Die bulgarische Postavantgarde der 60-er Jahre

Atanas Daltschev


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.EINLEITUNG
1.1. Die Dichtung von Dalčev - eine neue Erscheinung im bulgarischen Literaturprozess.

2. DER ERSTE GEDICHTSBAND „PROZOREC“.

3. DAS SEHEN.

4. DIE WELT DER GEGENSTÄNDE

5. DAS LYRISCHE SUBJEKT BEI DALČEV

6. SCHWEIGEN, VERFREMDUNG UND AUßENSEITERLICHKEIT.

7. DIE STIMME UND DAS VERSTUMMEN.

8. DIE FUNKTION DES BUCHS

9. DIE TÜREN BEI DALČEV

10. DAS FENSTER IN DEN WERKEN VON DALČEV

11. „ýOWEKĂT BE SĂTWOREN OT KAL“ .

12. DIE WELT DER KINDHEIT

13. DIE ÜBERSCHREITUNG DER GRENZE.

14. DAS GEDICHT „KNIGITE“ UND DIE TRAURIGKEIT.

15. DASEIN - NICHTDASEIN

16. ZEICHEN DES ABSOLUTEN ZERFALLS.

17. FAZIT UND SCHLUSSWORT

1.Einleitung

Es ist kaum möglich Poesie einseitig zu lesen und zu interpretieren, ohne eine Reihe von schwierigen Fragen und semantischen Zweideutigkeiten zu provozieren. Noch weniger anwendbar wäre der eindeutige Zugang zu der poetischen Sprache von Atanas Dalþev. Das philosophische Potential dieser Sprache erlaubt keine verklemmten Antworten und Zugehörigkeit in die üblichen Denkpraktiken. Mit jeder erneuten Lesung ergänzt sich mein Blickpunkt zu dieser Poesie, so als ob er in der „Spiegelwelt“ von Dalþev kristallisiert, die von gegensätzlichen Werten und sich gegenseitig wiederspiegelnden Eigenschaften besteht. In die Visionen der reinen Gegenständlichkeit oder der modernen existentiellen Ideen eingesponnen, für die grobe, barbarische Sprache oder der Erschaffung eines neuen symbolischen Models, konstruiert die Poesie von Dalþev die Entstehung einer neuen Weltanschauung. Die radikale Beständigkeit, in der der Poet in seinem Anderssein besteht, gibt uns die Möglichkeit über eine andere Position in den globalen Fragen des menschlichen Daseins in der Welt, über die Einsamkeit und über den Lauf des Lebens nachzudenken.

1.1. Die Dichtung von Dalčev - eine neue Erscheinung im bulgarischen Literaturprozess.

Zweifellos ist die Dichtung von Dalþev eine neue Erscheinung im bulgarischen Literaturprozess. Sie hat ästhetische, philosophische, sowie soziale Gründe. Die ästhetische Veränderung von der ersten Hälfte der 20 Jahre des vorigen Jh. charakterisiert sich mit Mehraspektischen und schwierigen gegenseitiger Beeinflussung zwischen dem schon aussterbenden Symbolismus und den anfänglichen antisymbolistischen Strömungen. Auf dem Prinzip der Abschiebung der Tradition und unvermeidlichen Vererbung, formiert sich ein völlig unterschiedliches poetisches Modell, mit einer neuen Darstellung und einem neuem Arsenal in den künstlerischen Mitteln. Es transformiert die alten Sichtweisen und die Beziehungen zum Verlauf des Daseins, situiert den Menschen in der Welt auf eine unbekannte Weise, gibt neue Paradigmen für die Feststellung der menschlichen Identität vor.

Das Werk von Dalþev ist eine der ersten post- und antisymbolistischen Erscheinungen in der bulgarischen Literatur. Seine erste Gedichte veröffentlichte Dalþev als Mitglied des literarischen Kreises „Strelec“ in Sofia, der sich für eine europäisch geprägte, nationale Kultur einsetzte. Mit anderen Dichterkollegen verwarf auch Dalþev zu dieser Zeit den Symbolismus, den er eine „tote Poesie“ nannte, „aber nicht zugunsten der Politisierung der Dichtung, sondern im Namen einer neuen Ästhetik, die das Mystische und Abstrakte ablehnte und den Realitäten des Lebens Rechnung tragen sollte, anderseits aber keineswegs weniger hohe künstlerische Forderungen stellte“ (Ch. Ognjanof). Dalþevs Gesamtwerk zählt nicht viel mehr als hundert Gedichte.

2. Der erste Gedichtsband „Prozorec“.

Schon in seinem ersten Gedichtsband „Prozorec“ (Fenster) aus dem Jahre 1926, zeichnet er „die Abwendung von den symbolistischen Schemen der Auswirkung, von der abstrakten Mehrdeutigkeit und dem juwelirren Typ der Ausdrucksweise“1. Den Dichter trennt und verbindet zugleich das „Fenster“ von und mit der Welt, die er, eingeschlossen hinter Wänden und Türen, beobachtet und erlebt. Aus der Position des Postsymbolisten verwirft Dalþev den introvertierten Blick der Symbolisten in die eigenen Seele. Seine Poesie lehnt die tiefe Psychologisierung und metaphysische Nachdenklichkeit über die Welt, die Liebe und die Verdammnis ab. Dalþev hat sich von den mystisch-verschwommenen Vorstellungen des Symbolismus, dessen abstrakter Poesie und metaphysischen Visionen freigemacht und wendet sich dem Gegenständlichen, dem Realen, dem Unpathetischen zu. Der Blick des Poeten ist auf das Alltägliche und Materielle gerichtet, zu der früher nicht beliebten Welt der Sachen, zu den hinter den Rücken geratenen Gefühlen der Sinne. Dalþev erkennt in dem Symbolismus ein von Verbrauch ausgetrocknetes poetisches System, mit aufgebrauchter emotionaler und philosophischer Ladung, abstrakte Unzugänglichkeit und verkrusteter künstlerische Darstellung. Der Typ der symbolischen Reflexion der Welt ist künstlich und unzulänglich für ihn, folglich unterliegt er Korrekturen, Erneuerung und Verwerfung. An seiner Stelle schlägt Dalþev eine neue künstlerische Struktur vor, eng mit den Sachen und dem Alltag verbunden. Dies ist die Welt der monotonen Einsamkeit des Menschen und der schrecklichen Vergangenheit des Lebens. Die neue Weltanschauung zwingt zur Neuem in der Technik der künstlerischen Mittel. Die antisymbolistische Poesie befreit sich von den feinen sprachlichen Konstruktionen, von dem glatten Rhythmus, von den sich fest durchgesetzten lexikalischen Stampen und der Lyrik, von den strengen Reimvarianten und den „spitzen“1 Worten. An ihre Stelle tritt in der Poesie von Dalþev die künstlerische Ressource der bis dahin unakzeptierten gesprochenen Lexik, mit ihren Prosaismen und unpoetischen Formen. Die Metapher wird rehabilitiert. Die verbindliche Reimanpassung fällt aus, es kommen die „weiße“ Strophen und die Assonancen. Nüchterne Verse, häufig achtfüßige Jamben, in natürlicher Sprache vermitteln eine sichtbare, gewöhnliche Welt und spiegeln Alltagsimpressionen:

Tazi bjala varosana zala na gradskata bolnica,

do samite steni prilepenite beli legla...

„Bolnica“

Dieser stets weiße, gekalkte Saal in städtischen Hospitälern, bis zu den Wänden geklebten weiße Betten...

(Krankenhaus)

Die Depoetisierung der Strophen ist mit einer Bewegung zurück zum Alltags verbunden, mit Interesse zu dem Unbemerkbarem und dem Einfachen, zu dem Details und den Strichen. Das lyrische Subjekt erkennt die Welt durch die Gegenstände, die es umzingeln. Als er sie genauer anschaut, entdeckt er die Zeichen seines „Ichs“.

3. Das Sehen.

Eines der typischen Charakteristika der Dalþev’schen Poesie ist das Sehen, das Hinsehen zu den Dingen und in die Welt als Ganzes. Der Mensch betrachtet die Gegenstände wie noch nie zuvor; um zu der „ungewöhnlichen Bedeutung des Gewöhnlichen“2 zu gelangen (nach den Worten von Milena Canewa). Die Betrachtung klebt die einzelnen Details zusammen, verbindet sie zu einem Ganzen und konstruiert auf diese Weise Sinn. Wenn die Poesie bei Jaworow und Slawejkow die Welt darstellt und miterlebt, so beschreibt sie bei Dalþev ihn, betrachtet und erzählt uns über ihn. In diesem Sinne verfügt die Poesie von Dalþev keine begrenzte Subjektivität und absolute Antropozentrismus. Das „Ich“ ist aus dem Zentrum der Welt verschoben, sein Platz ist von der alltäglichen Realität, von den Gegenständen besetzt. Gleichzeitig ist aber der Mensch bei Dalþev auch subjektiv. Hinter dem Plan der vergegenständlichten Realität verbirgt sich untrennbar ein zweiter Plan, in dessen Fläche sich das geistliche Leben der Menschen befindet, sein metaphysisches Leiden und Bestreben. Die Dalþev’sche Poesie vereinigt das Philosophische und das Sinnliche, das Reale und das Irreale, das Materielle und das Metaphysische. Sie rehabilitiert die Gegenständlichkeit, gebärt sie zu neuem Leben, aber nicht zufällig, sondern um den Platz des Menschen zu fixieren, um seine „zastoporenost“3 (Unzugänglichkeit) in der Welt zu verdeutlichen. Die Gegenstände sind in Dalþevs Blick nicht nur mit direkter Semantik aufgeladen, sondern auch mit ihrer Bedeutung von Mediatoren zwischen den Welten und den Zeiten in den poetischen Körpern der Texte.

4. Die Welt der Gegenstände

In seiner Poesie ist eine neue Art der Beziehung zu dem poetischen Instrumentarium zu sehen, die mit der sogenannten „Poetik der entblößten Paradox“ zu verbinden ist. Die Welt der Gegenstände in dieser Poesie nimmt in zwei Prozessen der Bedeutungskreation teil. Der eine ist durch die genaue Benennung, wo die Gegenstände eine klare Bedeutung haben, gekennzeichnet, der andere durch die Assoziation, wo die Gleichen eine symbolische Bedeutung bekommen. Die Unikalität bei Dalþev ist, dass der Gegenstand am Ende wieder sein reales Wesen bekommt, er desymbolisiert sich. Die Erklärung des Gegenstandes - Symbol, seines direktes Zeigens erstmals als Ding, nachher als Symbol und am Ende wieder als Sache, liquidiert die Möglichkeit einer Schranke vor der Finalbedeutung, entblößt die Endantworten. So fehlen in der Poesie von Dalþev rätselhafte und undurchschaubare Bedeutungen, weil das Symbol genau vor den Augen des Lesers positioniert ist. Der Dichter entschichtet die Gegenstände, gibt ihnen neue Funktionen und Bedeutungen, erzeugt Spannung zwischen der äußerlichen und der innerlichen Schicht der Dinge, problematisiert das Stereotype des Sehens, expliziert die versteckte Bedeutung von allem, was uns umkreist. Zum ersten Mal ist die bulgarische Literaturwelt so mit den Gegenständen übersäht, sowie zum ersten Mal spielen sie eine so zentrale Rolle in Bezug auf die menschlichen Vorstellungen und das Bewusstsein.

5. Das lyrische Subjekt bei Dalčev

Die Gegenstände strahlen versteckte Signale aus, welche die zugespitzte Aufnahmefähigkeit des „Ichs“ empfängt und dechiffriert. Das lyrische Subjekt bei Dalþev betrachtet die Gegenstandswelt mit krankhafter Konzentration, um seine neue Botschaften zu dechiffrieren, die auch Wahrheiten über das sinnlose Leben werden, über das Weglaufen von Zeit - Leben, für dramaturgische Verfremdung der Anderen, der Unfähigkeit des Menschen in sich die Dynamik des Alltags reinzuschreiben sind. Für den „vorangenommene“, mit speziellen „optische Instrumente“ bewaffneten Menschen ist die Betrachtung der Gegenstände auch eine Frage für die Erstquellen der Existenz, für die ganze menschliche Unruhe unter dem Himmel. Als er die Sachen für seine Hauptinformationsquellen in Bezug nimmt, wird der Mensch unbemerkbar in ihr aufgelöst, zerfällt in einzelne Segmente und verliert seine Möglichkeit fürs Ganze. Die Gegenstände, ihrerseits, spiegeln diese Segmente wieder, fokussieren sie aufs neue (nicht zufällig ist der Spiegel eine der Hauptmetapher in den Werken von Dalþev, zu der wir immer wieder zurückkommen werden). Auf diese Weise in den verzauberten Kreis der Kommunikation mit den Gegenständen dekonstruiert und rekonstruiert der Mensch seine Vorstellungen über die Welt, die anderen und vor allem über sich selbst. Dieses Herausgehen aus dem Kreis der Dinge ist aber unmöglich. Die forscherhafte Anschauung in die Welt der Gegenständen wird zu einer Gefangenschaft in ihnen. Die freiwillige poetische Wahl der Erkenntnis der Sachen durch die Sinnesorgane beginnt als einziger möglicher Weg für das Überdenken des Alltags und die Gewinnung von Identität zu funktionieren. Die philosophische Durchblicke von Dalþevsche Poesie erklingen hinter einer Wand von Gegenständen, aus der asketischen Positionierung des „Ichs“ hinter dem Paravan der prosaisch einfachen, sichtbaren und gleichzeitig metaphysisch ungewöhnlichen, nicht gesehenen Sachen. Dalþev verwirft nicht die existenzielle Bedeutung des Erreichten der Erkenntnis, sondern verändert nur die Wege für diese Ausführung. Die Erkenntnis bricht nicht seine Verbundenheit mit dem Dramatismus der gesuchten Identität und der totalen Verfremdung ab.

6. Schweigen, Verfremdung und Außenseiterlichkeit.

Meine Arbeit hat als Ziel die Poesie von A. Dalþev durch den fundamentalen Modus des Schweigens, der Verfremdung und der Abwesenheit zu revisieren. Diese sind unzertrennlich mit der Konstruktion und der Erhaltung der menschlichen Identität verbunden. Bei Dalþev beinhaltet er seine Gründe, bricht durch, schaut sich an und präsentiert sich in/durch gleichzeitig die universale und unikale Welt der Gegenstände. Unsere Fragen zu den existentiellen Zuständen des Schweigens, der Verfremdung und der Abgeschiedenheit werden unbedingt die Welt der Sachen durchqueren. Deswegen wird unsere Achtung auf die Metaphern der Dinge gerichtet, dessen Pulsierungen aktivieren, maskieren und diese Zustände explizieren. Solche Metaphern in den poetischen Weltblick von Dalþev sind die Türen, die Fenster, die Spiegel, das Porträt, der Balkon und andere. Jede von ihnen schneidet sich auf eine besondere Art und Weise sich in unseren Vorstellungen der menschlichen Existenz und ihren paradoxale Formen: Schweigen, Verfremdung, Außenseiterlichkeit.

Paradoxal in seiner Anwesenheit ist das lyrische Subjekt selbst in der Dichtung der Autoren. Er ist nicht in der Welt beheimatet, zwischen den Menschen, der Dynamik und den Lauten, sondern in der traurigen und gespannten Unbeweglichkeit der Welt der Gegenstände. Eine Welt, in dem, wenn du aufschreien würdest, deine Stimme zerfließen und verschwinden würde; aber der Schrei ist unmöglich. Eine Welt, in dem die Ordnung herrscht, aber das Chaos in dem Innern des Menschen ihn provoziert und bedeutungslos macht. Eine Welt, die immer eintönig gleich ist, aber durch das Prisma von verschiedenen „optischen Instrumenten“ (Spiegel, Brille u.s.w.) angeschaut wird. Dalþev zwingt den Menschen die Welt anzusehen und zu betrachten, sie zu erforschen und zu überdenken. Das Alltägliche, das Einfache, das Hässliche verdreht den Blick, lenkt den Fluss der menschlichen Gedanken um. Der introvertierte Mensch, verwöhnt von dem Aufenthalt in dem komfortablen Territorium seines eigenen seelischen Friedens, ist von einem Extrovertiertem mit Geschmack zu den realen Sachen verdrängt worden. Die tiefen und verwöhnten psychologischen Arrangements geben vor dem mächtigen Vorangehen des Lebens der Körper und die ihn umkreisenden Gegenständen nach.

[...]


1 Jordanov, A. „W sjankata na dumite“, S.102, S., 1989.

2 Caneva, M. „Atanas Dalþev“, 2B., S. 5-27, Sofia, 1984.

3

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die bulgarische Postavantgarde der 60-er Jahre
Untertitel
Atanas Daltschev
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für slavische Philologie)
Veranstaltung
Die bulgarische Postavantgarde der 1960- er Jahre
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V86445
ISBN (eBook)
9783638021081
Dateigröße
541 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Postavantgarde, Jahre, Postavantgarde, Jahre
Arbeit zitieren
M.A. Diana Koch (Autor:in), 2003, Die bulgarische Postavantgarde der 60-er Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86445

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die bulgarische Postavantgarde der 60-er Jahre



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden