativ, d.h. er lässt sich ohne den jeweiligen sozialen Kontext, in den der Mensch eingebettet ist und vor dessen Hintergrund er seine Behinderung erlebt, nicht bestimmen. Das Zusammenwirken gesellschaftlicher, sozialer und persönlicher Bedingungen ist bestimmend dafür, wie Behindert sein erlebt und wie in der jeweiligen Gesellschaft damit umgegangen wird. Diese Überlegungen werden auch in der Pädagogik wirksam. Erziehung orientiert sich nicht primär an der Störung, sondern im Mittelpunkt stehen die Gesamtbefindlichkeit und notwendige Maßnahmen zur Umorganisation des Verhaltens. In diesem Zusammenhang soll das Kind als Subjekt mitsamt seiner Lebenswelt einen zentralen Stellenwert erhalten.

Speck (1996, S. 266) bezeichnet den Behinderungsbegriff „für pädagogische Zwecke einerseits als unergiebig (als Differenzierungsbegriff) und andererseits als ungeeignet als Leitbegriff. Behinderung orientiert sich nicht primär am Fehlenden und Behinderten sondern an ihren immanenten Möglichkeiten im Menschen und seiner Lebenswelt.“

Der Übergang zu einem heilpädagogisch - ökologischen Paradigma vollzog sich vor dem Hintergrund einiger wesentlicher Markierungspunkte, die Speck (1994) beschreibt.

Einen wesentlichen Beitrag leistete die Integrationsbewegung, welche als Ziel die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Kindern mit und ohne Störungen in den Mittelpunkt rückte. Speck (1994, S. 19) bezeichnet den Begriff Integration als ökologischen, welcher „die Zusammengehörigkeit als Überwindung von Getrenntheit und Isolation“ beinhaltet und Ganzheitlichkeit impliziert. Aus diesem Grund muss sich auch pädagogische Hilfe und Förderung an den Lebenszusammenhängen des Kindes orientieren. Indem die Lebens- und Lernwelt miteinbezogen wird, werden diese als pädagogische Kriterien ebenso wichtig wie die spezielle Lernförderung. Das heißt, dass schulische Sondereinrichtungen nicht für jedes Kind die optimale Lösung sind, sondern dass eine Differenzierung nach individuellen und sozialen Bedingungen erforderlich ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die zunehmende Vielfalt und Ungleichheit der Werte- und Normensysteme. Gesellschaftliche Entwicklungen sind geprägt von Tendenzen zur „Individualisierung“ (Beck, 1986, S. 205), wobei die Lebensläufe von Individuen zunehmend aus ihren traditionellen und vorgegebenen Lebenslagen herausgelöst werden und Menschen versuchen, ihre eigenen Werte und Normen zu verwirklichen. Die daraus resultierende Disparität wirkt sich auf die Erziehungssituation aus, indem neue Anforderungen an die Heil- und Sonderpädagogik gestellt werden. Es geht darum, Kompetenzen zu vermitteln, um das Leben in einer Gesellschaft mit vielfältigen und sich verändernden Normen und Werten zu erleichtern und die Fähigkeit zu entwickeln, sich auf neue Lebenszusammenhänge einstellen zu können (vgl. Speck, 1994). Als wichtige Komponenten des heilpädagogisch - ökologischen Paradigmas beschreibt Speck (1996, S. 266-267) folgende:

- Ein Aspekt ist die Beachtung der verschiedenen Lebenswelten, wobei hier die Bedeutung sozialer Netzwerke, Kooperation und Verbindung zu den Eltern als wesentliche Elemente genannt werden.
- Wesentlich ist die Orientierung an der Erziehung an sich, am pädagogisch
Notwendigen, wobei sowohl die personale und soziale Integration als auch die Ganzheitlichkeit unter Berücksichtigung der Vielfältigkeit von Lebensformen und -welten einen zentralen Stellenwert haben.
- Notwendig ist eine spezialisierte Pädagogik, welche durch spezielle Erziehungsbedürfnisse und -erfordernisse legitimiert wird.
- Die Achtung der Menschenwürde und die Integrierung des Handlungsansatzes in ein Wertsystem reflektieren die ethische Dimension.

3.1.2 Theoretische Grundlagen - ein Überblick

3.1.2.1 Ökologisch und systemisch - Anmerkungen zur Begrifflichkeit

Der Begriff „systemisch“ entstammt der Systemtheorie und wird im Allgemeinen verwendet, um eine Einheit (ein Individuum, eine Gruppe, etc.) „sowohl als ein System eigener Organisiertheit und eigener Intentionalität als auch unter dem Aspekt seiner spezifischen Umwelt zu sehen, mit der es kommuniziert und damit in Wechselwirkung steht.“ (Speck, 1994, S. 13)

Das griechische Wort „oikos“, von dem der Begriff „ökologisch“ abgeleitet wird, lässt sich mit „Heimisch - Werden“ oder „Behaust - Sein“ übersetzen. Das Ökologische beinhaltet eine normative Dimension. Er drückt etwas Gerichtetes und Programmatisches aus und eignet sich daher für den pädagogischen Handlungsaspekt, da der Erziehungsprozess ein normativer Prozess ist. Beide Begriffe ergänzen einander, wobei das Systemische ein funktioneller Begriff ist, mit dessen Hilfe Zustände beschrieben werden können, während das Ökologische als normativer Begriff das Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen eines jeden Menschen sowie die Beachtung seiner Einheit, Ganzheit und Autonomie beinhaltet (vgl. Speck, 1996).

Speck (1994, S. 13) betont neben den erwähnten Unterschieden eine wichtige Gemeinsamkeit, indem beide Begriffe das Verhältnis einer Teileinheit zu einem größeren Ganzen beschreiben. Dies bedeutet, dass das Einzelne nicht ohne seine Zusammenhänge gesehen werden kann.

Die Wortkonstruktionen „ökosystemisch“ oder „systemisch - ökologisch“ verdeutlichen die Verbindung der beiden Dimensionen.

3.1.2.2 Ökologische und systemische Theorieansätze in der Heil- und Sonderpädagogik - ausgewählte Aspekte

In seinem Überblick ausgewählter Theorieansätze beabsichtigt Speck (1994) zu beschreiben, was unter einem ökosystemischen Ansatz in der Heilpädagogik zu verstehen ist. Er greift zum einen den wissenschaftstheoretischen Ansatz auf, in dessen Zentrum das Ganzheitsprinzip steht. Zum anderen werden sowohl der entwicklungspsychologische Ansatz Urie Bronfenbrenners (1981) als auch Aspekte der systemischen Familientherapie dargestellt. Schließlich gibt er einen Überblick über wichtige Erkenntnisse der allgemeinen Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1987) sowie eine Darstellung ökologischer Zusammenhänge aus biologischer Sicht auf Basis der Arbeiten von Humberto Maturana und Francisco Varela (1987).

Im Folgenden sollen einige ausgewählte Aspekte der oben genannten Theorieansätze aufgegriffen werden, welche in der Heil- und Sonderpädagogik und hier speziell bei der pädagogischen Förderung eine Rolle spielen.

3.1.2.2.1 Der Mensch als autonomes System

Maturana und Varela (1987) gehen davon aus, dass jedes Lebewesen eine autonome Einheit darstellt, deren Kennzeichen sowohl Geschlossenheit als auch Autonomie sind. Der Mensch ist von Natur aus darauf angelegt, sich selbst zu organisieren. Diese Prozesse der Selbsttätigkeit zum Zwecke der Selbsterzeugung werden als Autopoiese bezeichnet.

Es ist ein wesentliches Merkmal, dass Veränderungen in der Struktur von Systemen nicht kausal von Einflüssen der Umwelt verursacht, sondern immer durch eigenaktive Prozesse gesteuert und durch die eigene Struktur bestimmt werden. Strukturveränderungen beim Individuum werden durch sein Nervensystem gesteuert. Ein Lebewesen ist auf Grund seiner Struktur in der Lage, seine Autonomie zu verwirklichen und sich durch Interaktionen mit seiner Umwelt weiter zu entwickeln. Durch diese Strukturkoppelung (Koontogenese) ist der Mensch mit anderen Mitgliedern einer sozialen Einheit verbunden. Seine Eigenentwicklung (Ontogenese) kann er nur als Teil eines Netzwerkes von Koontogenesen verwirklichen, welches diese selbst hervorbringen. Die Autonomie bleibt erhalten, indem der Mensch selber bestimmt, welche Einflüsse aus der Umwelt zu Auslösern struktureller Veränderungen werden mit dem Ergebnis, dass der Mensch kein bloßes Produkt sozialer Einflüsse ist (vgl. Speck, 1989).

Auf Grund dieser Erkenntnisse ist es nicht möglich, als Erwachsener von außen auf ein Kind einzuwirken, um z. B. dessen Verhalten zu ändern. Verhalten kann nur nachvollzogen werden, wenn der Mensch als Ganzes mit seinen ihm wichtigen Beziehungen betrachtet wird. Dabei muss berücksichtigt werden, dass in der Beziehung zu anderen immer eigene Konstruktionen enthalten sind, wie das Individuum diese Beziehungen wahrnimmt (vgl. Gerspach, 2000). Grundsätzlich ist es jedoch die Autonomie, welche als zentrale Steuerungsinstanz gegenüber sozialen oder erzieherischen Einwirkungen von außen wirksam wird (Speck, 1994, S. 52).

Für die Pädagogik hat diese Erkenntnis weit reichende Folgen: „Der Pädagoge stellt nicht Erziehung im anderen her, beide entwickeln ein Gemeinsames. Folglich bringt jeder Akt des Erkennens eine eigene Welt hervor.“ (Gerspach, 2000, S. 171) Es ist eine wichtige Einsicht des Konstruktivismus, dass die Wirklichkeit nicht objektiv abgebildet werden kann. Erkennen ist subjektiv bedingt mit der Folge, dass jedes Individuum seine eigene Wirklichkeit hervorbringt. Die Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit des Individuums und seinen Mitmenschen erfolgt über die Sprache (vgl. Speck, 1994).

Gerspach (2000, S. 172) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Pädagoge mit seiner Art von Wahrnehmung und Interaktion die Wirklichkeit mitgestaltet. So kann das Verhalten eines Kindes erst innerhalb des gemeinsamen Bezugsrahmens als störend wahrgenommen werden, weil es dem Lehrer als besonders beobachtenswert erscheint. Welche Unterscheidung der Beobachter trifft und welche Zuschreibungen von Sinn und Wert er macht, hängt von seinem Standpunkt, seinen Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen ab. Somit ist es schwierig zu beurteilen, wann eine Verhaltensstörung vorliegt oder nicht.

3.1.2.2.2 Der Lebenswelt - Aspekt

Bronfenbrenner (1981) analysiert die Bedeutung der verschiedenen Umwelten, in welche das Individuum eingebettet ist, für den Verlauf der menschlichen Entwicklung.

Der Autor (1981, S. 19) beschreibt Entwicklung als „dauerhafte Veränderung der Art und Weise, wie die Person die Umwelt wahrnimmt und sich mit ihr auseinander setzt.“ bzw. „als die Entfaltung der Vorstellung der Person über ihre Umwelt und ihr Verhältnis zu dieser, als ihre wachsende Fähigkeit, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu entdecken, zu erhalten oder zu ändern.“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 25) Basierend auf den Erkenntnissen von Jean Piaget in dessen Werk „Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde“ (1973) geht Bronfenbrenner der Frage nach, wie sich die wahrgenommene Realität im Bewusstsein des Kindes im Zuge seiner aktiven Auseinandersetzung mit seiner physikalischen und sozialen Umwelt entwickelt. Charakteristisch ist, dass diese Entwicklung aus der aktiven Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt hervorgeht. Der Mensch ist nicht bloßes Produkt von externen oder internen Entwicklungsfaktoren, sondern er ist aktiv und auf seine eigene Weise an der eigenen Entwicklung beteiligt, nimmt Einfluss auf seine Umwelt und steht mit dieser in ständiger Wechselwirkung.

Die Umwelt beschreibt Bronfenbrenner (1981, S. 19) als „einen Satz ineinander geschachtelter Strukturen“, wobei die erste Ebene jene Bereiche darstellt, welche die sich entwickelnde Person direkt umgeben (z.B. die Familie, die Schulklasse, die Freundesgruppe). In diesen Lebensbereichen erlebt das Kind direkte Interaktionen mit anderen. Ebenso wichtig sind die Beziehungen und Verbindungen zwischen den anderen, im Lebensbereich anwesenden Personen, die „Art dieser Verbindungen und der Einfluss, den sie über direkte Kontaktpersonen auf die sich entwickelnde Person ausüben. Die Gesamtheit aller dieser Wechselbeziehungen nennen wir das Mikrosystem.“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 23)

Es gibt auch Verbindungen zwischen den einzelnen Lebensbereichen, welche für die Entwicklung des Kindes ebenso wichtig sind wie Ereignisse in einem bestimmten Lebensbereich. Als Beispiel führt der Autor (1981, S. 19) an: „Die Fähigkeit eines Kindes, das Lesen zu erlernen, kann von Existenz und Art der Beziehung zwischen Schule und Elternhaus ebenso abhängig sein wie von der Lehrmethode.“ Das System von Mikrosystemen und ihre wechselseitige Verbundenheit werden vom Autor (1981, S. 41) als Mesosystem bezeichnet und so definiert: „Ein Mesosystem umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind etwa die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis).“ Besonders wichtig sind die „ökologischen Übergänge“, die stattfinden, wenn „eine Person ihre Position in der ökologisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer Rolle, ihres Lebensbereichs oder beider verändert.“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 43)

Solche Übergänge (z. B. Schuleintritt, Einstieg ins Berufleben, Pensionierung) finden ein ganzes Leben lang statt und sind für die Entwicklung von großer Bedeutung. Treten Erwachsene oder Kinder in einen neuen Lebensbereich ein - vollziehen sie also einen ökologischen Übergang - so entsteht ein Mesosystem (Huschke - Rhein, 1992, S. 26).

Schließlich gibt es Lebensbereiche, welche die Entwicklung beeinflussen, ohne dass das Kind direkt an diesen Bereichen beteiligt ist. Zu diesem als „Exosystem“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 24) bezeichneten Bereich zählen beispielsweise die berufliche Situation der Eltern oder die Schulklasse von Geschwistern.

Ebenso wie bei Exosystemen ist das Kind auch an Makrosystemen nicht unmittelbar beteiligt. Dennoch können diese übergreifenden sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhänge auf die genannten drei Systeme indirekt einwirken. Als Beispiele seien sozio - ökonomische Bedingungen oder kulturelle Traditionen genannt. Durch die Unterscheidung von direkt (Mikro- und Mesosystem) und indirekt (Exo- und Makrosystem) wirkenden Systemen als Entwicklungskontexte des Kindes wird die systemische Komplexität dieser verschiedenen Umwelten zum Ausdruck gebracht (vgl. Speck, 1994).

Dies ist pädagogisch bedeutsam, da der Blick geöffnet wird für die systemischen Zusammenhänge, von denen die Entwicklungsförderung des Kindes abhängt: „Kind und Umwelt sind als ein komplex strukturiertes Wechselwirkungsgef ü ge zu sehen. Teile oder Einzelhaftes, wie z. B. spezielle Funktionsstörungen eines Kindes, lassen sich nur dann hinreichend erklären und verstehen, wenn sie in den Zusammenhängen gesehen und eingesetzt werden, in denen das Kind steht, und wie es diese erlebt.“ (Speck, 1994, S. 26)

In diesem Zusammenhang soll auf die besondere Bedeutung der Mesosysteme eingegangen werden, wobei die Bildung unterstützender Verbindungen bei der Entwicklungsförderung durch die Kooperation von Systemen einen wichtigen Stellenwert hat (vgl. Speck, 1994).

Einen bedeutenden Systemverbund stellen die Systeme Schule und Elternhaus dar. Aus systemischer Sicht muss das Kind als ein in diese beiden Systeme eingebundenes Individuum betrachtet werden. Um das Kind und sein Verhalten verstehen zu können, ist es notwendig, beide Systeme und die darin wirkenden Interdependenzen und wechselseitigen Beziehungen in den Blick zu nehmen. Außerdem müssen beide Systeme füreinander offen sein (vgl. Hennig & Knödler, 1995).

Speck (1996, S. 491) spricht von einer partnerhaften Zusammenarbeit, in deren Zentrum die Orientierung an einer gemeinsamen Aufgabe steht und worunter die Ergänzung unterschiedlicher Sichtweisen verstanden wird. Als Voraussetzung einer solchen sich gegenseitig ergänzenden Funktion gilt die Bereitschaft, offen aufeinander zuzugehen, sich in den anderen einzufühlen und ihn zu verstehen.

Ein solches Vorhaben kann Probleme aufwerfen, die sich, wie in Kapitel 4 erläutert wird, auch auf die pädagogische Beratung negativ auswirken können. Es besteht die Gefahr, dass sich der Pädagoge als Fachmann den Eltern überlegen fühlt. Möglicherweise misst er den Eltern und deren Theorien über die Befindlichkeit ihres Kindes zu wenig Bedeutung zu. Dabei wird übersehen, dass Eltern ihr Kind und dessen Wirklichkeit besser kennen sollten.

Auch in normativer Hinsicht können Schwierigkeiten auftreten. Lehrer neigen dazu, das Verhalten des Kindes und die Eltern aus dem Blickwinkel der Schulnormen zu beurteilen. Aus dieser Sicht kann das Kind Anforderungen nicht erfüllen oder verhält sich störend. Eltern sehen die Situation ihres Kindes anders. Sie gehen möglicherweise davon aus, dass der Pädagoge ihr Kind nicht richtig versteht oder sein Verhalten falsch beurteilt (vgl. Speck, 1996).

In diesem Sinne wird pädagogische Hilfe für das Kind und dessen Eltern nicht durch bloße Anleitungen oder durch Versuche einseitiger Einwirkungen der Schule auf das Elternhaus wirksam. Verhaltensänderungen sind nur so weit möglich, als „diese externe Intention internen Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht, d. h. in das eigene Konzept, in die eigene Wirklichkeit integriert werden kann.“ (Speck, 1996, S. 493)

Gefragt ist die Kooperation zwischen Systemen und aus pädagogischer Sicht die Bildung unterstützender Verbindungen. Aus heilpädagogischer Sicht geht es einerseits um die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie und andererseits um die Zusammenarbeit zwischen Schule und pädagogischen Fachdiensten (vgl. Speck, 1994).

Die Idee der Mesosysteme bietet nach Speck (1996) eine Erklärungsmöglichkeit, wie eine partnerhafte, entwicklungsfördernde Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus zustande kommen kann. Er greift dabei auf folgende Hypothesen Bronfenbrenners zurück.

Das entwicklungsfördernde Potential von Lebensbereichen in einem Mesosystem wird gesteigert, wenn die Rollen, Tätigkeiten und Dyaden, die die verbindende Person in beiden Lebensbereichen aufnimmt, gegenseitiges Vertrauen, positive Orientierung und Zielübereinstimmung in den Lebensbereichen fördern und Kräfteverhältnisse entstehen lassen, die sich zugunsten der sich entwickelnden Person auswirken. Eine ergänzende Verbindung, die diese Bedingungen erfüllt, bezeichnen wir als unterstützende Verbindung….Das entwicklungsfördernde Potential eines Lebensbereichs wächst mit der Anzahl der unterstützenden Verbindungen zu anderen Lebensbereichen (wie beispielsweise zu Haushalt und Familie). Die Entwicklungsbedingungen sind also am ungünstigsten, wenn nur nichtunterstützende ergänzende Verbindungen bestehen oder sogar diese fehlen - wenn das Mesosystem schwach verbunden ist (Bronfenbrenner, 1981, S. 205).

Wie das entwicklungsfördernde Potential eines Mesosystems vergrößert werden kann, führt der Autor in weiteren Thesen an. Das Potential wird in dem Maß gesteigert, in dem zwischen den Lebensbereichen indirekte Verbindungen bestehen, die gegenseitiges Vertrauen, positive Orientierung und Zielübereinstimmung fördern und Kräfteverhältnisse entstehen lassen, die durch Handlungen im Sinne der sich entwickelnden Person beeinflusst werden können….Das entwicklungsfördernde Potential von Lebensbereichen ist umso größer, je persönlicher die Kommunikation zwischen ihnen ist (Bronfenbrenner, 1981, S. 207).

Für die Entwicklung des Kindes ist es förderlich, wenn die Kommunikation zwischen den wichtigen Lebensbereichen mühelos und offen verläuft und wenn es zu gemeinsamen Tätigkeiten kommt (vgl. Speck, 1996).

Bronfenbrenner (1981) thematisiert auch die negativen Folgen, die durch das Nichtzustandekommen unterstützender Verbindungen auftreten. Durch die Aufspaltung und Verselbstständigung der verschiedenen Lebensbereiche (Familie, Schule, Freunde, etc.) sind Entfremdungen von Kindern und Jugendlichen gegenüber ihrer Umwelt zu beobachten, welche mit destruktiven Folgen für die Entwicklung verbunden sein können.

Im Rahmen seiner Kritik am ökologischen Entwicklungsmodell Bronfenbrenners spricht Speck (1994) davon, dass der Aspekt der Autonomie des Individuums in den Hintergrund tritt. Stattdessen dominiert der Umwelt - Aspekt.

Die Bedeutung der Autonomie tritt lediglich in den Grundbedingungen hervor, indem Bronfenbrenner (1981, S. 20) anführt, „dass die Umwelt für Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, wie sie wahrgenommen wird und nicht, wie sie in der ‚objektiven’ Realität sein könnte.“

Abgesehen von diesem Aspekt wird das autonome Agieren des Individuums hinsichtlich seines Stellenwerts hinter jenen der Umwelt gereiht.

3.1.3 Chancen und Grenzen des Ansatzes

In seinem zusammenfassenden Überblick über Chancen und Grenzen des ökologischen Ansatzes weist Speck (1994) darauf hin, dass Erkenntnisse dieses Ansatzes sowohl in Theorie als auch Praxis der Heil- und Sonderpädagogik eine große Bedeutung erlangt haben.

Im Mittelpunkt steht eine neue Sichtweise von Tatsachen und Zusammenhängen, die sich dadurch auszeichnet, dass über Einzelphänomene (einzelne Schädigungen, Kinder, Maßnahmen, Institutionen, Umweltfaktoren, Theorien) hinaus heilpädagogisch bedeutsame Zusammenhänge (gegenseitige Abhängigkeiten, zirkulare Kausalität, soziale Koppelung, Vernetzung) gesehen werden. In diesem Zusammenhang steht die Frage im Mittelpunkt, wie es zu Veränderungen eines Systems kommen kann. Diese Veränderungen beziehen sich bei der heilpädagogischen Förderung vor allem darauf, wie es z. B. zu Entwicklungsfortschritten des Kindes, einer besseren sozialen Akzeptanz durch seine Umwelt oder zur Verbesserung heilpädagogischer Institutionen kommen kann. Damit ist die Einsicht verbunden, dass die Autonomie eines Individuums als wesentliche Steuerungsinstanz gegenüber Einwirkungen von außen wirksam wird (Speck, 1994, S. 52).

An diesem Punkt wird aus pädagogischer Sicht die Frage der Werte und Ideen, die in Bildung und Erziehung einen Orientierungsrahmen für den sich entwickelnden Menschen darstellen sollen, wichtig. Die bloße Frage nach der Funktion des Systems gegenüber seiner Umwelt ist unzureichend:

In der Erziehung und Bildung geht es nicht nur um Beziehungen, sondern auch um Gehalte, z. B. um Werte oder Ideen, an denen sich der heranwachsende Mensch orientiert. Es kann zwar kein Zweifel bestehen, dass z. B. die Entwicklungsfortschritte eines geschädigten Kindes oder die sozialen Einstellungen innerhalb der Lebenswelt behinderter Menschen stets von der Selbstreferenz abhängen, aber es ist ebenso pädagogisch eindeutig, dass bei derartigen Veränderungen auch inhaltliche (essentielle) Bezugs- und Orientierungsgrößen im Spiel sind. Zu denken wäre z. B. in der Erzieher - Kind - Beziehung an Wertgehalte wie Liebe, Zuverlässigkeit, Geborgenheit, Verantwortung, Echtheit, Menschenwürde, Achtung, Mitgefühl, Moral, u. a. (Speck, 1994, S. 52).

Speck (1994, S. 52) meint weiter, dass rein funktionale Systemtheorien für die Pädagogik unzureichend sind, weil menschliches Zusammenleben mehr ist als ein funktionalistisches Spiel zirkulär wirkender Kausalitäten, bei dem es nur darauf ankommt, dass das eigene System die Umwelt nur so weit einbezieht, als sie Gesichtspunkten des Eigeninteresses und der Eigenfunktion entspricht. Erziehung hat darüber hinaus auch Inhalte (Werte, Eigentlichkeiten) und Wahrheiten zu vermitteln, auf die sich die vielen Einzelnen gemeinsam stützen können, um bestimmen zu können, was in einem eigentlichen Sinne das jeweils Wertvollere sei….In der Erziehung müsste u. a. auch Selbstlosigkeit einen Sinn haben. Sie wäre im Grunde der direkte Bezug auf ein alles übergreifendes Sinn - System, in dem der einzelne aufgeht.

Daraus wird deutlich, dass mit dem Heranziehen von wertneutralen Theorien, wie es weitgehend jene von Maturana und Varela (1987) und Luhmann (1987) sind, die Grenzen des Ansatzes für die Pädagogik aufgezeigt werden (vgl. Speck, 1994). Systemtheoretische Einsichten können zwar dazu dienen, um Wechselwirkungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen und daraus hervorgehende Veränderungen zu erklären, hinzutreten muss jedoch die inhaltliche Deutung und Erschließung der Welt. Der Bezug auf Wertsysteme ist pädagogisch konstitutiv. Da der Mensch als wahrnehmender und erkennender permanent wertet, braucht er entsprechende Wertsysteme mit ihren Begriffen und Zusammenhängen. Erziehung hat sie zu vermitteln. Ohne sie wäre Erziehung blind (Speck, 1994, S. 54).

[...]

Fin de l'extrait de 118 pages

Résumé des informations

Titre
Die Rolle der pädagogischen Beratung als Teilaufgabe pädagogischer Förderung im Kontext von Verhaltensstörungen
Université
University of Hagen  (Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften)
Note
2,3
Auteur
Année
2006
Pages
118
N° de catalogue
V86421
ISBN (ebook)
9783638003674
ISBN (Livre)
9783640930289
Taille d'un fichier
754 KB
Langue
allemand
Mots clés
Rolle, Pädagogischen, Beratung, Teilaufgabe, Förderung, Kontext, Verhaltensstörungen
Citation du texte
Mag.art. Sibylle Essl (Auteur), 2006, Die Rolle der pädagogischen Beratung als Teilaufgabe pädagogischer Förderung im Kontext von Verhaltensstörungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86421

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