Objektiv-hermeneutische Textinterpretation einer Interviewsequenz zum Thema WG-Leben


Trabajo de Investigación, 2002

17 Páginas


Extracto


Objektiv – hermeneutische Textinterpretation einer Interviewsequenz zum Thema „WG – Leben“

Die Bearbeitung des vorliegenden Interviews erfolgt im Zusammen-hang des Themas Familie.

Die Familie ist als ein in sich sehr stabiles soziales Gebilde zu betrachten. Seine Mitglieder definieren sich nicht (vornehmlich) über gleiche Interessen und Sympathie als zusammengehörig, wie in anderen, externen Beziehungen, sondern über ihre Verwandtschaft miteinander. Dadurch sind sie aneinander gebunden ihr Leben lang. Die Familie wirkt für einen Mensch stark identitätsstiftend, und sie ist die Folie, auf der er andere Menschen und Beziehungen zu ihnen betrachtet.

Zugleich ist die Familie aber auch ein sehr dynamisches System, dass auf die Ablösung der Kinder vom Elternhaus hinausläuft. Diese Ablö-sung, wodurch sich die gemeinsame Lebenspraxis der (Kern-) Familie auflöst, ist dabei nicht lediglich ein Nebeneffekt, sondern konstitutiv und notwendig für das Prinzip „Familie“. Mit der Ablösung von der Herkunftsfamilie beginnt eine zweite Phase, nämlich die, in der das Individuum selbst eine Familie gründet. Dort ist seine ehemalige Rolle nunmehr vertauscht gegen die des Elternteils. Ohne die Auflösung der Herkunftsfamilie wäre das Gründen einer neuen Familie nicht möglich. So kann man sich über Generationen hinweg einen Prozess des ewigen Gründens und Auflösens vorstellen, durch den einzig und allein der Fortbestand der Menschheit gesichert ist.

Wenn auch das Grundprinzip das ewig gleiche ist, so gibt es doch in der Praxis etliche Formen und Riten, wie der Übergang von der einen in die andere Familie vollzogen wird. Unter kultur-anthropologischem Aspekt am besten nachzulesen in den Untersuchungen von Claude Lévi-Strauss[1]. Ebenso verändern sich aber auch innerhalb einer Gesellschaft die Formen des Wechsels, dazu empfehlenswert die Befragungen verschiedener Paare im heutigen Frankreich von Jean-Claude Kaufmann[2]. In einer recht kleinen, möglichst abgeschlossen Gesellschaft wie den Stammeskulturen werden solche Riten eher stabil bleiben, in einem differenzierten, komplexen Gesellschafts-system wie der westlichen Kultur sind sie jedoch Änderungen unter-worfen durch die fortschreitende Entwicklung und durch immer neue Einflüsse, denen gegenüber sie sich als durchlässige Kultur nicht verschließen kann.

Dadurch verändern sich die traditionellen Riten, sie werden abgelöst oder es kommen einfach neue Möglichkeiten hinzu. In der Regel wird das Arsenal von verfügbaren Praxen auf diese Weise komplexer. Das heißt, es stehen einem mehr Möglichkeiten zur Verfügung.

In unserem Kulturkreis ging die Ablösung von der Herkunftsfamilie noch vor hundert Jahren mit der Gründung einer eigenen Familie einher. In der Praxis war dies zwar nicht immer der Fall, aber die gesellschaftlichen Regeln verlangten es. Inzwischen hat sich unsere Gesellschaft so sehr verändert, dass dieser Vorgang heute eine verwunderliche Ausnahme darstellen würde. Die Zeit zwischen Herkunfts- und Gründungsfamilie wird inzwischen als wichtiger, selb-ständiger Teil des Lebensentwurfs reklamiert. Man könnte sie als eine Orientierungsphase bezeichnen, in der man sich auf der Suche nach dem Lebenspartner befindet und die ungefähr in der Zeit zwischen Schule und Beruf angesiedelt ist, also eine Orientierungsphase in zweierlei Hinsicht darstellt, nämlich auch in Bezug auf den Beruf.

Für diese Phase haben sich unterschiedliche Wohn- und Lebens-kulturen herausgebildet. Die wenigsten jungen Erwachsenen bleiben bei ihren Eltern wohnen, der Auszug zögert sich allenfalls über das gängige Alter von 18 oder 19 Jahren hinaus. Sie entscheiden sich dann entweder dafür, alleine zu wohnen oder in einer Wohngemeinschaft mit anderen jungen Leuten. Früher oder später wird oft auch das Zusammenwohnen in einer Beziehung getestet. Am Ende entscheidet sich dann ein Paar für eine gemeinsame Zukunft und zieht aufgrund dessen dauerhaft zusammen. Zur häufigen Praxis ist es mittlerweile auch geworden, gemeinsam ein Kind zu bekommen und sich dann wieder zu trennen. Das heißt, die Gründungsfamilie wird gelockert oder auf den erziehenden Teil und das Kind reduziert, und nach einer erneuten Zwischenphase wird wahrscheinlich eine zweite entstehen.

Wenn man nun davon ausgeht, dass das WG – Leben lediglich als eine Übergangsform zu betrachten ist, als ein Moratorium zwischen der einen und der anderen Form des Familienlebens, müsste man sich Möglichkeiten überlegen, dies zu prüfen. Denn dann müsste es entscheidende Differenzen zwischen der Gestaltung des WG – Lebens und des Familienlebens geben.

Ich habe mich daher entschieden, ein offenes Interview innerhalb einer WG zu führen, in dem die Mitbewohner über sich und ihr WG – Leben erzählen, und es dann einer objektiv-hermeneutischen Text-interpretation zu unterziehen. Das Interview erstreckt sich auf ca. zwei Stunden und hat sich, da ich mich sehr zurückgehalten habe, teilweise regelrecht diskussionsartig gestaltet. Es wurde mit zwei 22-jährigen Mädchen geführt, die zu dem Zeitpunkt seit einem guten Jahr zusammenwohnten und seit ein paar Monaten den Freund der einen mit beherbergten. Er galt als „vorübergehender Mitbewohner“, teilte sich mit seiner Freundin deren Zimmer und sollte sich parallel um eine eigene Wohnung kümmern.

Die These, der in der anschließenden Interpretation eines Auszugs aus dem Interview nachgegangen werden soll, ist die, dass die WG ein von vornherein flüchtiges, von Auflösung gekennzeichnetes Gebilde ist, das schon durch seine Eigenschaft nicht auf Dauer existieren kann, sondern lediglich ein Moratorium zwischen Herkunfts- und Gründungsfamilie darstellt.

Textauszug:

Ich hab’ auch manchmal dis Bedürfnis, dasses sauberer sein sollte hier und dann ignoriere ich dieses Bedürfnis (J. lacht) so gut ich es kann und finde mich mit der Situation ab und mach mir dis dann bei mir etwas sauberer. Aber manchma’ isses ja auch wirklich ... also wat heißt sauber, is’ ja nich’ dreckig, aber unordentlich. So. N, n bisschen dreckig. Und manchmal isses ja auch wirklich sauber.

„Ich hab’ auch“

In welchem Zusammenhang steht diese Wortsequenz?

Mögliches Beispiel: „ Ich hab’ auch Schuhe“. Die Schuhe wären dabei ein austauschbares Objekt, in jedem Falle handelt es sich in dieser Variante um eine Aussage über den eigene Besitz. Das „auch“ wandelt die bloße Aussage jedoch zu einer Aufzählung (neben diesem und jenem habe ich auch noch Schuhe) und hebt den ihm folgenden Gegenstand unter der Aufzählung hervor.

1. Es soll die Menge betont werden. Ich besitze nicht nur das eine, sondern auch das andere (nicht nur Ski, sondern auch ein Snowboard). Dann haben diese Dinge – zumindest in dem Zusammenhang, in dem gerade etwas über sie gesagt wird – etwas miteinander zu tun. Und zwar in sofern, als dass man in der Regel nur eins davon hat, oder es zumindest ausreichen würde, nur eins davon zu besitzen. Der Sprecher ist aber in der privilegierten Lage, gleich beides zu besitzen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich hab’ auch noch ein zweites Paar!“ „Ich hab’ nicht nur Schnittkäse im Kühlschrank, ich hab’ auch noch Frischkäse.“

2. Es soll eine steigende Wertung betont werden. Wenn man also ein Snowboard für besser hält, weil es exotischer oder teurer oder sonst wie wertvoller ist, dann würde man mit „ ich hab’ auch ein Snowboard“ betonen, dass man nicht nur einfache, langweilige Ski besitzt, wer hat die schließlich nicht, sondern darüber hinaus auch noch das Besondere, Ungewöhnlichere. Wieder als Kühlschrank-beispiel: „ Ich hab’ auch frische Milch!“ (Nicht nur die gewöhnliche H – Milch).

In dem Sinne einer Aufzählung, wobei entweder die Menge oder der Wert des dem „auch“ Folgenden betont werden soll, ist jedoch nicht nur an Besitz zu denken. Vorstellbar wären auch Aussagen wie: „ Ich hab’ auch schon bei meiner anderen Freundin übernachtet!“ Dies würde einhergehen mit der Betonung, dass ich nicht nur eine Sache besitze, sondern auch die andere/oder noch eine andere. Ich habe also einen Vorsprung vor meiner Gesprächspartnerin, die bisher nur bei einer Freundin übernachtet hat.

Wenn die Betonung auf dem Wert des dem „auch“ Folgenden liegt, so könnte man sich ebenfalls analog zu der Geschichte des Besitzes auch eine denken wie: „ Ich hab’ auch meinen Tauchschein dort gemacht.“ (Ich war nicht nur auf Ko Samui, ich hab’ dort auch meinen Tauchschein gemacht!)

In all diesen Fällen ist das „auch“ durch „sogar“ ersetzbar.

Ich hab’ auch studiert“, „ ich hab’ auch bei meinen Eltern Weihnachten gefeiert“, „ ich hab’ auch schon bezahlt“.

In dieser Variante erkläre ich, dass ich das gleiche getan/ erlebt habe wie jemand anderes. Nicht nur X hat das gemacht, sondern auch ich. Dabei kann X mein Gegenüber sein, oder auch eine andere Person, von der gerade gesprochen wird.

Es braucht sich nicht nur um abgeschlossene, vergangene Dinge zu handeln wie in den Beispielen, sondern kann sich durchaus auch auf die Zukunft beziehen („ Ich hab’ auch vor, mich selbständig zu machen“).

Und ebenso kann es sich auch hier natürlich um Besitz handeln (nicht nur du hast deinen Tauchschein gemacht, sondern auch ich).

Es ist bisher also völlig offen und an keine Bedingung geknüpft, ob das „haben“ als Hilfsverb oder als selbständiges Possessivverb gebraucht wird. Es kann sich um eine (zumindest gedankliche) Aufzählung handeln, wobei entweder die Menge oder der Wert des Folgenden das Erwähnenswerte ist, oder um eine Hinzufügung oder Beipflichtung zu dem, was vorher von jemand anderem gesagt wurde, dass es auch auf einen selbst zutreffe.

„Ich hab’ auch manchmal“

Diese Form der Satzfortführung muss im ersten Moment ein wenig stutzig machen, da das „ manchmal “ dem „ auch “ so gegenläufig scheint. „ Auch “ ließe sich als ein offenes, aufnehmendes Wort beschreiben, dass für eine Zunahme, ein Mehr steht. Es bejaht das Vorangegangene oder als vorangehend Vorausgesetzte und fügt dem noch etwas hinzu. „ Manchmal “ hingegen ist ein einschränkendes, zurücknehmendes Wort: manchmal gehe ich ganz gern ins Kino – nicht immer, nicht oft, sondern nur manchmal. Es begrenzt die Häufigkeit auf einen kleinen, fast schon auserwählten Teil, es klingt fast nach „ manchmal gönne ich mir auch mal einen Kinoabend“. „ Manchmal tut die Narbe noch weh“, „ manchmal bin ich entsetzt“; es klingt immer nach wenigen, eher seltenen Momenten.

In der Phrase „ ich hab’ auch manchmal “ schränkt das „ manchmal “ das „ auch “ sofort ein, es folgt ihm direkt und lückenlos. Die Hinzufügung, Vermehrung wird gleichsam stark verringert, zurück-genommen; sie trifft nun nicht immer und somit nicht völlig zu, sondern nur vielmehr nur ab und zu („ ich hab’ auch manchmal ein Snowboard zur Verfügung“, „ ich hab’ auch manchmal Lust, alles hinzuschmeißen“). Das „ manchmal “ scheint somit das bereits Ausgesprochene zu regulieren, vielleicht etwas im Überschwang der Unterhaltung Herausgeplatztes auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

Alle bisherigen Beispielsätze wären auch mit einer anderen Reihenfolge des Satzbaus denkbar, nämlich mit dem „ manchmal “ zu Anfang: „Manchmal habe ich auch Lust, alles hinzuschmeißen!“, „Manchmal habe ich auch ein Snowboard zur Verfügung.“, etc. Dergestalt hätten die Aussagen eher den Anschein von etwas Wohldurchdachtem und die Betonung läge auf der eingeschränkten zeitlichen Komponente. In der vorliegenden Form liegt die Betonung hingegen auf dem Zustimmenden oder Hinzufügenden und es verwundert daher, dass dieses am Ende dann so stark eingeschränkt wird.

„(Ich hab’ auch manchmal) dis Bedürfnis“

Bedürfnis:

Versuch, sich der Bedeutung des Begriffes „ Bedürfnis “ anzunähern:

Keine Laune, kein diffuser Impuls, sondern vielmehr etwas Tieferes und auch Gerichtetes, was weniger leicht zu unterdrücken ist. Es gibt „elementare Grund bedürfnisse “ wie Nahrungsaufnahme und Schlafen; das heißt, es gibt auch andere, nicht-elementare Bedürfnisse, die nicht so essentiell sind, aber doch immer noch eine ähnliche Intensität haben müssen. Man bedarf etwas, das heißt, man braucht etwas, man benötigt es, kommt ohne es nicht aus. Was grenzt „ Bedürfnis “ von „Wunsch“, „Verlangen“, „Lust“ ab?

Wunsch:

Bei Wünschen geht man nicht unbedingt davon aus, dass sie erfüllt werden, und es ist auch nicht wirklich notwendig, dass sie erfüllt werden. Sie stehen vielmehr für etwas Zusätzliches, was das Lebens-gefühl noch steigern würde, als für etwas, das zur Existenzsicherung nötig wäre. Man könnte vielleicht so weit gehen zu sagen, der Sinn des Wunsches besteht darin, dass er nicht erfüllt wird. Denn „wunsch-los glücklich“ zu sein, wäre tatsächlich ein ziemlich langweiliger, weil desillusionierter Zustand.

Wünsche gleiten oft weit ins Fiktive und Tagträumerische ab, in denen Dinge phantasiert werden, die real nie eintreten werden, nach denen jedoch eine Art unerfüllte Sehnsucht besteht, die zumindest ein kleines Fünkchen Hoffnung (wenn auch irrationaler) enthält.

Wünsche fangen vielleicht bei den obligatorischen Weihnachts-wünschen an und gipfeln in so irrationalen Träumereien wie dem Wunsch nach dem Märchenprinzen oder einem Lottogewinn.

Verlangen:

Das Verlangen ist etwas sehr starkes, was im Gegensatz zum Wunsch auch auf Erfüllung drängt (sexuelles Verlangen, Verlangen nach Süßem, Verlangen nach einer Zigarette). Es könnte auch als Drang bezeichnet werden und an den Beispielen wird ersichtlich, dass es sich vor allem auf Dinge richtet, die mit einer Sucht verbunden sein können. Das übersteigerte Verlangen ist demnach die Sucht.

[...]


[1] Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1947); Claude Lévi-Strauss: Der Blick aus der Ferne (1956)

[2] Jean-Claude Kaufmann: „Schmutzige Wäsche“ (1994)

Final del extracto de 17 páginas

Detalles

Título
Objektiv-hermeneutische Textinterpretation einer Interviewsequenz zum Thema WG-Leben
Universidad
University of Potsdam  (Humanwissenschaftliche Fakultät)
Autor
Año
2002
Páginas
17
No. de catálogo
V8670
ISBN (Ebook)
9783638155809
ISBN (Libro)
9783638863551
Tamaño de fichero
514 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Objektiv-hermeneutische, Textinterpretation, Interviewsequenz, Thema, WG-Leben
Citar trabajo
Anne Burkhardt (Autor), 2002, Objektiv-hermeneutische Textinterpretation einer Interviewsequenz zum Thema WG-Leben, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8670

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