Bausteine moderner psychotherapeutischer Behandlung der Schizophrenie mit Schwerpunkt auf systemischer Therapie (am Beispiel eines Augsburger Wohnheims für psychisch Kranke)


Mémoire (de fin d'études), 2000

220 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Ist Schizophrenie k/eine Krankheit oder ein Mythos? Gibt es sie überhaupt?
1.2. Anmerkungen zur Geschichte und zur Definition des Schizophreniebegriffs
1.3 Allgemeine Probleme der Schizophrenie (Schlagwort Schizophrenie, Schizophrenie in den Medien, Schizophrenie als Vorurteil und Stereotyp)
1.4 Symptomatik und Klassifikationssysteme der Schizophrenie
1.4.1 Die ICD (International Classification of Deseases)
1.4.2 Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(Diagnostisches u. Statistisches Manual Psychischer Störungen)
1.4.3 Kurzer Vergleich der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV
1.5 Erklärungsansätze zur Entstehung der Schizophrenie (Ursachenforschung)
1.5.1 Zum Konzept der „kognitiven Basisstörungen“
1.5.2 Zum Vulnerabilitätsmodell (in der Ich-Psychologie und in der Life-Event-Forschung)
1.6 Verlauf und Prognose Heilungschancen der Schizophrenie Häufigkeit des Auftretens in der Bevölkerung
1.7 Zusammenfassung

2 Einführung: Schizophrenie und Psychotherapie
2.1 Begriffsbestimmung Psychotherapie
2.1.1 Grundsätze der Therapie und Aufgaben des Therapeuten
2.2 Kurze Geschichte der Psychotherapie
2.3 Die Hauptschulen der Psychotherapie der Schizophrenie
2.3.1 Tiefenpsychologische Individualtherapien - Psychoanalyse (FREUD) - Analytische Therapie (JUNG) - Individualpsychologie (ADLER, KLEIN) - die interpersonale Schule (SULLIVAN, FROMM-REICHMANN)
2.3.1.1 Allgemeine Bausteine der tiefenpsychologischen individuellen Therapien
2.3.1.2 Bedeutung der psychotherapeutischen Individualtherapien
2.3.2 Gruppenpsychotherapie und Milieutherapie
2.3.3 Traditionelle Familientherapie und therapeutische Gruppenarbeit mit Angehörigen Schizophrener
2.3.3.1 Bausteine des Konzeptes einer therapeutischen Gruppenarbeit mit Angehörigen Schizophrener
2.4 Zusammenfassung
2.5 Neue Denkansätze in der Therapie der Schizophrenie mit Schwerpunkt auf systemischer Therapie
2.5.1 Begriffsbestimmung systemisches Denken und Systemtheorie
2.5.2 Systemische Schizophreniemodelle
2.5.2.1 GUNTERNs Konzept der Schizophrenie in der Systemtherapie
2.5.2.2 CIOMPIs Konzept der Affektlogik, ein integratives systemisches Schizophreniemodell
2.5.3 Zwei systemische Therapieansätze - einleitende Übersicht
2.5.3.1 Systemische - individuelle Therapien
2.5.3.2 Systemische Familientheorie und Familientherapie
2.5.3.2.1 Systemorientierten Schulen der Familientherapie
2.5.3.2.2 Entwicklung und Stand der systemischen Familientherapie im deutschsprachigen Raum
2.6 Im Vergleich die Hauptunterschiede zwischen den psycho-analytischen und strategisch-systemischen Ansätzen
2.7 Zusammenfassung
2.8 Moderne Bausteine der systemischen Schizophrenie- Therapie
2.8.1 Neuere Therapieformen in der systemischen individualtherapie
2.8.2 Methoden und Vorgehensweisen in der systemischen Familientherapie
2.8.2.1 1. Fallbericht einer systemischen Therapie: Frau M
2.9 Weitere Bausteine der systemischen Schizophrenie-Therapie
2.9.1 Schützen vor Überforderung sowie Förderung und Erweiterung der Fähigkeiten des Schizophrenen
2.9.2 Systemischer Einbezug des relevanten sozialen Umfeldes
2.9.3 Einheitliche, klare und einfache Information für alle Beteiligten
2.9.4 Kontinuierliche Rückfallprophylaxe
2.9.5 Erarbeitung von gemeinsamen Zielen und systemische „Polarisierung“ des relevanten sozialen Umfeldes
2.9.6 Nonverbale Elemente in der Schizophrenie-Therapie
2.10 Zusammenfassung

3 Systemisches Denken in der Sozialpsychiatrie?
3.1 Gegenüberstellung einer klassisch organisierten zu einer systemorientierten Institution
3.1.1 2. Fallbeispiel einer systemischen Therapie: Herr P
3.2 Eine psychiatrische Langzeiteinrichtung mit sozial-psychiatrischer Zielsetzung - welchen Nutzen kann dabei systemisches Denken und Handeln bringen?
3.2.1 3. Fallbeispiel einer integrativen Therapie: Frau H

4 Kritische Würdigung oder: Was will und was leistet die Einrichtung?
4.1 Allgemeine Versorgungsleistungen
4.2 Psychosoziale Leistungen
4.3 Therapeutische Leistungen

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

V.TEIL: Literatur:

MOTTO

„Während

die sogenannten normalen Menschen

Gefangene der Realität bleiben,

wird der Schizophrene

zu einem Flüchtling aus der Realität.

Während wir

mit den Füßen fest auf der Erde bleiben,

ist er wie ein Astronaut,

der sich aufmacht, bessere Welten zu erkunden;

aber im Gegensatz zu wirklichen Astronauten

hat der Schizophrene ernste Schwierigkeiten,

zu unserem bescheidenen Planeten zurückzukehren.

Sein Versuch,

der Menschheit bzw. dem Menschsein zu entfliehen,

ist vergeblich,

weil er immer ein Mensch bleiben wird.

Gerade weil er so sehr Mensch und

so sehr in diese Welt verstrickt ist,

wird er schizophren.“

(aus ARIETI, 1985 „Schizophrenie“, S. 30)

I. TEIL: Allgemeines zur Schizophrenie

1 Einführung

Nach dem Auftreten einer psychotischen Erkrankung kommt es immer wieder zu einer gewissen Sprachlosigkeit. Betroffene wie Angehörige sind verunsichert und erstaunt, dass es „so etwas“ überhaupt gibt und stellen sich die berechtigten Fragen: Was ist Geisteskrankheit? Was ist Schizophrenie? Ist Schizophrenie überhaupt eine Krankheit? Wie kommt es dazu ? Diese sind unlösbar verknüpft mit den Fragen: Was tun Psychiater und Psychologen? Was ist Psychotherapie? Ist Psychotherapie nötig? Ist es gar das Wundermittel zur „Heilung“ der Schizophrenie? Und nachdem die Beliebtheit der Psychotherapie ebenso rasch wächst wie das Bedürfnis der Menschen nach ihr, muss es ja wohl einen Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Psychotherapie und Genesung geben.

Sinn und Zweck meiner Diplomarbeit ist es, diese Relation aufzudecken, und das insbesondere deshalb, weil ich in den letzten mehr als neun Jahren, durch meine Tätigkeit in einem Wohnheim für psychisch Kranke, eben dieses Zusammenwirken miterleben konnte. Und nicht nur das! Im Laufe der Jahre entstanden zu den meisten „Schizophrenen“, denen ich in der Augsburger Langzeiteinrichtung begegnete, persönliche Kontakte, die das allgemein verbreitete Bild des „Verrückten“, des „Gefährlichen“ und des „Unheimlichen“, das sich anfangs auch in mir breitgemacht hatte, schnell verblassen und obskur erscheinen ließ. Was mir begegneten, waren in jeder Hinsicht menschliche Schwierigkeiten und ein permanenter Kampf zwischen einem verunsicherten Selbst, seiner äußeren Realität und seiner Vergangenheit; es waren Menschen, oft hilflos und in ihren alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigt und deswegen auf Unterstützung angewiesen.

Was mir noch begegnete, das waren zwar wenige aber dennoch einige Menschen, die nach jahrelanger therapeutischer Betreuung wieder ins „normale Leben“ zurückfanden. Und das sind doch große Erfolge für die Betroffenen, für die Angehörigen, für die angewandte Therapie.

Was mir jedoch immer noch ein Rätsel geblieben ist, sind die genaueren Gründe, warum diese Menschen Stimmen hören, ein fremdes Wesen in ihrem Kopf spüren, das sie beschimpft oder spioniert, blühende Sonnenblumen in meinem Büro sehen, wo doch gar keine da sind, seit fünfzehn Jahren mit einem gepackten Köfferchen vor dem Haus auf die vermeintliche Verlobte warten, hin und wieder „ausbüchsen“, um auf ihrem „fürstlichen Besitz“ nach dem Rechten zu sehen oder sich zeitweise fast vollständig aus der allgemein verbindlichen Realität zurückziehen und jeden menschlichen Kontakt vermeiden.

Über das Thema Schizophrenie und Psychotherapie wissen wir bereits eine ganze Menge. Mit Büchern über die Schizophrenie konnten inzwischen Bibliotheken gefüllt werden. Die Theorienvielfalt der Schizophrenieforschung ist selbst für den Fachmann kaum noch zu überblicken und hat trotzdem nicht zur Entwirrung des Rätsels dieser „Krankheit“ beigetragen. Allein in den Jahren 1946 bis 1956 weist BELLAK (vgl. Redlich & Freedmann, 1976, S. 666) in seinem Nachschlagewerk „Schizophrenia“ über viertausend Artikel und Bücher auf, die sich mit dem Thema Schizophrenie beschäftigen. MANFRED BLEULER (1979) erwähnt zwölftausend Arbeiten, die zwischen 1941 und Anfang der 70er Jahre zum Thema Schizophrenie und ihren Behandlungsmöglichkeiten publiziert worden sind. Wie viele wohl in den letzten dreißig Jahren noch hinzukamen? ...

1.1 Ist Schizophrenie k/eine Krankheit oder ein Mythos? Gibt es sie überhaupt?

Für die meisten Menschen ist Schizophrenie die Geisteskrankheit par excellance. Das Wort wird oft mit gespaltener Persönlichkeit oder gespaltenem Geist gleichgesetzt (vgl. Bäuml 1994, Peters, 1983 u.a.) und ist in der Vorstellungswelt psychiatrischer Laien zum Klischee geworden. In den USA bezeichnete man in den 80er Jahren die Geisteskrankheit als das nationale Gesundheitsproblem Nr.1. Das wurde mit eindrucksvollen Statistiken bewiesen: über eine halbe Million Krankenhausbetten für Geisteskranke, siebzehn Millionen Menschen, die in diesem oder jenem Grade als geisteskrank galten (vgl. Szasz, 1972, S. 11).

Viele Wissenschaftler, Psychiater, Buchautoren u.s.w. sahen und sehen es für dringend notwendig, das Problem der geistig-seelischen Erkrankung und ihrer Therapie einer Prüfung zu unterziehen und die Wurzeln der modernen Auffassung von Geisteskrankheiten darzulegen. Dabei bilden sich gegensätzliche Auffassungen und Bewegungen heraus, die einerseits überzeugende Beweise für die Existenz dieser Krankheit und andererseits genauso viele Argumente für die Schizophrenie als modernen Mythos bringen.

So zeigen SARBIN und MANCUSO (1982), dass die meisten Schizophrenie-Konzeptionen eher einem Mythos gleichen als einer begründeten wissenschaftlichen Theorie. Sie bestreiten keinesfalls die Existenz „schizophren-artiger“ Phänomene und geringschätzen auch nicht deren Bedeutung für die Betroffenen; sie wollen vielmehr den unwissenschaftlichen, mystifizierenden und diskriminierenden Charakter vieler Schizophrenie-Konzeptionen aufdecken und zeigen, dass dieser Mythos ganz bestimmte soziale Funktionen erfüllt, so z.B. „soziale Kontrolle über Menschen ausüben zu können...“ (Sarbin u. Mancuso, 1982, S. 252).

Die Mitte der 60er Jahre auftretende Bewegung der Antipsychiatrie mit ihren Begründern RONALD LAING und DAVID COOPER behaupten, dass die Schizophrenie nicht existiert, da keine Krankheitsentität im medizinisch-nosologischen Sinn festgestellt werden kann. Allerdings bestreitet COOPER nicht die semantische Realität des Wortes Schizophrenie (mehr dazu in Cooper, 1971)

THOMAS SZASZ der sich zwar nicht als Antipsychiater versteht, da er diesen Terminus als zu „unpräzise, irreführend und auf billige Weise selbstverherrlichend“ (Szasz, 1979, S. 58) empfindet, behauptet, dass die Schizophrenie so vage ist, dass dieser Terminus in Wirklichkeit auf fast jede Art von Verhalten angewendet wird, das missbilligt wird. Er versucht zu beweisen, dass die Schizophrenie ein „geheiligtes Symbol der Psychiatrie“ oder gar ein „wissenschaftlicher Skandal“ sei (eb., S. 95), da die Behauptung „bestimmte Menschen hätten eine Krankheit namens Schizophrenie, sich nicht auf irgendeine medizinische Entdeckung, sondern nur auf medizinische Autorität stützte; dass sie ... nicht das Ergebnis empirischer oder wissenschaftlicher Arbeit, sondern ethischer und politischer Entscheidungen...“ sei (eb., S. 15).

SZASZ bezichtigt LAING der Heuchelei, da dieser behauptet, der Schizophrene sei nicht krank, doch gleichzeitig berichtet er über eine Schizophrene, die in einer therapeutischen Gemeinschaft „ihre ‘Gesundheit’ wiedererlangte“ (eb., S. 78). SZASZ geht soweit, dass er die „Fabrikation von Krankheitsbezeichnungen in der Psychiatrie bei gleichzeitigem Mangel an Beweisen“ als „größten wissenschaftlichen Skandal unseres wissenschaftlichen Zeitalters “ bezeichnet (eb., S. 192). Für SZASZ gibt es die Schizophrenie überhaupt nicht. Er behauptet: „Schizophrenie ist keine Krankheit, sondern nur der Name einer angeblichen Krankheit. Obwohl die Schizophrenie nicht existiert, gibt es natürlich zahllose Personen, die als ‘schizophren’ bezeichnet werden. Viele (wenn auch keineswegs alle) dieser Menschen verhalten sich und sprechen häufig anders als viele (wenn auch keineswegs alle) anderen Personen in ihrer Umgebung. Diese Unterschiede in Verhalten und Sprache können überdies sowohl für den sogenannten Schizophrenen als auch für die Menschen in seiner Umgebung ... überaus störend oder beunruhigend sein.“ (eb., S. 193).

Im Anhang zu seinem Buch, in dem er eine Chronologie über die Auffassung von der Geisteskrankheit als Erkrankung des Gehirns aufstellt, begrüßt er die kommenden Jahre „als große Zeit der Psychiater“ (eb., S. 210) und meint: „Dieser Aufruf zur Welteroberung durch die Psychiatrie - das heißt zur Medikalisierung, Psychiatrisierung und Therapisierung jeglicher menschlichen Aktivität - wurde seither von zahllosen führenden Psychiatern in der ganzen Welt wiederholt.“ (a.a.S.). Er glaubt, dass die Psychiatrie, so wie wir sie heute kennen, allmählich verschwinden wird. „Insbesondere wird dann die Zwangspsychiatrie ebenso abgeschafft werden wie die Leibeigenschaft. ... Die meisten psychiatrischen Praktiken dürfen jedoch entweder ganz verschwinden, oder sie werden dann als ethische bzw. politische Interventionen gelten. Diese an freiwilligen Klienten vollzogenen psychiatrischen Maßnahmen werden dann als das anerkannt werden, was sie meiner Meinung nach tatsächlich sind, nämlich als ‘Theorien’ und ‘Techniken’ oder, besser gesagt, als Rechtfertigungen und praktische Anwendungen verschiedener Systeme profaner Ethik. “ (eb., S. 214).

Eine Weiterentwicklung dieser Gedankengänge vollzieht sich durch die radikale Antipsychiatrie neuester Ausprägung, wie KEMPKER und LEHMANN (1993). Das sind nicht mehr Fachleute, sondern ehemalige Patienten, Psychiatriebetroffene oder Psychiatrieerfahrene. Vorrangig für sie ist die rechtliche Gleichstellung mit gesunden oder kranken normalen Menschen. Verrücktheit verstehen sie nicht als Krankheit, sondern vielmehr als einen tiefgehenden psychischen Konflikt. Radikal nennen sie sich deshalb, weil sie die bestehende Psychiatrie nicht durch Reformen zu verändern trachten, sondern die totale Abschaffung der psychiatrischen Institutionen anstreben. Erwähnenswert ist auch STAUTH, der sich in seinem Buch „Von wegen schizophren... Zur Kritik der Schizophrenie-Theorien“ (1982) fundiert mit Denkmodellen und Glaubensbekenntnissen der Schulpsychiatrie bezüglich der Schizophrenie auseinandersetzt und dabei feststellt, dass die schulmedizinischen Widersprüche so weitreichend sind, dass von der Schizophrenie nicht anders gesprochen werden kann, als von einer Ideologie, einem Mythos, vielleicht sogar einem Programm.

Auch LUC CIOMPI, der Verfechter der systemischen Therapie stellt die berechtigte Frage: Gibt es überhaupt eine Schizophrenie? Er übt grundsätzlich Kritik an der Idee einer Krankheitseinheit Schizophreni e und versucht den Langzeitverlauf psychotischer Phänomene aus systemischer Sicht zu erklären. Dabei hofft er, ein flexibleres, obwohl - in den Augen vieler Therapeuten - ein vielleicht unbequemes Konzept für die Erforschung und Therapie der Schizophrenie anbieten zu können. (mehr dazu im Kapitel 2.5.2.2 meiner Arbeit). Ich erwähne ausdrücklich CIOMPIs systemische Therapie, da diese z.T. auch erfolgreich in der Augsburger Langzeiteinrichtung, in der ich tätig bin, angewendet wird.

Den bisherigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass für die psychiatrische Diagnose der Schizophrenie keinerlei gesicherte Kriterien existieren. Die Fragwürdigkeit der Diagnostik dokumentierte auf eindrucksvolle Weise ein Experiment, das DAVID ROSENHAN in den USA durchführte. So suchte eine Gruppe von „normalen“ Versuchspersonen eine Reihe von Psychiatern auf und berichteten von Stimmen, die zu ihnen sprächen. Daraufhin erzählten sie ihre tatsächliche Lebensgeschichte. Die Psychiater interpretierten diese als typisch psychotisch und wiesen sie allesamt als Schizophrene in eine Klinik ein. Keiner der „Patienten“ wurde dort als symptomfrei erkannt und erst nach einiger Zeit wieder aus der Klinik entlassen. In einem weiteren Versuch meldete ROSENHAN einer psychiatrischen Klinik, man hätte falsche Patienten eingeschleust. Prompt entließen die Ärzte eine Anzahl von Patienten als „normal“, obwohl sich in der Klinik tatsächlich kein einziger falscher Patient befand (vgl. Randow, 1973).

Eine solch diagnostische Unsicherheit bezüglich Schizophrenie ist nicht etwa die Ausnahme, sondern eher die Regel. Sie wird nicht nur von Gegnern des Krankheitsmodells moniert, sondern findet auch in den Arbeiten seiner Verfechter ihren Ausdruck.

Noch habe ich den Begriff Schizophrenie nicht definiert. Vorher möchte ich jedoch zu der Frage, ob es die Schizophrenie überhaupt gibt und ob sie eine Krankheit ist, kurz persönlich Stellung nehmen.

Im Allgemeinen ist man - und dazu zähle ich mich auch - sich einig, dass es diese psychische Krankheit bzw. Störung gibt (was auch immer ihre Ursachen sein mögen), dass sie sich in Störungen des Denkens, der Affektivität und des Verhaltens äußert und dass man für alle praktischen Belange den Begriff Schizophrenie verwenden kann. Ignorieren kann man die Schizophrenie auf keinen Fall. Obwohl SZASZ und die Antipsychiater einer ganz anderen, absolut konträren Meinung sind - weswegen ich auch deren Äußerungen diesbezüglich weiter oben detaillierter wiedergegeben habe - bin ich, genauso wie viele andere Menschen (Ärzte, Psychiater, Psychologen, Betroffene, Angehörige), aufgrund der realen Situation, mit der ich tagtäglich konfrontiert werde, sowie aufgrund der positiven Ergebnisse in der Behandlung seelisch kranker Menschen, der festen Überzeugung, dass es weitere Erfolge in der Behandlung der Schizophrenen geben wird.

1.2. Anmerkungen zur Geschichte und zur Definition des Schizo-phreniebegriffs

Die Erfolge, die heute in der Behandlung der Schizophrenie erzielt werden, würden EMIL KRAEPELIN (1856-1929) in Erstaunen versetzen, den ersten Psychiater und Begründer der modernen Psychiatrie, der die Schizophrenie beschrieb und sie als Dementia praecox bezeichnete. Als er 1896 sein Hauptwerk („Psychiatrie“) verfasste, glaubte er, jeder Fall von Dementia praecox wäre zu einer fortschreitenden Verschlechterung verdammt, ohne Möglichkeit der Genesung oder Besserung. Zum Glück ist diese Annahme nicht zutreffend, wie es auch im Verlauf meiner Arbeit ersichtlich sein wird.

Es gibt durchaus jahrhundertealte Beschreibungen dessen, was man heute unter Schizophrenie versteht. Auch gehen die Ansichten über die Schizophrenie weit auseinander und reichen von der traditionellen Betrachtung der Schizophrenie als eine schwere Krankheit, die durch spezifische Störungen des Denkens und Fühlens gekennzeichnet ist, bis zur Vorstellung SZASZs, dass Schizophrenie ein Pseudoproblem sei und gar nicht existiere.

Die erste verhältnismäßig gute Beschreibung dessen, was heutzutage Schizophrenie bedeutet, erschien in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts unter dem Titel Vesania, ein Wort, das „völligen Wahnsinn“ bezeichnet (vgl. Redlich & Freedmann, 1976, S. 666). JEAN ÉTIÉNNE ESQUIROL beschrieb 1845 in seinem Buch „Mental Maladies“ unterschiedliche Formen der Idiotie. BENEDICT MOREL prägte 1857 die Bezeichnung „démence précoce“ für degenerativen Stumpfsinn. Verglichen mit dem heutigen Modewort „schizophren“ existierte damals das Modewort „degenerativ“ (eb. S. 667). KARL KAHLBAUM beschrieb 1874 die Katatonie oder das Spannungsirresein und EWALD HECKER die Hebephrenie. Aus diesen früheren Werken schuf EMIL KRAEPELIN seine Dementia praecox und die klassische Beschreibung der Symptome, der Formen, des Verlaufs und der Prognose dieser „unheilbaren Krankheit“ (a.a.S.).

Den Begriff als solchen führte der Schweizer Psychiater EUGEN BLEULER (1956 - 1939) ein. Er schlug 1911 vor, den bisherigen KRAEPELINschen Begriff „Dementia praecox“ durch den der „Schizophrenie“ zu ersetzen. Und das hatte gute Gründe: Wie schon erwähnt, ging die Dementia praecox mit der Vorstellung der Unheilbarkeit und der schlechten Aussicht über ihren Krankheitsverlauf einher. Der neue, aus dem Griechischen stammende Begriff der Schizophrenie, der häufig mit Spaltungsirresein übersetzt wird (vgl. Peters, 1983, S. 357), deutet auf eine Zersplitterung und Aufspaltung des Denkens, Fühlens und Gefühls der betroffenen Person hin.

Diese Diagnose war nun nicht mehr mit einer bleibenden Persönlichkeitsveränderung identisch, sondern ließ eine Heilung der schizophrenen Erkrankung zu. Den Wechsel der Namensgebung begründete BLEULER auch damit, dass die beobachteten „Defekte“ nicht als „ein intellektueller Abbau, sondern als eine emotionale Störung“ aufzufassen seien , „die durch eine Gefühlsverarmung und das Auftreten inadäquater Affektzuständen“ gekennzeichnet sei , „die mit den Denkinhalten der betroffenen Person nicht übereinstimmen. ...“ (eb., S. 358).

BLEULER hat somit erkannt, dass die Schizophrenie nicht als eine einzige Krankheitseinheit aufzufassen sei, sondern eine Gruppe verschiedenartiger Krankheitsformen aufweist, weswegen er auch von der „Gruppe der Schizo-

phrenien“ (Bleuler, 1911) spricht, die sich unter Form von Primär- und Sekundärsymptomen manifestiert. Eine nähere Beschreibung dieser Symptome erfolgt im Kapitel 1.4.1 dieser Arbeit.

Bei der Bezeichnung „Schizophrenie“ handelt es sich also nicht um eine einheitliche, klar abgegrenzte psychische Erkrankung oder Störung, sondern, wie vorher erwähnt, um eine Gruppe verschiedenartiger Krankheitsformen, die hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Ursache noch nicht genügend erforscht sind. Während sie einige klinische Merkmale gemeinsam hat, lässt sich jedoch bezüglich des Verlaufs und des Ausgangs (s. Kapitel 1.6) keine Einheitlichkeit feststellen.

Der von BLEULER eingeführte Terminus der Schizophrenie hat im Laufe seines fast neunzigjährigen Bestehens unterschiedlichste Auslegungen erfahren. Während Psychiater wie GRIESINGER (1817-1868) und KRAEPELIN noch von der Annahme ausgingen, die Ursache der Geisteskrankheit wäre somatogen bedingt, ihr läge eine Gehirn- oder Stoffwechselkrankheit zugrunde, behauptete BLEULER (1911) ebenfalls, dass die Schizophrenie „Folge eines körperlichen Krankheitsprozesses“ (Peters, 1983, S. 375) wäre, schränkte jedoch ein, dass es dafür keine Beweise gäbe.

Erst mit SIEGMUND FREUD (1856-1939) wurde eine neue, die psychoanalytische Vorgehensweise begründet. Er verstand unter Schizophrenie einen „Rückzug der Libido von den Objektbeziehungen“ (Redlich & Freedmann, 1976, S. 668). Nach FREUDs Auffassung mache die Abwendung des Schizophrenen von der Außenwelt es dem Psychoanalytiker möglich, den Schizophrenen mit herkömmlichen Mitteln der Psychoanalyse zu heilen. FREUDs Verdienst bestand darin, erstmalig eine Entmystifizierung dieses Personenkreises vorgenommen und den bisherigen Verständnisrahmen gesprengt zu haben (siehe mehr dazu im Kapitel 2.3.1 dieser Arbeit).

Die sogenannte Palo-Alto-Schule mit ihren wichtigsten Vertretern BATESON und WATZLAWICK sieht in der Schizophrenie die Folge pathogener Familienstrukturen und der darin vorherrschenden krankmachenden Kommunikationsstrukturen.

Nach P. MÜLLER gehört zum Wesen der Schizophrenie - ähnlich wie bei BLEULER - „die Aufsplittung des Denkens, Fühlens und Erlebens. Reale und alltägliche Wahrnehmungen werden mit anderen unüblichen Bedeutungen verknüpft, die innerseelischen Verbindungen sind ver-rückt, was zur Entstehung eines irritierenden ‘Chaos’ führt.“ (Müller, 1988, S. 52 ff).

Eine gesonderte Stellung nimmt die Mitte der 60er Jahre auftretende Bewegung der „Antipsychiater“ (LAING, COOPER, SZASZ) in ihrer Betrachtungsweise der Schizophrenie ein, worüber ich mich bereits im Kapitel 1.1 ausführlicher auseinandergesetzt habe.

1.3 Allgemeine Probleme der Schizophrenie (Schlagwort Schizophrenie, Schizophrenie in den Medien, Schizophrenie als Vorurteil und Stereotyp)

Der Begriff Schizophrenie wurde bereits kurze Zeit nach seiner Einführung durch BLEULER (1911) zu einem negativen Schlagwort, das dem vorherigen der vorzeitigen Verblödung (dementia praecox) in nichts nachsteht. In einer Umfrage unter medizinischen Laien zeigt STUMME in seiner Studie „Psychische Erkrankungen - im Urteil der Bevölkerung“ (1974), dass mit dem Wort schizophren vierunddreißig weitere Begriffe wie verrückt, irr, geisteskrank, schwachsinnig u.ä. eng verknüpft sind. Schizophrene werden von der Bevölkerung als irre, geistesgestört, idiotisch und verrückt bezeichnet. Wie KATSCHNIG (1984) feststellt, hat das Fehlen unmittelbarer Erfahrung im Umgang mit schizophrenen Menschen dazu beigetragen, dass sich die so entstandene Erfahrungslücke mit irrigen Assoziationen füllen konnte, deren eine der Terminus der gespaltenen Persönlichkeit ist, wie das bereits vorher erwähnt wurde.

Die Vorurteile gegenüber Menschen, die an einer seelischen Krankheit leiden, sind auf Jahrhunderte langen Aberglauben und die daraus resultierenden Missverständnisse zurückzuführen. In früheren Zeiten waren sehr viele Patienten mit derartigen Erkrankungen über lange Perioden ihres Lebens in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht („verwahrt“) und damit dem Blick der Gesellschaft weitgehend entzogen. Die Angst vor solchen Anstalten sowie deren ominöser Nimbus wurden auf die Patienten übertragen, die dort behandelt werden mussten. Außerdem gab es bis vor knapp fünfundfünfzig Jahren noch keinerlei wirksame Behandlungsmethoden der Geisteskrankheiten insgesamt.

Das Vorurteil gegenüber seelisch Kranken taucht allerdings immer dann auf, wenn Geisteskrankheit als abwertendes Merkmal, d. h. als Stigma bezeichnet wird. In der Meinung der Bevölkerung ist es schlimm, wenn jemand geisteskrank und, noch schlimmer, wenn er schizophren ist. Die Furcht vor Geisteskrankheit oder die Vorstellung, dass das etwas sei, dessen man sich schämen müsse, führt zu ihrer Verleugnung. Für Betroffene und deren Angehörige bedeutet die Diagnose der Schizophrenie eine große Belastung. Schizophrene werden als abnorme Menschen betrachtet, von denen man nie weiß, ob sie nicht bösartig oder sogar gewalttätig werden. Dem Schizophrenen wird großes Misstrauen entgegengebracht, weil er, wenn er sich in sein Schneckenhaus zurückzieht, den Eindruck erweckt, entweder vor der Welt Angst zu haben oder die Welt abzulehnen. Es ist lediglich der Eindruck, den der Schizophrene anderen und oft auch sich selbst vermittelt. Seine Krankheit hat ihn dazu gebracht, diese Haltung zum Schutz gegen das Misstrauen zu entwickeln, von dem er selber erfüllt ist. Sein geheimer Wunsch ist es jedoch, wieder Teil der menschlichen Gemeinschaft zu werden.

Der absolut unbegründete Glaube, dass man nichts dagegen tun kann, führt auch heute noch dazu, die Krankheit zu verleugnen. Tatsache ist jedoch, dass etwa jeder dritte Patient wieder völlig gesund wird und sich der Zustand von mehr als einem Drittel der Patienten insoweit bessert, dass diese ein angemessenes Leben führen können (vgl. Arieti, 1985, S. 26).

Schizophrenie ist ein Begriff, dessen sich alle wichtigen Nachrichten- und Informationsmedien wie Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen durchaus großzügig bedienen. Bisweilen erklärt man berühmte Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Literatur, Theater oder Film für schizophren, um den Gegner in den Augen der Öffentlichkeit herabzumindern; dann wiederum hängt man dieses Etikett den armseligsten Menschen der Gesellschaft an, wenn man sie eines Verbrechens schuldig glaubt.

Manche Filmproduzenten, denen es weder auf die aufklärerische Seite ihrer Werke noch auf das Unheil ankommt, das sie durch die Verbreitung unter der Bevölkerung des Vorurteils gegenüber Betroffenen stiften, entstellen oft das Patienten-Image des Schizophrenen, einzig und allein in der Absicht die Kinokassen - sprich die eigenen Taschen - zu füllen.

Doch oft liefert die Schizophrenie für die Kunst ein dankbares Thema. So sind aus der Literatur große und wertvolle Werke für die Nachwelt geschaffen worden: „Lenz“ von Georg Büchner, die Alterslyrik Hölderlins, die Jugendwerke des Hugo von Hofmannsthal, selbst Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ u. v. m. Im Jahr 1922 veröffentlichte der Heidelberger Psychiater PRINZHORN (vgl. Demuth, 1987, S. 3) die erste große und umfangreiche Sammlung von Malereien, Schnitzereien, Zeichnungen psychiatrisch Kranker, vor allem Schizophrener, die von großem schöpferischem Wert sind. Im selben Jahr, 1922, unterzog KARL JASPERS die Kunst des schizophrenen van Gogh einer ausführlichen Analyse. 1921 machte der Psychiater MORGENTHALER auf das große bildnerische Werk des seit 1895 hospitalisierten chronischen Schizophrenen Adolf Wölfli (1864 - 1930) aufmerksam und verkaufte etwa vierhundert seiner Zeichnungen. Seit ca. zwanzig Jahren existiert eine Wanderausstellung dieses schizophrenen Künstlers (a.a.S.), die von beachtlichem Interesse verfolgt wurde. Verfolgt man den Gebrauch von Wörtern aus dem Bereich des Psychischen, so fällt einem auf, wie diese - gedankenlos ausgesprochen - zu Stereotypen in der Alltagssprache werden und in der normalen Unterhaltung, in Anekdoten und Witzen das negative Bild schizophrener Menschen weiter verbreitet. Unzählige sogenannte Irrenwitze in Tageszeitungen sowie Ausdrücke wie: „das ist ein irrer Typ“, „das ist ja schizo“, „Wahnsinn“, „der rannte wie wahnsinnig“, „er spinnt“, Drehst du jetzt ganz durch?“ u.a., die fast in allen Comic-Heften für Kinder und Jugendliche vorkommen, können dazu beitragen, dass sich das negative Bild seelischer Erkrankungen weiter festigt, wenn auch ohne böse Absicht.

Wie mehrere Untersuchungen zeigten, bewirkt eine reine Informationsvermittlung über das Wesen psychisch Kranker kaum eine Einstellungsänderung ihnen gegenüber. Erst unmittelbare gemeinsame Gruppenkontakte führten zu einer positiveren Haltung diesen Kranken gegenüber und ließen einen Abbau negativer Einstellungen ihnen gegenüber erkennen (eb. S. 7).

1.4 Symptomatik und Klassifikationssysteme der Schizophrenie

Wie bereits weiter oben erwähnt, hat es fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich - seit der KRAEPELINschen Dementia praecox über die Prägung des Begriffs Schizophrenie im Jahr 1908 durch E. BLEULER - aus der Fülle der Beobachtungen und Meinungen ein Schizophreniebegriff gebildet hat, der allerdings erst seit ca. zwanzig Jahren mit etwa derselben Verläßlichkeit diagnostiziert werden kann, wie andere psychische Störungen auch (vgl. Watzl & Cohen, 1998, S. 819). Bis dahin gab es so große Unterschiede bei einem Vergleich der Schizophrenie-Diagnosen in Europa und den USA, dass die Diagnose Schizophrenie angezweifelt werden konnte. Keine andere diagnostische Kategorie wurde so häufig diskutiert und revidiert wie jene der schizophrenen Störung. Ein Grund dafür liegt im Fehlen einer so genannten schizophrenen Leitsymptomatik (a. a .S.), die für die Diagnose als spezifisch oder notwendig anzusehen wäre. Bekanntlich gehen dem eigentlichen Ausbruch der Schizophrenie jahrelange Symptome voraus, vor allem veränderte Wahrnehmungen oder Denkvorgänge, veränderte körperliche Sensationen, verminderten Antrieb, Eifersuchts- oder Verfolgungsideen. Im Prinzip wird zwischen einer schizophrenen Plus- und einer schizophrenen Minussymptomatik unterschieden. Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die daran gekoppelten BLEULERschen und SCHNEIDERschen Symptome einzugehen (nachzulesen in Peters, 1983, S. 374 - 376 bzw. S. 382 - 383), sei erwähnt, dass mit Plussymptomen die produktiven (positiven) Symptome, wie z.B. Halluzinationen oder Wahrnehmungen gemeint sind, mit Minussymptomen hingegen ein Mangel beschrieben wird (z.B. Verarmung an Gefühlen und Antriebsstörungen). Obwohl all diese Symptome bei relativ vielen Menschen z.B. in Zeiten starker Belastung auftreten können, zieht das in der Regel noch nicht die Diagnose Schizophrenie nach sich. Der Beginn der Ersterkrankung kann deshalb häufig nur retrospektiv eingeschätzt werden, nachdem sämtliche Symptome analysiert und diagnostiziert worden sind. Dies führte zu unterschiedlichen diagnostischen Klassifikationskriterien bei verschiedenen Autoren.

Die Symptome der Schizophrenie wurden in bestimmte Systeme klassifiziert. Die wichtigsten sind ICD (International Classification of Diseases von DEGK-WITZ et al 1980), DSM (Diagnostisches und statistisches Manual der American Psychiatric Association), RDC (Research Diagnostic Criteria von Spitzer et al. 1978 sowie PSE (Present State Examination von WING et al. 1974). All diese standardisierten internationalen „Inventare“ umfassen detaillierte Beschreibungen der Hauptkennzeichen schizophrener Störungen.

Diese Hauptkennzeichen der Schizophrenie sind folgende (vgl. Müssigbrodt et al., 1996, S. 43ff.):

1. Störungen des formalen Denkablaufs (einzig essentielle Störung bei allen Formen): ungeordnetes Denken mit sprunghaftem Wechsel der Themen, Konzentrationsstörungen mit vermehrter Ablenkbarkeit, lose Assoziation, Inkohärenz
2. Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen (inhaltliche Denkstörungen): wahnhafte, bizarre Überzeugungen (Verfolgungs- oder Vergiftungswahn), Körpergefühlsstörungen, Halluzinationen (meist akustische, z.B. Stimmenhören), Reizüberflutung
3. Motorische Störungen: bizarres Verhalten, schnell wechselnde, vollständige Aufhebung der Kontrolle über Bewegungsabläufe und Reaktionsfähigkeit (Katatonie), Überaktivität, zunehmender Rückzug
4. Affektive Störungen: flach und unangepasst, ambivalent zwischen Extremen schwankend (Euphorie oder aggressive Erregung)
5. eingeschränkte oder aufgehobene Fähigkeit zur Selbstfürsorge (Bekleidung, Essen, Körperpflege) und zur Bewältigung von alltäglichen Aufgaben (Haushalt, Arbeit)
6. Soziale Isolation: kaum Freunde, wenig sexuelles Interesse, kontaktscheu.

Obwohl die o. a. internationalen Standardisierungen bei der Diagnose von Schizophrenie die dargestellte Symptomatik verwenden, unterscheiden sich die einzelnen Klassifikationssysteme jedoch hinsichtlich der für die Diagnosestellung aufgestellten Forderungen. Und da wegen unterschiedlichen diagnostischen Klassifikationen der Symptomatik die Suche nach ätiologischen Faktoren wenig Erfolg versprechend und das Ziel einer Behandlung weit entfernt war, stand in den letzten zwanzig Jahren die Vereinheitlichung der Klassifikation im Zentrum wissenschaftlichen Bemühens. Durch die letzte Revision der beiden am häufigsten verwendeten Verfahren ICD und DSM wurden diese weitgehend aneinander angeglichen. Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel von ICD-10 und DSM-IV dargestellt werden.

1.4.1 Die ICD (International Classification of Deseases)

ist als Krankheitsklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach wie vor international (mit Ausnahme der USA) am gebräuchlichsten, um psychiatrische Störungen zu diagnostizieren. Neben der Kurzbeschreibung psychischer Störungsgruppen wird eine klare Definition der Erkrankungen zwecks diagnostischer Abgrenzung gebracht, und für die einzelnen Störungsgruppen therapeutische Empfehlungen im Sinne psychotherapeutischer und pharmakologischer Interventionen erarbeitet. Im Jahr 1994 wurde aufgrund neuer Erkenntnisse die ICD-9 durch die ICD-10 ersetzt (vgl. Müssigbrodt et al., S. 44 ff.).

Die ICD steht mit dem DSM, dem „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ „in Konkurrenz“, obwohl eine Angleichung weitgehend stattgefunden hat.

1.4.2 Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches u. Statistisches Manual Psychischer Störungen)

Das DSM-IV klassifiziert psychische Störungen nach einem Beurteilungsschema, das unter Form eines „Entscheidungsbaumes“ eine multiaxiale Struktur aufweist und u. a. auch die Dauer einer Störung sowie die mit ihr verbundenen psychosozialen Einschränkungen erfasst. Dieses, vorwiegend in den USA, aber auch bei internationalen Forschungen gebräuchliche diagnostische Manual, ist vorwiegend deskriptiv ausgerichtet. Allgemeine Bedingung für die Diagnose Schizophrenie ist, dass die Symptome der Krankheit ununterbrochen über mindestens sechs Monate währen.

1.4.3 Kurzer Vergleich der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV

Dass die beiden Klassifikationssysteme ICD und DSM aneinander angeglichen worden sind, ist aus folgender Aufstellung der schizophrenen Störungen ersichtlich:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die jeweils ersten drei „klassischen“ Formen der Schizophrenie entsprechen weitgehend jenen von KRAEPELIN. Seither hat man immer wieder versucht, symptomatisch homogene Untergruppen von Symptomen zu identifizieren, um die Vorhersagbarkeit des Krankheitsverlaufs zu verbessern. Die Erfolge sind bislang wenig eindrucksvoll und obwohl die beiden Klassifikationssysteme aneinander angeglichen worden sind, liegen trotzdem noch Unterschiede vor. Wie aus nachfolgender Tabelle - in Anlehnung an MÜßIGBRODT (1996) und American Psychiatric Association (1994 - gekürzt aus Baumann et al., S. 821) - hervorgeht, liegen diese in der erforderlichen Störungsdauer von sechs Monaten (DSM-IV) gegenüber einer einmonatigen akut-psychotischen Phase nach ICD-10 sowie in den unterschiedlichen Entscheidungsregeln zur Trennung affektiver und schizophrener Störungen (vgl. Watzl & Cohen, 1998, S. 820). Diese Regeln der Diagnostizierung wurden zuletzt in jeder neuen Version der Klassifikationssysteme geändert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abschließende Bemerkungen zu ICD und DSM:

Trotz internationaler Standardisierung ist die Diagnostik der Schizophrenie wenig zuverlässig und erlaubt keine klare Trennung zwischen den verschiedenen Schizophrenieformen, sowie keine präzise Prognose über Verlauf und Therapieindikation (vgl. Helmchen, 1988).

Zwar ist eine Reihe von Kritikpunkten hierzu geäußert worden, deren wohl wichtigster „die Vermischung beschreibender Aspekte mit ätiologischen Annahmen ist“ (Bastine, 1981). Inzwischen ist ein Teil dieser Kritik mit der erneuten Revision der ICD allerdings gegenstandslos geworden, da die ICD-10 sich der statistisch-deskriptiven Klassifikation des DSM-IV nähert (s. weiter oben).

Ziemlich skeptisch und sichtlich enttäuscht, stellt FINZEN (2000) in seinem Beitrag „Modernisierung und Moden der Psychiatrie“ unter dem Titel „ICD-10 und DSM-IV: Seitdem ist alles anders“ folgendes fest: „Bemerkenswert ist allenfalls die Geschwindigkeit, mit der die Moden heute wechseln. Was damals anderthalb Jahrhunderte in Anspruch genommen hat, vollzieht sich heute innerhalb von drei Jahrzehnten. Wir wissen, was die Modernisierung der Psychiatrie während der vergangenen drei Jahrzehnte für die psychisch Kranken ... gebracht hat Viel schwerer ist es, wahrzunehmen, was die rasante Forschungsentwicklung ... dazu beigetragen hat. Der psychiatrische Alltag unterscheidet sich ... wenig von dem, den ich zwischen 1968 und 1974 in der Tübinger Nervenklinik erlebt habe. Das heißt, er würde sich wenig unterscheiden, wenn nicht die neuesten Klassifikationssysteme, die ICD-10 und das DSM-IV über uns hereingebrochen wären. ... Seitdem ist alles anders. Zumindest benennen wir fast nichts mehr, wie es war. ... Es kommt nicht mehr exogen vor endogen und psychogen. Auch die Neurose ist abgeschafft (DSM-IV) oder gehörig degradiert (ICD-10). Selbst mit den Psychosen ist nichts mehr wie es war, wie in den Vorbemerkungen zum ICD-10 nachzulesen ist. ... und wir reden nicht mehr von Krankheiten, sondern von Störungen. Wir werden darauf hingewiesen, dass die neuen Diagnosensysteme atheoretisch und nicht ursachenorientiert sind und dass sie bei der Diagnosenstellung bewusst auf die soziale Dimension verzichten“. (Finzen, 2000, S. 54)

FINZEN wundert sich nicht, dass der Engländer Jim Birley im Zusammenhang mit den neuen Klassifikationssystemen schon früh vom ‘essentiali-stischen Wolf im nominalistischen Schafspelz’ gesprochen hatte. Er meint, dass das Dilemma, das daraus mutmaßlich erwachsen sei, bislang noch nicht ausreichend deutlich geworden sei : „Zehntausende deutschsprachiger Psychiater und Psychiaterinnen befleißigen sich in einer Art doppelter Buchführung, die wir unseren schizophreniekranken Patienten nachsagen: Sie reden in ICD-10 und denken in ICD-9. Zahlreiche Praktiken erklären das ganz offen.“ (a. a. S.).

Abschließend stellt FINZEN die Frage, ob im psychiatrischen Alltag nicht doch alles beim alten geblieben sei, denn schizophrene Psychosen werden immer noch mit Neuroleptika behandelt - Gott sei Dank mit weniger als vor zehn Jahren - und Depressionen immer noch mit Antidepressiva.

Was sich auch kaum geändert hat - so FINZEN - seien u. a. die psychotherapeutischen Verfahren. Seiner Meinung nach habe im ärztlichen Bereich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie immer noch den Vorrang, auch wenn die kognitive Verhaltenstherapie auf dem Vormarsch ist. Dass die Psychoedukation an die Stelle klassischer soziotherapeutischer Ansätze tritt, ist in seinen Augen nur ein begrenzter Fortschritt. Desgleichen ist die Tatsache, „dass um die (preisgünstigen) alten und die (teuren) neueren Neuroleptika ein ‘Glaubenskrieg’ geführt wird“, kaum nachvollziehbar (a. a. S.).

FINZEN hofft - und damit spricht er vielen, auch mir, aus dem Herzen - dass sich der Umgang mit den psychisch Kranken und ihren Angehörigen sowie die Bereitschaft zur Aufklärung und zur Kooperation modernisiert haben. „Ein wirklicher Fortschritt ist auch, dass kaum jemand mehr ernstlich daran zweifelt, dass die langzeitige Therapie einer länger dauernden Krankheit nicht mehr gelingen kann, ohne dass die Kranken selber als Partner aktiv und mitbestimmend daran mitwirken.“ (a. a. S.).

1.5 Erklärungsansätze zur Entstehung der Schizophrenie (Ursachenforschung)

Eine einzige Ursache für Schizophrenie scheint nicht zu existieren, wenn auch immer wieder von verschiedenen Richtungen der Versuch unternommen wurde, die Erkrankung monokausal zu erklären.

So versuchten es seit KRAEPELIN und BLEULER eine Reihe von Wissenschaftlern, meist Erbforschern, wie KALLMANN, KETY, ROSENTHAL, SLATER, SHIELDS, TIENARI, WENDER, ZERBIN-RÜDIN u. a. aufgrund von umfassenden Zwillingsuntersuchungen und Adoptionsstudien genetische Ursachen für die Schizophrenie festzulegen. Eindeutige Erfolge, einen für die Schizophrenie charakteristischen Erbgang nachzuweisen, sind mangelhaft geblieben: Es ist nämlich gänzlich nebulös, was eigentlich durch die schizophrene Erbanlage übertragen werden soll. In dieser Hinsicht ruhen alle Hoffnungen der Genetiker auf ihren Kollegen von der Bio-Chemie und selbst die überzeugten Verfechter der genetischen Schizophrenietheorie negieren heute nicht mehr pauschal den Einfluss von Umweltbedingungen auf die Schizophrenie. Ihrer Meinung nach „könne sich die genetische Konstitution erst in der Interaktion mit der Umwelt als „Schizophrenie“ manifestieren“ (Stauth, 1982, S.33). Die Theorien der Erbforscher mögen auf den ersten Blick durch ihre wissenschaftliche Präzision bestechen und sind tatsächlich auch gegenwärtig noch ein Grundpfeiler der traditionellen Lehrbücher (mehr dazu in WEITBRECHTs Lehrbuch, 1973, sowie ALANENs skandinavischen Ergebnisse von 1985). Es gibt jedoch genügend Gründe, bestimmten Statistiken mit Misstrauen zu begegnen und Zweifel an dem theoretischen Fundament solcher Studien zu äußern (vgl. u. a. Stauths Kritik des genetischen Ansatzes, 1982, S. 34 ff.).

Neben den genetischen sind die über ein Jahrhundert erhobenen anatomischen, später neurologischen und bio-chemischen Forschungen zu erwähnen, die davon ausgehen, dass die Geistskrankheiten Gehirnerkrankungen wären. Die Ursprünge des chemisch-biologischen Ansatzes der Schizophrenieforschung lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. So berichtet KETY von einem Biologen namens Thudichum, der schon 1884 die Hypothese vertrat, „dass wahrscheinlich viele Formen von Geisteskrankheiten das Resultat giftiger Substanzen sind, die im Körper selbst entstehen, so wie Alkoholpsychosen das Resultat einer giftigen Substanz sind, die außerhalb des Körpers gebildet wird.“ (Kety, 1975, S.15).

Es gibt natürlich die skurrilsten Forschungsprojekte, die die Verursachung der Schizophrenie auf bio-chemische, anatomische und neurologische Tatsachen zurückzuführen versuchen: unterschiedliche Stoffwechselvorgänge und Vitamin-C-Mangel (vgl. Alexander, 1969, S. 37), unterschiedliche Widerstandskraft gegenüber Infektionen und folglich jahreszeitlich abhängige „schizophrene Geburten“ (vgl. Stauth, 1982, S. 44), Verunreinigung des Blutes bei Blutwäsche durch toxische Substanzen (vgl. Bradley, 1985), Über- und Unterproduktion eines neuro-chemisch bedeutsamen Stoffes im Gehirn. Die am häufigsten diskutierte bio-chemische Schizophrenietheorie ist die so genannte Dopaminhypothese, derzufolge eine Hyperaktivität dopaminerger Neuronen im Gehirn vorläge. Diese Theorie hat viele Anhänger gefunden und wird besonders durch die recht erfolgreiche Anwendung der Psychopharmaka seit den 50er Jahren sowie durch die Entdeckungen der Nebenwirkungen des Chlorpromazin als Schlüssel zum Verständnis der Schizophrenie gewertet (vgl. Huber, 1979, S. 461). Wie diese These im einzelnen begründet und durch weitere Befunde unterstützt wird, andererseits aber auch wieder eingeengt und weiterentwickelt wurde, ist bei N. MATUSSEK (1982) nachzulesen.

Die Tatsache, dass bio-chemische Untersuchungen bis heute zum Verständnis von Menschen, die als schizophren bezeichnet werden, kaum etwas beitragen konnten, wird selbst von vielen auf diesem Gebiet engagierten Autoren anerkannt (z.B. IVERSEN). Dies gilt in ähnlicher Weise für bekannte Lehrbücher der Psychiatrie.

Andere Psychiater wie HUBER, FINZEN u.a. halten an der Dopamintheorie fest, und versuchen eine auf Psychopharmaka fixierte Therapie borniert zu verteidigen, da sie um ihre Kompetenz und Zuständigkeit in der Psychiatrie fürchten und gleichzeitig ihren Status innerhalb der Medizin bewahren wollen (vgl. Stauth, 1982).

Insgesamt blieben auch die anatomischen, neurologischen und bio-chemi-

schen Theorien der Schizophrenie in ihrer Einseitigkeit der Ursachenerklärung weitgehend ergebnislos.

Die dritte Hauptlinie in der ätiologischen Forschung ist die psycho- und soziogenetisch orientierte Richtung, die sich um die Erforschung der psychosozialen Einflüsse auf die Entstehung und den Verlauf der Schizophrenie bemühte. Doch hier sind aufgrund der Komplexität der Umwelteinflüsse die empirisch gesicherten Erkenntnisse noch schwieriger von den Hypothesen zu trennen als auf dem Gebiet der naturwissenschaftlich orientierten Richtungen. ARIETI, BATESON et al., BENEDETTI, BOWEN, FROMM-REICHMANN, KISKER, LIDZ, MATUSSEK, ROSEN, SEARLES, SÜLLWOLD, SULLIVAN, TRIEBEL, WYNNE sind nur einige Forscher, die systematische familien-soziologische Untersuchungen zur Ätiologie der Schizophrenie durchführten, die sich genauso wie die bisher erwähnten trotzdem nur als einseitige Erklärungsmodelle für die Psychogenese der Schizophrenie erwiesen.

Die heute am meisten diskutierten Modelle zur Erklärung der Schizophrenie sind an Begriffe wie kognitive Basisstörungen und Vulnerabilität (Verletzlichkeit) gekoppelt. Während letzteres einen multikausalen Erklärungsansatz darstellt, kann man das Konzept kognitiver Basisstörungen als einen bedeutenden Mosaikstein der Vulnerabilität auffassen. Beide Konzepte bieten bedeutsame Erklärungen und therapeutische Ansatzpunkte, auf die ich im Kapitel 2.5.2.2 meiner Arbeit noch einmal zurückgreifen werde, um die Entstehung der Schizophrenie aus systemischer Sicht zu erklären.

1.5.1 Zum Konzept der „kognitiven Basisstörungen“

Dieses Konzept wurde aufgrund von verlaufspsychiatrischen Langzeitstudien und experimentalpsychologischen Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten entwickelt (BÖKER & BRENNER 1983, HUBER 1961, HUBER, GROSS & SCHÜTTLER 1979, SÜLLWOLD 1977, 1986, 1990) und basiert letztlich auf der Auffassung E. BLEULERs (1911), der Primär- oder Grundsymptome von so genannten akzessorischen Symptomen der Schizophrenie unterschied. Das Konzept geht von der Annahme einiger grundlegenden kognitiven Defiziten bei Schizophrenie aus - BLEULER nennt sie „substratnahe Störungen“ (vgl. Huber, 1983) - die im Zusammenwirken mit anderen Einflussfaktoren, wie z.B. Persönlichkeit, individueller Vorgeschichte, Umweltbedingungen, zu dem führen, was schließlich als komplexes typisch schizophrenes Erscheinungsbild auffällt. Der Ausdruck ‘ Basisstörungen’ - nach HUBER, ‘Basissymptome - impliziert also die Annahme, dass die vielzähligen symptomatischen Erscheinungen auf wenige zentrale Defizite zurückzuführen sind. Diese sind nach SÜLLWOLD als Indikatoren für verändert ablaufende psychische Prozesse anzusehen (vgl. Süllwold, 1986, S. 4)

HUBER zählt zu den schizophrene Basissymptomen u.a. zentral-vegetative Dysfunktionen, sensorische Störungen sowie die Gesamtheit kognitiver Basisstörungen (vgl. 1981, S. 210 ff.). Diesbezüglich meint er: „Liegt die prima causa in einer Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung, der angemessenen Interaktion zwischen sensorischen Umweltsignalen und Wiedererkennung von Mustern an Hand der gespeicherten Gedächtniserfahrungen, sind sämtliche kognitiven Funktionen, Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Erinnern, Urteilen, und sekundär auch die Affektivität gleichermaßen involviert. (...) Es ist durchaus vorstellbar, dass sich auch komplexere, typisch schizophrene Erlebnisweisen und Verhaltensstörungen aus den Basisstörungen entwickeln, wie z.B. Wahnwahrnehmungen aus den sensorischen Störungen ...“ (Peters, 1983, S. 401).

SÜLLWOLD zählt zu den kognitiven Basisstörungen, von ihr kognitive Primärstörungen genannt, all diejenigen Basisdefizite, die von Patienten als Denk-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen geschilderten Symptome, die ziemlich regelmäßig nachweisbar sind. Es sind dies unter anderem Störungen des Gedächtnisses, des Denkens, der Sprache, der Motorik (Blockierungen) und der selektiven Aufmerksamkeit. Konkrete Beispiele hierzu können in SÜLLWOLD & HUBERs Buch „Schizophrene Basisstörungen“, 1986, Seite 1 - 38 entnommen werden. Nach SÜLLWOLD hat die Herausarbeitung der Basisstörungen erhebliche Konsequenzen für die Rehabilitations- und Behandlungskonzepte. So könnten z.B. spezielle Trainingsprogramme zur Wiederauffrischung von Arbeitsabläufen oder zur Verbesserung von Lesefähigkeit und Sprechen führen.

Zusammenfassend dazu meint HUBER: Die Basissymptome sind für die Kranken die unmittelbare Erfahrung dessen, was von Psychiatern wie ZUBIN als ‘besondere Vulnerabilität’ konzeptionell entwickelt wurde.“ (eb., S. 90).

1.5.2 Zum Vulnerabilitätsmodell (in der Ich-Psychologie und in der Life-Event-Forschung)

Der modernste Ansatz zur Erklärung einer multikausalen Genese der Schizophrenie ist das so genannte Vulnerabilitätsmodell. Dieses Konzept (ZUBIN & SPRING, 1977; CIOMPI, 1989) bietet ein sehr plausibles Modell für das Zusammenwirken verschiedenster Faktoren bei der Auslösung der Schizophrenie. Demnach ist grundsätzlich jeder Mensch „psychosefähig“, d.h. jeder Mensch ist mit einer bestimmten Verletzbarkeit („Vulnerabilität“) gegenüber einer schizophrenen Erkrankung ausgestattet. Der individuelle Grad der Vulnerabilität ist abhängig von biologischen (z.B. genetischen Prädispositionen) und ungünstigen psychosozialen Faktoren (z.B. die frühkindliche, familiäre Situation). Ein solcherart beeinträchtigter Mensch hat eine verminderte Fähigkeit, mit komplexen emotionalen und kognitiven Situationen umzugehen und gerät demnach leichter unter Stress. Wird dieser zu hoch, kann die individuelle Vulnerabilitätsschwelle überschritten werden, und es kommt zu einem schizophrenen Schub. Diese Schwelle ist für gesunde Menschen so hoch anzusetzen, dass sie selbst bei sehr hohen Belastungen - seien diese somatischer, intrapsychischer, sozialer oder interpersoneller Natur - kaum gefährdet sind. Bei zur Schizophrenie neigenden Menschen liegt diese (hypothetische) Schwelle niedriger, so dass sie leichter überschritten werden kann und zur Auslösung einer Psychose führen kann. Zum Überschreiten der Vulnerabilitätsschwelle kommt es folglich nur dann, wenn eine Bewältigung der situativen und intrapsychischen Anforderungen nicht mehr möglich ist.

Aus experimentalpsychologischer Sicht (vgl. Zubin, 1977) bedeutet Vulnerabilität, dass der schizophrene Mensch nach Belastungen zu Informationsverarbeitungsstörungen neigt, die stufenweise zu einem psychologischen und biologischen Zusammenbruch führen. Die Überschreitung der Vulnerabilitätsschwelle kündigt sich durch Frühsymptome an.

Das Modell von ZUBIN wurde von LUC CIOMPI weiterentwickelt und ist heutzutage das populärste Konzept der Schizophreniegenese. CIOMPI, der hervorragendste Vertreter und Verfechter dieses Modells, definiert Schizophrenie als „eine prämorbide Informationsverarbeitungsstörung, deren Komponenten heterogen sein können: genetisch bedingte Enzymdefekte, neuronale Übererregbarkeit, verminderte neuronale Habituation, prä- und perinatale zerebrale Schädigungen, prägende frühkindliche Störungen der Mutter-Kind-Beziehung, widersprüchliche und zweideutige familiäre Kommunikationsmuster, abnorme Familienkonstellationen, schicht-, zeit- oder situationsspezifische soziale und kulturelle Einflüsse.“ (Ciompi, 1984, S. 18).

Der größte Vorteil dieses Modells ist sein multifaktorieller Ansatz, der eine vielfältige Forschungstätigkeit sowie eine effektivere Therapie der Betroffenen ermöglicht. Ausführlicher und unter dem systemischen Blickwinkel wird dieses Modell im Kapitel 2.5.2.2 beschrieben, da es eigentlich den Versuch einer systemischen Erklärung für die Genese der Schizophrenie darstellt.

Die Ich-Psychologie sieht in der Vulnerabilität Störungen der Ich-Funktionen (z.B. im Wahrnehmen, Urteilen, Antizipieren, Entscheiden), die die Anpassung beeinflussen. Auch die Verminderung von Beziehungsfähigkeit, Angst-, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz (vgl. Hartmann, 1972) als komplexe Anzeichen von Ich-Schwäche erschweren die Bewältigung äußerer oder innerer Belastungen. Ein Beispiel für solche belastenden Situationen, in denen Überforderungen auftreten können, ist der Nähe-Distanz-Konflikt (vgl. Kisker, 1962). Auch die emotionale Familienatmosphäre hat sich dabei als eine subtile Form der Belastung herausgestellt, die zumindest für den Verlauf und die Rückfallhäufigkeit schizophrener Psychosen von Bedeutung sein kann.

Die Life-Event-Forschung mit ihren wichtigsten Vertretern BROWN & BIRLEY, GOLDSTEIN, WYNNE & SINGER zeigt, dass in den Wochen vor dem Ausbruch der Schizophrenie vermehrt bedeutsame Lebensereignisse auftreten, die zu erhöhten Anpassungsleistungen zwingt und bei nicht ausreichender Bewältigungskapazität zu Überforderungen führen und schließlich einen psychotischen Rückfall provozieren können (vgl. Katschnig, 1980). BROWN & BIRLEY fanden 1968 in einer methodisch fundierten Untersuchung zumindest ein markantes Lebensereignis vor dem Einsetzen schizophrener Symptome bei 46% ihrer Patienten; der Vergleich mit normalen Kontrollen ergab in dieser Hinsicht einen Wert von 14%. Die Autoren hatten zunächst 60% ihrer Patienten aus der Untersuchung ausgeschlossen, da der Beginn ihrer Symptome nicht klar bestimmt werden konnte (vgl. Kisker, 1987, S. 128).

Doch es gibt eine Reihe von Untersuchungen, deren Ergebnisse klar dagegen sprechen, dass belastende Lebensereignisse eine wesentliche Rolle innerhalb der Verursachung von Schizophrenie spielen. So z.B. gibt es zu Kriegszeiten oder bei Naturkatastrophen keinen Anstieg der Schizophreniehäufigkeit und die Psychosen, die hier auftreten, sind von kurzer Dauer (a. a. S.).

Abschließend möchte ich nur kurz erwähnen, dass die Erklärungsansätze zur Entstehung schizophrener Erkrankungen mit den bisher skizzierten Theorien bei weitem nicht erschöpft sind. Wichtige Argumente der ätiologischen Diskussion stammen natürlich auch aus der Verlaufsforschung, über die ich zwecks Abrundung und Vervollständigung des Gesamtbildes der Schizophrenie unbedingt das folgende Kapitel 1.6 hinzufügen werde.

1.6 Verlauf und Prognose Heilungschancen der Schizophrenie Häufigkeit des Auftretens in der Bevölkerung

Heutzutage ist Schizophrenie - abgesehen vom Alkoholabusus - bei psychisch Erkrankten die häufigste Diagnose: etwa 0,3% - 0,4% der deutschen Bevölkerung sind laut einer Statistik von 1995 (vgl. Gruyters, 1995, S. 26) an Schizophrenie erkrankt. Auch beträgt das Lebenszeitrisiko, daran zu erkranken, hierzulande etwa 1% (vgl. Demuth, 1987, S. 8).

Epidemiologisch betrachtet (Epidemiologie ist die Lehre von der gesetzmäßigen, regelhaften Verteilung einer Krankheit), kann über die Häufigkeit des Auftretens der Schizophrenie folgendes festgehalten werden: Knapp 1% der Bevölkerung im europäischen Raum muss damit rechnen, im Verlaufe eines Lebens an Schizophrenie zu erkranken. Jedes Jahr zeigen sich 150 Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner (vgl. Scharfetter, 1986, S. 411). In Deutschland gibt es zu jedem Zeitpunkt etwa 180.000 Schizophrene, die nur zum Teil klinisch behandelt werden. In der ganzen Welt gibt es 9 Millionen Schizophrene (vgl. Authaler, 1996, S. 24). Die kulturellen Unterschiede sind offenbar gering, obwohl der Kulturkreis die Symptomatik der Erkrankung mitzubestimmen scheint (vgl. Demuth, 1987, S. 18). In einer Feldstudie einer kleinstädtisch-ländlichen Region in Südostbayern (im Landkreis Traunstein) fanden DILLING und WEYERER (1984) bei 0,4% der Personen schizophrene Erkrankungen. Für Mannheim lag dieser Anteil bei 0,54%, im Südtiroler Land Lüsen bei 1,4% (also recht hoch), in Monroe County (New York) bei 0,69% (eb., S. 12 - 13).

Die Erkrankungshäufigkeit Männer zu Frauen ist 1:1 (vgl. Scharfetter, 1986, S. 411). Zwischen Männern und Frauen ist jedoch ein Unterschied im Erkrankungsalter, Männer haben einen Mittelwert des Erkrankungsalters von 30 Jahren, Frauen von 36 Jahren. Auch ist der Manifestationsbeginn der Schizophrenie bei Männern früher (um das 17. - 18. Lebensjahr) als bei Frauen (20. - 25. Lebensjahr).

Aus DEMUTHs Erkenntnissen (1987) geht hervor, dass der Beginn der Krankheit im allgemeinen zwischen der Pubertät und dem 30. Lebensjahr bei 60% der Krankheitsfälle liegt, im 40. Lebensjahr bei 25%, danach nur noch bei 14%. Insgesamt steigt die Erkrankungsrate ab dem 14. Lebensjahr rapide an, um mit dem vollendeten 50. Lebensjahr deutlich abzusinken. Somit trifft die Erkrankung den aktivsten menschlichen Lebensabschnitt und beeinträchtigt erheblich die sozialen und beruflichen Verhältnisse der Betroffenen und ihrer Angehörigen.

Wie ist nun der Verlauf und die Prognose der Schizophrenie? Welches sind die Heilungschancen schizophren erkrankter Menschen? Um auf diese Fragen antworten zu können, greife ich erneut auf KRAEPELIN zurück, der über den Verlauf der Schizophrenie folgende Aussage traf:

„Die große Mehrzahl der geistigen Krüppel und Halbkrüppel nach dementia praecox sammelt sich allmählich in den großen Irren- und Pflegeanstalten an, ja, diese Kranken bilden, da sie nicht rasch absterben und oft ihr ganzes Leben in der Anstalt zubringen, geradezu die Hauptmasse der versorgungsbedürftigen Irren.“ (Kraepelin, 1915, S. 214). Demnach führten für KRAEPELIN irrtümlicherweise noch beinahe alle schizophrenen Erkrankungen zur Demenz. (Bei Demenz handelt es sich um den Verlust intellektueller Fähigkeiten aufgrund einer organischen Hirnerkrankung). Der Einfluss von KRAEPELINs Aussage war so gewaltig, dass die als geisteskrank auffällig gewordenen Patienten in Anstalten fern der Städte untergebracht werden mussten.

Aber schon mit E. BLEULER (1911) war der ungünstige Ausgang kein notwendiges Kriterium dieser Erkrankung mehr. Inzwischen weiß man, dass nur bei einem kleinen Teil schizophren Erkrankter ein vorzeitiges Nachlassen der Verstandeskräfte eintritt. Es kann also nicht mehr zwangsläufig von einem Fortschreiten, d.h. einem unheilbaren Verlauf bei Schizophrenie ausgegangen werden. Weiter liegen Erkenntnisse vor, dass die mit Schizophrenie einhergehenden Verluste der intellektuellen Fähigkeiten, des Gefühlslebens, der Ansprechbarkeit u.s.w. sich nicht grundsätzlich von den Verlusten bei Hirnerkrankungen unterscheiden.

Da früher Langzeituntersuchungen fehlten, die auch die außerklinischen Verläufe einbezogen (vgl. Muhs, 1986, S. 42), war lange die prinzipielle Unheilbarkeit der Schizophrenie als Regel angesehen. In kurzer Folge sind jedoch drei umfangreiche langfristige und untereinander gut vergleichbare mitteleuropäischen Schizophrenie-Verlaufsstudien erschienen: 1972 M. BLEULERs Züricher Untersuchung, 1976 CIOMPIs und MÜLLERs Untersuchung in Lausanne und 1979 die Bonner Studie von HUBER, GROSS und SCHÜTTLER, die zur Revision der Thesen von der Unheilbarkeit der Schizophrenie führten.

Untersucht wurden insgesamt ein Tausend Fälle innerhalb von zwanzig Jahren, und sie kommen zum Resultat, dass sich etwa bei der Hälfte der Erkrankten ein eher günstiger Verlauf feststellen lässt (53%, 49% bzw. 57%). Bei den Endzuständen finden sich übereinstimmend 20 - 29% Heilungen, 24 - 33% leichte, 24 - 29% mittelschwere und 14 - 24% schwerste Zustände: d.h. zu einem Viertel gute, milde, mittelschwere und schwerste Ausgänge (eb. S. 43). In der Langzeitstudie von M. BLEULER zeigt sich, dass Schizophrene in fünf Jahren nach dem Krankheitsbeginn im Durchschnitt zur Besserung und nicht zu einer Verschlimmerung der Krankheitssymptome neigen, und dass sie aus allen Schichten kommen, sich jedoch Jahre nach ihrer Erkrankung häufiger in unteren Sozialschichten befinden. Ähnliche Erfahrungen werden auch aus anderen europäischen Ländern, wie England und selbst aus Bulgarien (vgl. Marinow, 1959) gemeldet.

CIOMPI kam in seiner Studie u.a. zu folgenden Resultaten:

a) 26,6% aller Schizophrenien heilten
b) bei 22,1% fand sich ein leichter Endzustand (ca. 50% günstiger Verlauf)
c) bei 23,9% trat ein mittelschwerer Endzustand auf
d) bei 18% trat ein schwerster Endzustand auf (chronisch Kranke).

CIOMPI bezeichnet die „chronisch Schizophrenen“ als einen “ausgesprochenen Stein des Anstoßes, ... denn trotz allen Suchens und Forschens weiß niemand, was eigentlich mit ihnen los ist - warum sie so sind, wie sie sind, und wie sie überhaupt in ihre chronischen Zustände hineingeraten wären“ (Ciompi, 1983, S.134). Er unterstreicht weiterhin, dass die Psychiatrie ihnen oft nicht zu helfen vermag, weswegen sie Gefühle der Ohnmacht und des Versagens wecken. Andererseits, und vielleicht gerade deswegen, zwängen sie immer neu zum Nachdenken und zum Versuch, ihren Zustand besser zu verstehen.

DÖRNER bezeichnet jene Schizophrene als chronisch krank, die den Schutz der Psychose über längere Zeit brauchen, denn „... diese Menschen können oder wollen sich ... den üblichen Anpassungsleistungen nicht unterziehen, handeln sich durch solche Versuche immer wieder Behandlungsbedürftigkeit ein und benötigen teils lange, teils lebenslang den zusätzlichen äußeren Schutz psychiatrischer Langzeitstationen oder Heime.“ (Dörner, 1986, S. 463). Dies trifft auch auf die Lanzeitpatienten im Augsburger Clemens-Högg-Haus zu, über die es im Teil IV meiner Diplomarbeit geht.

Über die Chancen einer vollständigen Heilung äußert DÖRNER sich 1986 an einer anderen Stelle: „... dass wir keine Heilmittel kennen. Psychopharmaka und Psychotherapie sind bestenfalls Beihilfen dafür, dass jemand sich selbst helfe, heileAuf der anderen Seite bedeutet es, dass allem Anschein nach chronische psychiatrische Patienten über andere Bewältigungsmöglichkeiten verfügen als andere Patienten mit anderen Störungen. Das kann zum einen Entwicklungsprodukt missglückter Krankheits- und Lebensbewältigung sein, steht aber im Zusammenhang mit dem Schweregrad der Störung, die möglicherweise nicht lösbar ist.“ (eb., S. 464 ff.).

Erst in den 80er Jahren wurden die Entwicklungsmöglichkeiten der chronisch Schizophrenen zunehmend zum Gegenstand des allgemeinen Interesses. Die Bemühungen der psychiatrisch Tätigen richteten sich von da an nicht mehr so sehr darauf, z.B. die Langzeitstationen und -einrichtungen freundlicher zu gestalten, sondern eine Atmosphäre herzustellen, die es den Langzeitpatienten erleichterte, auszuprobieren, welche Wohn-, Arbeits- und Lebensmöglichkeiten ihren Besonderheiten entsprechen könnten.

1.7 Zusammenfassung

Der Begriff der Schizophrenie wurde 1911 von BLEULER eingeführt und wurde bereits kurz danach zu einem negativ geprägten Schlagwort, unter dem sowohl die Betroffenen als auch deren Angehörige zu leiden haben. Aus dem bisher Geschilderten geht hervor, dass es sich bei der Schizophrenie nicht um ein homogenes, klar umreißbares Krankheitsbild, sondern vielmehr um eine Gruppe verschiedenartiger Krankheitsformen handelt, die hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Ursache noch nicht genügend erforscht sind. Während diese Störung einige klinische Merkmale gemeinsam hat, lässt sich jedoch bezüglich des Verlaufs und des Ausgangs keine Einheitlichkeit feststellen. Im Allgemeinen ist man sich einig, dass es diese psychische Krankheit bzw. Störung gibt (was auch immer ihre Ursachen sein mögen), dass sie sich in Störungen des Denkens, der Affektivität und des Verhaltens äußert und dass man für alle praktischen Belange den Begriff Schizophrenie verwenden kann. Ignorieren kann man die Schizophrenie auf keinen Fall.

Die Diagnose der Schizophrenie ist nicht unumstritten. So sind bei der Therapie der als schizophren diagnostizierten Personen sehr unterschiedliche Krankheitssymptome und -verläufe zu erwarten, die wiederum mit ebenso unterschiedlichen Krankheitseinsichten und -erwartungen seitens der Betroffenen korrespondieren dürften. Bei der Beantwortung der Frage, ob es die Schizophrenie überhaupt gibt, bilden sich gegensätzliche Auffassungen und Bewegungen heraus, die einerseits überzeugende Beweise für die Existenz dieser Störung und andererseits genauso viele Argumente für die Schizophrenie als modernen Mythos bringen.

Der Aufbruch des Mythos von der Unheilbarkeit der Schizophrenie hatte weitreichende Folgen, die hier in ihrer Gesamtheit und Komplexität nicht dargestellt werden können. Furore machten neuere Forschungsergebnisse, die eine deutliche Abnahme der Häufigkeit der Schizophrenie in den letzten Jahrzehnten aufzeigten. Da diese Ergebnisse jedoch sehr umstritten sind, scheint es verfrüht, von einem „Verschwinden“ der Schizophrenie zu sprechen. Jedenfalls hatte die optimistische Sicht der Heilbarkeit von schizophrenen Störungen in all den Jahren Auswirkungen auf das gesamte Therapiespektrum: von der medikamentösen über die Psychotherapie bis hin zu den beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen.

Was die Ursachen zur Entstehung dieser Störung anbelangt, so scheint eine einzige Ursache für Schizophrenie, sei es eine genetische, anatomische, neurologische bio-chemische oder soziogenetische, ausgeschlossen zu sein. Die bekanntesten multikausalen Erklärungsansätze der kognitiven Basisstörungen und der Vulnerabilität bieten eher therapeutische Ansatzpunkte und bedeutsame Erklärungsansätze für die Ätiologie der Schizophrenie.

Die Symptome der Schizophrenie wurden in bestimmte Systeme klassifiziert. Die wichtigsten sind ICD (International Classification of Diseases), DSM (Diagnostisches und statistisches Manual), RDC (Research Diagnostic Criteria) sowie PSE (Present State Examination) . All diese standardisierten internationalen „Inventare“ umfassen detaillierte Beschreibungen der Hauptkennzeichen schizophrener Störungen. Und da wegen unterschiedlichen diagnostischen Klassifikationen der Symptomatik die Suche nach ätiologischen Faktoren wenig Erfolg versprechend und das Ziel einer Behandlung weit entfernt war, stand in den letzten zwanzig Jahren die Vereinheitlichung der Klassifikation im Zentrum wissenschaftlichen Bemühens. Durch die letzte Revision der beiden am häufigsten verwendeten Verfahren ICD und DSM wurden diese weitgehend aneinander angeglichen.

Wenn in der weiteren Ausführung meiner Arbeit etwas simplifizierend von Schizophrenen oder schizophrenen Kranken die Rede ist, so sind dabei hauptsächlich gemäß ICD-9 oder ICD-10 als schizophren diagnostizierte Menschen gemeint, Menschen deren psychische Störung man sicherlich auch anders beschreiben könnte, als dies mit einem solchen Etikett möglich ist. Der Ausdruck Schizophrener hat zwar einen eher unpersönlichen touch und ist deshalb nicht sehr günstig, doch mangels eines besseren Ausdrucks und aus praktischen Gründen werde ich in dieser Arbeit Personen, die als schizophren diagnostiziert werden, sowohl als Schizophrene und auch als Patienten bezeichnen. Die Verwendung des Wortes Patient besagt nicht, dass die betreffende Person im Augenblick eine Behandlung braucht; es besagt nur, dass medizinische oder soziale Hilfe in irgendeinem Stadium gebraucht wird. In Frage käme noch der Ausdruck Klient, der hauptsächlich von Therapeuten benutzt wird und gegen den ich persönlich mich auflehne, da er eher eine geschäftliche Beziehung nahe legt.

II. TEIL: Bausteine moderner psychotherapeutischer

Behandlung der Schizophrenie

Nachfolgend sollen nun einige der neuesten Methoden und Aspekte der psychotherapeutischen Behandlung schizophren erkrankter Menschen dargestellt werden, ohne den Anspruch auf Komplexität zu erwerben. Hinzufügen möchte ich noch, dass ein Großteil dieser Methoden auch im Clemens-Högg-Haus angewendet werden und in den siebzehn Jahren der Existenz (seit 1983) dieser Langzeiteinrichtung für psychisch kranke Augsburger Bürger und Bürgerinnen zum Teil spürbare Erfolge zu verzeichnen sind.

2 Einführung: Schizophrenie und Psychotherapie

Kaum ein Bereich der Psychologie oder Medizin hatte in den letzten Jahren einen so großen Aufschwung zu verzeichnen wie die Psychotherapie. Sie hat sich nicht nur als wissenschaftliche Fachdisziplin etabliert, sondern sie hat auch „ein wachsendes öffentliches Interesse zu mobilisieren vermocht, was zu einer ungeahnten Popularisierung psychotherapeutischen Wissens und einer enormen Verbreitung und Ausdifferenzierung der Anwendungsmöglichkeiten führte.“ (Asanger, 1999, S. 627). Die Frage nach der steigenden Bedeutung der Psychotherapie kann im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung beantwortet werden. Durch wachsenden Arbeitsstress, erhöhte Leistungsanforderungen, Anpassungsdruck, fehlende Selbstbestimmung, Orientierungslosigkeit, Anonymisierung und immer größer werdende Kluft zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und persönlichen Bedürfnissen kommt es heutzutage zu einer Zunahme bestimmter Störungsformen wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Selbstmordversuche, psychosomatische Beschwerden und psychische Probleme, die letztendlich eine Therapie unumgänglich machen.

2.1 Begriffsbestimmung Psychotherapie

Wenn wir von Psychotherapie sprechen, meinen wir in der Regel die Hilfe durch professionelle Berufsgruppen, also Psychologen, Psychiater, psychiatrische Sozialarbeiter oder psychiatrisches Krankenpflegepersonal. Psychotherapie umreißt heute nahezu alles, was Menschen in der Gesellschaft ihresgleichen tun, um psychische Leidenszustände zu lindern: Psychoanalyse, Gruppenpsychotherapie, Seelsorge, Resozialisierung von Jugendlichen und Häftlingen und vieles andere.

- So sind die Spezialgebiete eines klinischen Psychologen (Dipl.-Psych.) die Forschung, Therapie und Diagnostik,
- die eines Psychiaters bzw. Doktors der Medizin (Dr.med.) die Verschreibung von Medikamenten, Elektrokrampftherapie und Psychotherapie.
- Das Spezialgebiet eines Psychoanalytikers (Dr.med. oder Dipl.-Psych.) mit Zusatzausbildung Psychoanalyse ist die Psychoanalyse.
- Einem Sozialarbeiter (Dipl. Sozialarbeiter bzw. Dipl.-Soz.Päd.) obliegen die Einzel- und Familientherapie und die Beratung mit Einbeziehung der Gemeinde.
- Schulpsychologen (Dipl.-Psych. und Dipl.-Päd.) beraten Schüler, Eltern und Lehrer und sind zuständig für die Entwicklungsdiagnostik.
- Psychiatriepfleger mit Zusatzausbildung Psychiatrie (staatlich anerkannte Psychiatriekrankenpfleger- und -schwestern) pflegen bzw. betreuen und beraten hospitalisierte Psychiatriepatienten.

Das bedeutet jedoch nicht, dass korrektive Erfahrungen ausschließlich durch professionelle Helfer ermöglicht werden. Enge persönliche Freunde, Gemeindehelfer und andere Laienhelfer übernehmen, dank ihrer Fähigkeit mit Menschen zu kommunizieren und umzugehen, oft einen großen Teil der Beratungstätigkeit.

In meiner Arbeit geht es um die formale Psychotherapie, wie sie von professionellen Therapeuten angewandt wird. Der zuständige Therapeut im Clemens-Högg-Haus ist klinischer Psychologe mit Zusatzausbildung in Neurolinguistischem Programmieren (NLP) und systemischer Familientherapie. Die direkten Bezugspersonen (case-manager) der Schizophrenen sind staatlich anerkannte Sozialpädagogen, Heilerziehungspfleger/innen, Erzieher/innen und Psychiatriekrankenschwester. Mehr dazu kann im IV. Teil meiner Arbeit nachgelesen werden.

Die der Psychotherapie zugrunde liegende Idee, psychische Leidenszustände durch die Kraft des Geistes zu verändern, finden wir bereits bei SPINOZA (1632-1677) und KANT (1724-1804). Im 18. und 19. Jahrhundert haben Ärzte, wie CHARCOT (1825-1893), BREUER (1842-1925) und FREUD (1856-1939) geistige Heilungskräfte nutzbar gemacht, um Geisteskrankheiten zu behandeln. Die von ihnen verwendeten Methoden - Hypnose, Suggestion, Imagination, Traumdeutung und freie Assoziation - können als die ersten wissenschaftlich begründeten psychotherapeutischen Verfahren betrachtet werden (vgl. Asanger, 1999, S. 627).

Lange Zeit war der Begriff Psychotherapie gleichbedeutend mit Psychoanalyse. Erst in den letzten Jahrzehnten setzte sich ein Gebrauch des Wortes Psychotherapie durch, der unterschiedliche Konzepte, wie die klassische Analyse FREUDscher Prägung, ADLERs Individualtherapie, CIOMPIs systemische Theorie u. v. m. einschließt.

ASANGER et al. (1999) fasst in seinem Handwörterbuch die wichtigsten Merkmale der Psychotherapie zusammen, um danach eine umfassende Definition aufzustellen. Bevor ich den Begriff der Psychotherapie aus der genannten Quelle zitiere, entnehme ich daraus zuerst die wichtigsten Beschreibungsmerkmale der Psychotherapie. Diese sind:

- „Psychotherapie ist gemeinsames Handeln von zwei oder mehreren Personen.
- Es besteht eine klare Rollenverteilung: Der ‘Therapeut’ ist eine durch Ausbildung und Erfahrung qualifizierte Person, der Patient ist eine Person mit einem psychischen Problem, die um Hilfe nachsucht.
- Der Psychotherapeut handelt bewusst bzw. er vermag sein Handeln im Nachhinein bewusst zu reflektieren.
- Gemeinsames Handlungsziel von Psychotherapie und Klient ist es, die psychischen Problemen, an denen der Patient leidet, zu beseitigen oder zu bessern und seine persönliche Weiterentwicklung zu fördern; die angewandten therapeutischen Prinzipien müssen auf der Basis einer gesicherten Theorie erarbeitet werden oder mit einer solchen beschreibbar bzw. erklärbar sein;
- Das Handlungs- und Erfahrungswissen des Therapeuten muss lehr- und lernbar sein.
- Die Wirkung therapeutischen Handelns muss auch intersubjektiv nachprüfbar sein.“ (Asanger, 1999, S. 628 ff.)
Erst jetzt ist eine vollständige Definition der Psychotherapie möglich (fast wörtlich zitiert aus ASANGER, 1999, S. 629), auf die ich im Verlauf meiner Arbeit immer wieder zurückgreifen werde:
- „Theorieebene: Psychotherapie ist eine Sammlung von allgemeinen Prinzipien
und theoretischen Aussagen über Entstehung, Struktur und Veränderung von pathologischem und abweichendem Verhalten und Erleben. Dieses theoretische Gebäude ist in Form von Lehrbüchern, Therapietranskripten, Fallbeschreibungen u.a. dokumentiert.
- Ausbildungsebene : Psychotherapie ist ein Ausbildungsgang, der sich in Richt-
linien und Lehrplänen von Instituten und Verbänden niederschlägt.
- Handlungsebene : Psychotherapie ist ein auf den Patienten bezogenes Handeln
des Therapeuten . Dies erfolgt vor dem Hintergrund seiner gesamten Lebens- und Therapieerfahrung. Es umfasst theoretische Konzepte und therapeutisches ‘Handwerkzeug’, welche er prozess- und phasenspezifisch auf den jeweiligen Patienten abstimmt.
- Änderungsebene : Psychotherapie umfasst alle therapeutischen Faktoren, die

verantwortlich sind für die Veränderungen, die während des therapeutischen Prozesses oder als Folge davon beim Patienten hervorgerufen werden.“ (a.a.S.).

2.1.1 Grundsätze der Therapie und Aufgaben des Therapeuten

Ohne diese Grundsätze auch nur kurz erwähnt zu haben, ist es schwierig, die verschiedenen Behandlungsansätze der Psychotherapie zu verstehen.

In der Erläuterung dieser Grundsätze habe ich mich weitgehend auf SCHARFETTERs Buch „Schizophrene Menschen“ (1986) gestützt, da ich darin auch große Ähnlichkeiten mit der therapeutischen Tätigkeit des Psychologen im Clemens-Högg-Haus finden konnte.

SCHARFETTER nennt sieben Grundsätze als äußerst wichtig in der Arbeit eines Therapeuten mit schizophrenen Patienten (vgl. Scharfetter, 1986, S.212 ff). Diese sind:

1. Überwindung der Leib-Seele Spaltung; Leib in Therapie mit einbeziehen

Der Schizophrene ist nicht ein Geisteskranker in dem Sinne, dass nur seine kognitiven und geistigen Fähigkeiten gestört wären. Er ist in seiner gesamten Existenz krank. Deshalb muss der Therapeut diese Aufspaltung in Leib und Seele überwinden und den Körper auch in die Therapie mit einbeziehen. Wo es also notwendig ist - und die Notwendigkeit zeigt der Patient durch seine Symptome an - wird der Therapeut mit dem Patienten atmen, Übungen der Bewegung, des Stehens, Greifens, Fangens, Haltens und Stoßens machen. Sie werden auch gemeinsam spazieren gehen, Gymnastikübungen durchführen, Übungen mit dem Ball, Seil und dergleichen einsetzen. Dabei ist die Zentrierung im Körper sehr wichtig. Es ist bekannt, dass eine höhere Dosis von Psychopharmaka die Vitalität und Aktivität eines Menschen lähmen kann. Wenn der Therapeut ein Nachlassen der Vitalität oder eine weitere Lähmung des Patienten feststellt, so kann er veranlassen, dass die Psychopharmaka maßvoller dosiert werden.

2. Schizophrensein ereignet sich in einer zwischenmenschlichen Interaktion.

Die Therapie geschieht in einem pflegenden, hegenden und behutsamen beanspruchenden Interaktionsklima im Sinne von M. BLEULER. Grundlage jeder Therapie ist die Verlässlichkeit der Anwesenheit des Therapeuten. Manfred BLEULER lehrte eindringlich: Isolieren von Schizophrenen ist Gift. Sie brauchen wie alle Menschen zeitweise auch das Alleinsein. Das ist etwas anderes als Isolation. Aber auch ein Zuviel an sozialen Stimuli ist gefährlich, besonders emotionale Überforderung, und deshalb ist immer Vorsicht geboten, wenn der Therapeut mit einem Schizophrenen interagiert.

3. Schizophrenie entwickelt sich im Personifikationsprozess, im Aufwachsen in einer Familie, die wiederum Teil der Gesellschaft ist.

Dies bedeutet erstens: vor allem bei noch jungen Schizophrenen, die Familie in die Therapie mit einzubeziehen: Familientherapie nach verschiedenen Schulen. Und zweitens: Da zur Personifikation auch eine gesicherte sozial-ökonomischen Situation in der Gesellschaft, sowie Geborgenheit, Gebrauchtwerden, Leistendürfen dazugehören, ist das für alle Therapeuten zu beachten, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der verschiedenen Einrichtungen und Kliniken.

4. Individuelle psychoanalytisch orientierte Psychotherapie

Da ich darüber im Kapitel 2.3.1 ausführlich berichte, möchte ich hier kurz nur erwähnen, dass das Ziel dieses Grundsatzes ein Durcharbeiten und in günstigen Fällen eine Überwindung der pathogenen Lebenserfahrung des Schizophrenen ist. Diese Therapie stützt sich auf Symboldeutung, Übertragung und Gegenübertragung, Termini, auf die ich im Kapitel 2.3.1 näher eingehe.

5. Psychopharmakologie: Beruhigung psychotischer Angst, Abschirmung gegen Stress, Wirkung gegen Wahn und Halluzinationen

Obwohl die Psychopharmakotherapie auch heute noch ein Reizthema ist - Für und Wider wechseln immer wieder ab - muss hier gesagt werden, dass sie für viele Patienten ein Dauerschutz gegen übermäßig belastende Stimuli von außen darstellt. Erst durch die Wirkung dieser Medikamente werden schizophren Erkrankte überhaupt wieder für andere Therapieformen zugänglich und wagen es, sich erneut in eine Beziehung - zuerst mit dem Therapeuten - einzulassen. Ein wichtiges Ziel der pharmakologischen Behandlung ist die Autonomie des Patienten, eigenverantwortlich mit Medikamenten umgehen zu lernen. Manche können die Medikamente in der Dosierung so einrichten, wie sie selbst es brauchen. Es gibt Gründe, anzunehmen, dass dann auch die Verlässlichkeit der Einnahme (compliance) am besten ist.

6. Umlernen und Verhaltenstherapie sind Elemente, die das gesamte therapeutische Handeln durchwirken. SCHARFETTER u.a. sind der festen Überzeugung, dass davon mehr zu halten ist, als von rigiden und menschenfernen Belohnungsprogrammen.

7. Die verlässliche Grundhaltung des Therapeuten dem Patienten gegenüber ist ausschlaggebend für die gesamte Therapie und Psychotherapie. Aus der richtigen Kombination seines Grundwissens und der Erfahrung mit einem bestimmten Patienten ist die Therapie nicht nur eine reine Technik, sondern wird zu einer Kunst, den rechten Augenblick wahrzunehmen.

Die Therapie der Schizophrenie ist nie einfach nur Symptombeseitigung und Rückführung zum Funktionieren, sondern heißt Pflegen, Stützen, Warten, Klären, Ordnen, heißt weiter „Synthese und Rekonstruktion, Neu- und Wiederlernen, Festigen von verloren gegangenen, zerstörten oder verborgenen zwischenmenschlichen Möglichkeiten“ (Scharfetter, 1986, S. 210). Therapie heißt manchmal auch Lehren, mit der bestehenden Behinderung, Verletzlichkeit oder Anfälligkeit besser umzugehen, z.B. gefährdende Situationen zu vermeiden, früh genug auf die inneren Warnungen vor einer neuen Krise zu achten, diese Vorboten nicht zu ignorieren, sondern zu respektieren und sich danach einzurichten. All dies sollte in einem eigens dafür geschaffenen therapeutischen Rahmen geprägt von Toleranz, Verstehen, Beistehen und Begleiten geschehen. In der Therapie der Schizophrenen kann kein rezeptartiges Schema angewendet werden, sondern sie wird nur dann hilfreich, „wenn der Therapeut sich als Begleiter zur Verfügung stellt, und wenn er seinen Beistand auf der Ebene der Betroffenheit anbietet, die der schizophrene Patient durch seine Symptome indiziert.“ (eb., S. 209). Der Therapeut ist nicht der Mächtige, der gesund macht. „Er ist bestenfalls Medium, das die Überwindungs-, Verteidigungs- und Kompensationskräfte des ... sich bedroht fühlenden Kranken fördert.... Handeln und Lassen, Schonen und Beanspruchen im rechten Augenblick, das ist die Kunst“ behauptet mit Recht SCHARFETTER (a.a.S.).

Was ein Therapeut tun sollte und was nicht, welches seine Prinzipien im Umgang mit Schizophrenen sind, darüber wurden sehr viele Bücher geschrieben und Untersuchungen durchgeführt, wie z.B. von BENEDETTI, M.BLEULER, WING & BROWN, ARIETI, BOURNE & EKSTRAND, WAGNER & BECKER u. v. a.

Was der Therapeut soll das kann kurz wie folgt zusammengefasst werden:

- Grundsatz ist die verlässliche, nicht egoistische Anwesenheit des Therapeuten in der Welt des Kranken (eb., S. 210). Dabei muss die therapeutische Kommunikation offen sein für ein breites Spektrum von zwischenmenschlichen Begegnungsebenen: Einbezug des Leibes in die Therapie, Dialog, rekonstruktiver Monolog, etc.
- Gleichzeitig sollte ein guter Therapeut auch immer die alltäglichen lebensnotwendige Anliegen des Patienten (Wohnen, Essen, Kleidung, Lebensunterhalt) im Auge behalten. Der Kranke will und soll wieder lernen, ein möglichst eigenständiges Leben zu führen, so wie es ihm entspricht.

[...]

Fin de l'extrait de 220 pages

Résumé des informations

Titre
Bausteine moderner psychotherapeutischer Behandlung der Schizophrenie mit Schwerpunkt auf systemischer Therapie (am Beispiel eines Augsburger Wohnheims für psychisch Kranke)
Université
University of Augsburg
Note
1,0
Auteur
Année
2000
Pages
220
N° de catalogue
V86845
ISBN (ebook)
9783638907248
ISBN (Livre)
9783638907316
Taille d'un fichier
1528 KB
Langue
allemand
Mots clés
Bausteine, Behandlung, Schizophrenie, Schwerpunkt, Therapie, Beispiel, Augsburger, Wohnheims, Kranke)
Citation du texte
Dipl.-Päd.Univ Anna Ghiga-Schneider (Auteur), 2000, Bausteine moderner psychotherapeutischer Behandlung der Schizophrenie mit Schwerpunkt auf systemischer Therapie (am Beispiel eines Augsburger Wohnheims für psychisch Kranke), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86845

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