Hörende Kinder gehörloser Eltern als Sonderfall der Hörbehindertenpädagogik


Examination Thesis, 2003

85 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Methodischer Aufbau

2 Definition der Gehörlosigkeit

3 Identität und Zwei - Welten - Problematik
3.1 Begriff der Identität
3.2 Identitätsbildung bei Gehörlosen
3.3 Identitätsbildung bei hörenden Kindern gehörloser Eltern

4 Stellung der gehörlosen und hörenden Familienmitglieder
4.1 Rollenbegriff unter dem Aspekt der Behinderung
4.2 Rolle der hörenden Großeltern in Bezug auf die gehörlosen Eltern
4.3 Rolle der hörenden Großeltern in Bezug auf die hörenden Enkelkinder
4.4 Rolle der gehörlosen Eltern und ihrer hörenden Kinder
4.4.1 Rollenumkehr und Dolmetschen
4.4.2 Hilfsangebote für gehörlose Eltern und ihre Schwierigkeiten

5 Sprachentwicklung
5.1 Definition von Sprache
5.2 Charakteristik des familiären Sprachumfeldes hörender Kinder gehörloser Eltern
5.3 Sprachentwicklung hörender Kinder gehörloser Eltern

6 Darstellung der eigenen Untersuchung
6.1 Zielstellung
6.2 Wissenschaftliche Fragestellung
6.3 Hypothesen
6.4 Untersuchungsdesign
6.5 Darstellung der Ergebnisse
6.6 Diskussion der Ergebnisse

7 Möglichkeiten der Förderung hörender Kinder gehörloser Eltern
7.1 Bedeutung der Hörgeschädigtenpädagogik
7.2 Bedeutung der Sprachbehindertenpädagogik
7.3 Rechtliche Grundlagen

8 Zusammenfassung und Ausblick

9 Literatur- und Medienverzeichnis

0 Einleitung

Die Situation hörender Eltern mit hörgeschädigten Kindern wurde und wird in der Fachliteratur der Hörgeschädigtenpädagogik oft und umfassend besprochen. Die Problematik scheint so dominierend zu sein, dass professionelle Fachkräfte vor allem diesem Bereich ihr Augenmerk widmen. Doch wenn die hörgeschädigten Kinder erwachsen werden und selbst Kinder bekommen, sind die Kinder meist hörend.

Ihnen wird kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil, was dazu führt, dass ihre Schwierigkeiten unterschätzt werden. Bei diesen Kindern wird davon ausgegangen, „dass ihr vorhandenes Hörvermögen sie befähigt, wie alle anderen Kinder zu leben und sich zu entwickeln“ (Funk, Keller - Kraske et.al. 2001b. 154). Diller (1988) kommt ebenfalls zu der Aussage, dass, obwohl die überwiegende Mehrheit gehörloser Ehepaare hörende Kinder hat, diese Klientel zu wenig erkannt und beachtet wird.

Auch im Film „Jenseits der Stille“ von Link (1996), der das Aufwachsen eines hörenden Mädchens in einer Familie mit gehörlosen Eltern zeigt, gelang es nicht, die Aufmerksamkeit auf die zum Teil sehr schwierige Situation hörender Kinder gehörloser Eltern zu richten, da das Interesse der Kinobesucher mehr der für sie faszinierenden Gebärdensprache galt.

Somit kann die wohl einzigartige Situation hörender Kinder gehörloser Eltern bis vor kurzem zu Recht als stark vernachlässigt betrachtet werden.

Erst seit den letzten Jahren gibt es vor allem im amerikanischen Raum wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema, aber in den meisten Fällen steht die Sprachentwicklung der hörenden Kinder gehörloser Eltern im Vordergrund. Im deutschsprachigen Raum existiert in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an diesem Thema, doch es ist nur wenig aussagekräftige Literatur zu finden. Diese Ausgangssituation erregte meine Aufmerksamkeit und führte dazu, dass ich mich für die Untersuchung der Dynamik in einer Familie mit hörenden Kindern und gehörlosen Eltern zu interessieren begann.

Das erste Ziel der Arbeit ist, einen Überblick über die Problemlage der hörenden Kinder gehörloser Eltern zu geben. Dazu gehört, die bisher zum Teil sehr kontroversen Aussagen der wissenschaftlichen Literatur darzulegen und auszuwerten. Gleichzeitig soll nicht nur die Sprachentwicklung der hörenden Kinder gehörloser Eltern diskutiert, sondern darüber hinaus herausgestellt werden, dass die gesamte Persönlichkeitsentwicklung gefährdet sein kann. Sie geht drei Generationen an: die hörenden Großeltern, die gehörlosen Eltern und die hörenden Kinder.

Das zweite Ziel ist die Überprüfung der bisherigen Forschungsergebnisse mit Hilfe einer eigenen Untersuchung, sowie die Begründung eigener Untersuchungsergebnisse.

Das dritte Ziel ist die Akzentuierung der Wichtigkeit des Themas speziell für die Hörgeschädigtenpädagogik und die Diskussion der Fördermöglichkeiten hörender Kinder gehörloser Eltern.

1 Methodischer Aufbau

Nach der einführenden Definition der Gehörlosigkeit wird die Persönlichkeitsentwicklung hörender Kinder gehörloser Eltern anhand von ausgewählten Bereichen, die Identität der hörenden Kinder gehörloser Eltern, die Stellung innerhalb ihrer gesamten Familie und die Sprachentwicklung gezeigt. In einem ersten Schritt wird der Identitätsbegriff erläutert und definiert. Durch Erklärungen zur Identitätsbildung der gehörlosen Eltern wird beschrieben, wie eng sie mit der Identitätsbildung der Kinder zusammenhängt. Danach folgt eine ausführliche Darlegung der wissenschaftlichen Aussagen zur Identitätsentwicklung der hörenden Kinder.

Im folgenden Kapitel steht die Stellung der hörenden Kinder innerhalb der drei Generationen im Vordergrund: hörende Großeltern, gehörlose Eltern und hörende Kinder. Nach einer Definition des Rollenbegriffes unter dem speziellen Aspekt der Behinderung wird die Rolle der Großeltern als erstes Glied in der Kette näher beleuchtet. Es wird gezeigt, wie sich die Beziehung zwischen hörenden Großeltern und gehörlosen Eltern gestalten kann, und dass die Stellung der hörenden Kinder nicht unabhängig von der familiären Ausgangssituation gesehen werden kann. Danach wird ausgeführt, welche besonderen Rollen die hörenden Großeltern in der Erziehung der hörenden Kinder zugewiesen bekommen bzw. sich selbst aneignen. Am Ende des Kapitels wird ausführlich die Stellung der hörenden Kinder im System der Kernfamilie dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit kommt dem Dolmetschen zu. Abschließend werden die Probleme der Hilfsangebote kurz analysiert, die für die Erziehung hörender Kinder durch gehörlose Eltern bestehen.

Im darauf folgenden Kapitel steht die Sprachentwicklung der hörenden Kinder gehörloser Eltern im Vordergrund. Neben einer kurzen einführenden Definition des Begriffs ‚Sprache’ wird erläutert, welches besondere familiäre Sprachumfeld in einer Familie mit gehörlosen Eltern und hörenden Kindern vorliegt. Es wird auf die sprachliche Situation der Eltern eingegangen, um zu zeigen, unter welchen kommunikativen Bedingungen die hörenden Kinder aufwachsen. Anschließend wird die Sprachentwicklung der hörenden Kinder selbst beschrieben.

Es folgt die Zieldarstellung, wissenschaftliche Fragestellung, Hypothesenbildung und Erklärung des Untersuchungsdesigns der eigenen Untersuchung, in der es darum geht, wissenschaftliche Forschungsansätze zu überprüfen und eigene Theorien zu begründen. Besonderen Wert wird neben den drei erwähnten Themen der Identität, der Stellung in der Familie und der Sprache auf die Situation hörender Kinder gehörloser Eltern nichtdeutscher Herkunftssprache gelegt.

Nach einer Darstellung und Diskussion der Ergebnisse wird auf die Erkenntnisse der gesamten Arbeit aufgebaut, indem Fördermöglichkeiten aufgezeigt werden. Es wird verdeutlicht, welche Rolle die Hörgeschädigten- und Sprachbehindertenpädagogik im Prozess der Förderung einnehmen können und rechtliche Grundlagen besprochen. In einer Zusammenfassung werden die wichtigsten Fakten der Arbeit gesammelt. Die Arbeit endet mit einem Ausblick.

2 Definition der Gehörlosigkeit

Die Behandlung des Themas „Hörende Kinder gehörloser Eltern als Sonderfall der Hörgeschädigtenpädagogik“ legt es nahe, den Begriff der Gehörlosigkeit eingangs zu definieren. Begrifflich grenzt sich der Personenkreis der Gehörlosen ab von dem der Schwerhörigen, der Ertaubten, der Personen mit zentralen Hörschäden, der Personen mit CI und der Personen mit Hörschädigung und zusätzlicher Mehrfachbehinderung.

Für die Medizin steht der Funktionsschaden des Hörorgans im Zentrum des Interesses. Als gehörlos gelten in der Medizin Personen, die im Hauptsprachbereich (Frequenzbereich von 500 - 4000 Hz) einen Hörverlust über 90 dB haben (vgl. Leonhardt. 2002). Durch die Entwicklung moderner Hörgerätetechnik, der zunehmend frühen Diagnose und der verbesserten auditiv - verbalen Früherziehung in den letzten Jahren, ist die medizinische Definition, pädagogisch betrachtet, nicht länger haltbar.

Die pädagogische Sicht auf das Phänomen des Hörschadens ist eine Sicht auf das Individuum selbst. Die Pädagogik untersucht die Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt und damit die sozialen Auswirkungen der Gehörlosigkeit. Es wird dann von Gehörlosigkeit gesprochen, „wenn bereits im frühen Kindesalter (prä-, peri- oder postnatal) vor Abschluss des Spracherwerbs (prälingual) eine so schwere Schädigung des Gehörs vorliegt, dass selbst bei bestmöglicher Schallverstärkung durch eine Hörhilfe keine oder nur eine sehr begrenzte auditive Wahrnehmung möglich ist.“ (Leonhardt. 1996. 17) Die Lautsprache kann deshalb nicht natürlich, auf auditiv - imitativem Weg erlernt werden. Wichtig ist festzustellen, dass es nahezu keine völlig Gehörlosen gibt. 90 - 95 v.H. Gehörlosen verfügen über eine bestimmte Resthörigkeit.

Es soll an dieser Stelle auf die soziale, beziehungsweise kulturelle Definition von Gehörlosigkeit hingewiesen werden. Es handelt sich hierbei um die Emanzipationsbewegung der Hörgeschädigten, die sich, unabhängig von ihrem tatsächlichen Hörstatus, durch die Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur als Gehörlose identifizieren. Sie streben die Anerkennung der Gehörlosenkultur als Minoritätenkultur an und wollen den Status einer sprachlichen Minderheit erlangen. Sie bezeichnen sich selbst als ‚Deaf’, wohingegen der reine Hörstatus ‚deaf’ genannt wird (vgl. Antor/Bleidick. 2001). In dieser Arbeit wird versucht, eine Brücke zwischen den drei Definitionen zu schlagen. Gehörlosigkeit wird in der Arbeit definiert als ein hochgradiger Hörverlust von mindestens 90 dB, der vor dem Spracherwerb, also prälingual, stattgefunden hat. Die in der Arbeit untersuchten Gehörlosen charakterisieren sich dadurch, dass sie sich selbst ‚Deaf’ nennen.

3 Identit ä t und Zwei - Welten - Problematik

Es soll erläutert werden, was Identität ist und wie Identitätsbildung geschieht. Es soll gezeigt werden, in welcher Grenzsituation sich hörende Kinder gehörloser Eltern in Bezug auf ihre Identitätsbildung befinden und wie wichtig eine gesunde Identitätsentwicklung der gehörlosen Eltern für die Ausbildung einer selbstbewussten Identität der hörenden Kinder ist.

Der Personenkreis der Gehörlosen kann nicht isoliert von der hörenden Welt gesehen werden. Die soziologische Identitätsforschung geht davon aus, dass Umwelt und Individuum in einer Wechselwirkung stehen und nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können (vgl. Krappmann 1993).

Die Identitätsentwicklung hat vor allem Erikson mit dem psychoanalytischen Modell skizziert (vgl. Erikson. 1997).

Es wird versucht, wichtige Aspekte beider Identitätsdarstellungen miteinander zu verknüpfen.

3.1 Begriff der Identit ä t

Wie Identität definiert wird, ist nicht eindeutig geklärt. Allgemein kann Identität gekennzeichnet werden als das Gesamt der Antworten auf die Frage ‚Wer bin ich?’ (Schorr. 1993. 343). Neben der natürlichen Identität, die die objektiv feststellbaren Eigenschaften einer Person wie Geschlecht und Name umfasst, bezeichnet die phänomenale Identität die temporal andauernde Wahrnehmung, die gleiche Person zu sein. Dazu gehören zeitlich andauernde Ähnlichkeiten in der Wahrnehmungsart und den Wahrnehmungsinhalten, die Erinnerungen und das Verfolgen gleicher Ziele über einen längeren Zeitraum.

Die Gesamtheit der Identität bezieht sich in der Kognitionswissenschaft auf verschiedene Elemente: auf die Ökologie, d.h. die Umweltbeziehungen eines Individuums, die soziale Interaktion, das bedeutet das Rollenrepertoire der Person, auf die Privatheit und Historizität eines Menschen. Die Elemente Konzeptualität, also die Theorie über das eigene Selbst, und sämtliche Ziele und Kompetenzen auf der Handlungsebene vervollständigen die Teilbereiche des Begriffes (vgl. Strube. 1996). Krappmann (1993) sagt in der Erweiterung zu Meads soziologischem Schema der Identität aus, dass der Prozess der Identitätsfindung eng mit bestimmten Fähigkeiten des Individuums (‚I’) in Bezug auf die Gesellschaft (‚Me’) zusammenhängt (vgl. Mead. 1991). Dazu zählt die Rollendistanz, also die Fähigkeit, Rollenerwartungen aus einem gewissen Abstand und möglichst objektiv und kritisch zu bewerten und für sich zu modifizieren. Rollendistanz ist dann Voraussetzung für den Aufbau von Emphatie, also der Fähigkeit, sich in die Rollenerwartung anderer hineinzudenken und so Reaktionen der Umwelt zu antizipieren. Das Tolerieren von Ambivalenzen zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und eigener Ansichten nennt Krappmann Ambiguitätstoleranz. Schließlich muss jedes Individuum in der Lage sein, seine eigene Ich - Identität zu repräsentieren. Die Bildung dieser beschreibt das psychoanalytische Modell der Identität.

Schon das Kind versucht zunehmend, seine innere Einheit und dessen soziale Anerkennung zu realisieren. Aus psychologischer Perspektive kann ausgesagt werden, dass die Identitätsbildung eine Leistung des Ichs ist, „das zwischen individuellen Wünschen und Bedürfnissen (des Es) und den Normen der Außenwelt (des Über - Ich) vermitteln muss“ (Dupius. 1992. 303). Mit zunehmender Kognition und Emotionalität während der Adoleszenz differenziert sich die Identität weiter aus. Stabilität erhält eine positive Identität durch die Positivitätstendenz. Sie demonstriert das Phänomen, dass positiv besetzte Aspekte des Ichs durch die Umwelt und das Individuum gleichermaßen noch mehr erhöht werden. Dadurch entwickelt und bewahrt sich das Individuum eine positive Selbstsicht auf sein eigenes Ich. Eine stabile und positive Identität ist Grundlage und Voraussetzung für die Selbstsicherheit einer Person und ein gutes Selbstwertgefühl. Ein niedriger Selbstwert kennzeichnet dem gegenüber unterschiedliche Selbstkonzepte, welche widersprüchlich sind, und die das Individuum nicht integrieren kann.

Die Identitätsentwicklung verläuft nach dem psychoanalytischen Modell von Erikson (1997) in acht Stadien, die jeweils eine spezielle Identitätskrise enthalten. Identitätskrisen kennzeichnen den Zustand, wenn das Gefühl für die eigene Identität unsicher ist und sich dieses Gefühl verfestigt. Es entstehen Veränderungen in der Ausbildung des Selbst, welches sich aus den vorausgegangenen Erfahrungen des Kindes, über sein Selbst im Spiegel des Verhaltens von Vater und Mutter ihm gegenüber speist (vgl. Dupius. 1992). Je stabiler sich die eigene Identität aufgebaut hat und je größer die Ich - Stärke ist, die Fähigkeit, unterschiedliche und widersprüchliche Ansichten zu integrieren, desto weniger heftig und häufig sind Identitätskrisen. Als Ergebnis kann das Individuum gestärkt und emanzipiert aus einer Identitätskrise hervorgehen. Auch wenn es eventuell zum zeitweiligen Verlust der Identität aufgrund neuer Orientierung kommt, kann sich das Individuum wandeln. Im Sinne des Konstruktivismus kann es dann durch Perturbationen ein viables, also annähernd passendes, Selbstkonzept mit einer neuen gesellschaftlichen Rolle entwerfen (Maturana/Varela.1984).

Eine optimale Identität kann nach dem psychoanalytischen Ansatz von Erikson (1997) dann gebildet werden, wenn es gelingt, den Übergang in das jeweils nächste Stadium zu meistern. Die Identitätsentwicklung kann durch unterschiedliche Faktoren gestört werden. Ursache kann das Gefühl des Kindes sein, in seiner Familie keine Konstanten in der Identifizierung seines eigenen Ichs zu finden. Wenn beispielsweise die Eltern ein Kind ohne Normen und Regeln, also mit einem unkalkulierbaren Verhalten großziehen, ist es dem Kind nicht möglich, die unterschiedlichen Ansichten der Außenwelt mit seinen Ansichten zu verbinden. Eine weitere Ursache für die Störung der Identität kann die mangelnde Emphatiefähigkeit der Eltern zu ihrem Kind sein. Zudem muss klar gemacht werden, dass sich alle Kinder in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung in ihrer Identität gestört fühlen können.

Im ungünstigen Fall entwickelt sich eine negative Identität. Auch die negative Identität kann sich verstärken, indem die Person eine Veränderung ihrer selbst ins Positive rational verweigert. Dieses Phänomen nennt sich Konsistenzdruck (vgl. Schorr. 1993). Die Wirkung einer negativen Identität kann gravierend sein. Überraschende seelische Gleichgewichtsstörungen, das Erleben von Selbstauflösungserfahrungen und die Ausblendung eigener Fähigkeitsgrenzen gehören ebenso zum Bild einer negativen Identität wie Liebesunfähigkeit, unterschiedliche Abhängigkeiten und kompensatorische, narzisstische Selbstaspekte. Dabei gilt zu beachten, dass die Störung des Selbstaufbaus fast immer schon vor der Spracherwerbsphase liegt und nicht erst in der Phase der Pubertät (vgl. Dupius. 1992).

3.2 Identit ä tsbildung bei Gehörlosen

Das Bild eines Hörgeschädigten ist geprägt durch Stereotype und Klischeevorstellungen. Wegen fehlender fachlicher Informationen oder tatsächlichem von der Norm abweichendem Verhalten wird um den Betroffenen eine Distanz aufgebaut. Das gleiche geschieht mit den unmittelbaren Bezugspersonen. Das ist eine der Ursachen dafür, dass das Selbstkonzept Gehörloser meist negativ ist. Sie sind oft depressiv und haben häufig eine gestörte emotionale Ausgeglichenheit. Besonders kritisch wird die eigene Identität erlebt, wenn die Eltern der Gehörlosen überhöhte und unrealistische Erwartungen an das gehörlose Kind stellen (vgl. Fengler/Jansen. 1999). Gehörlose kennen zwei Identitäten. Die der Normalen, in diesem Fall hörenden Welt, dessen Anforderungen sie nie erfüllen können und der eigenen, defekten, die hinter ihrem Ich - Ideal zurückbleibt. Viele versuchen, das Stigma der Gehörlosigkeit zu verbergen. Denn nach Goffmann „glauben wir [die Hörenden - Anm. J.S.] natürlich, dass eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist. Unter dieser Voraussetzung üben wir eine Vielzahl von Diskriminationen aus, durch die wir ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos, reduzieren.“ (Goffmann. 1975. 15 - 16)

Die psychosoziale Situation eines Gehörlosen lässt sich an Hand der von Krappmann (1993) beschriebenen Fähigkeiten wie folgt beschreiben: Sie zeigen Probleme, Rollendistanz zu entwickeln, da sie aufgrund des nicht ausreichenden Vertrautseins mit den Normen der hörenden Gesellschaft nur bedingt die Erwartungen anderer aufnehmen können. Da sie eine nicht normgerechte Sprachentwicklung aufweisen, und ihnen die Kommunikation mit der hörenden Gesellschaft oft schwer fällt, haben sie eine zumindest mangelhafte Empathiefähigkeit. Gehörlose müssen sich mit Widersprüchen in der hörenden Welt abfinden, also Ambiguitätstoleranz erwerben. Nicht zuletzt müssen sie den Hörschaden als Teil ihrer Persönlichkeit auffassen und ihn anerkennen (vgl. Große. 2001).

Verfolgt man in der Literatur die unterschiedlichen Aussagen zum Thema der Identität Gehörloser, muss man sich notwendigerweise mit der Zweiweltendiskussion auseinandersetzen, die in Ansätzen schon im vorangegangenen Kapitel angesprochen wurde.

Es existiert ein wissenschaftlicher Streit darüber, ob die Fachkräfte es als Ziel ansehen sollten, Gehörlose in die Welt der Hörenden, der Mehrzahl der Bevölkerung, zu integrieren oder ob sie die Betroffenen selbst mit der Welt der Gehörlosen vertraut machen sollen. Dabei ist der Weg zu den Welten bestimmt durch unterschiedliche Sprachmodi: Die hörende Welt kann Gehörlosen über den Erwerb und Gebrauch der Lautsprache näher gebracht werden. Die gehörlose Welt verwendet überwiegend die Gebärdensprache. Die Zwei - Welten - Problematik hängt pädagogisch gesehen eng mit dem Methodenstreit zwischen Heinicke und del’ Eppé zusammen. Beide Ansätze haben Auswirkungen auf die Identität Gehörloser selbst, die noch nicht abschließend wissenschaftlich belegt sind.

Seit den Anfängen der Hörgeschädigtenpädagogik sah eine Reihe von Fachleuten, darunter Aman und Heinicke, das Ziel der Rehabilitation Hörgeschädigter darin, diese, gestützt auf einen guten Lautspracherwerb, in die Gemeinschaft der Hörenden und Nichtbehinderten einzugliedern. Nach dem Defizitmodell gab das hörende sozio - kulturelle Umfeld eines Gehörlosen dem Gehörlosen die Zuschreibung und die Identität eines Behinderten und sah es als Aufgabe an, das einzelne Individuum aus seiner gesellschaftlichen Isolation in die hörende Welt zu integrieren. So verfolgt beispielsweise van Uden mit der „Muttersprachlich - Reflektierten - Methode“ das Ziel, die gehörlosen Kinder über den Erwerb der Lautsprache zu befähigen, sich in die Welt der Hörenden einzuführen, und ihnen eine normale psychische Entwicklung, also auch eine gesunde Identität, zu ermöglichen. Doch nach Wisotzki könne diese Herangehensweise zum wiederholten Identitätsverlust, zur Überforderung und zur Segregation führen (vgl. Wisotzki. 1994).

Die zweite gedankliche Linie ist die der Gebärdensprachvermittlung, die hauptsächlich von del’ Eppé ins Leben gerufen wurde. Heute kritisieren Hintermair und Voit, als Stellvertreter einer gebärdensprachlich orientierten Didaktik genannt, den lautsprachlichen Ansatz. Sie und andere fordern eine didaktische Konzeption, die die Gebärdensprache als Muttersprache präferiert. Diese Position trifft auf viel Sympathie bei den Gehörlosen selbst. Seit den 80er Jahren verstehen sich viele Gehörlose auch in Deutschland als eigenständige Gruppe. Sie wollen ihre persönliche, soziale und kulturelle Identität in der Gemeinschaft der Gehörlosen verwirklichen. Die Gebärdensprache dient in der Gemeinschaft der Gehörlosen als identitätsbildendes Medium (vgl. Sacks. 1998). Politisch setzen sich mit diesem Ansatz sympathisierende Gehörlose und Fachkräfte dafür ein, die Gruppe der Hörgeschädigten als sprachliche Minderheit anzuerkennen.

So hat die Hörgeschädigtenpädagogik sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie „der humanistische Aspekt der Bildung, der in der Identitätsbildung gesehen wird, und der soziale Aspekt der Bildung, […] in einer möglichst guten Integration in die hörende private und berufliche Umwelt der Gehörlosen verwirklicht werden kann.“ (Wisotzki. 1994. 113)

Es ist aber auch zu beobachten, dass sich Gehörlose mit beiden Welten arrangieren können. So arbeiten sie auf der einen Seite in der hörenden Welt, sind also beruflich und sozial integriert in diese, aber auf der anderen Seite sind sie Mitglied in einem Gehörlosenverein. Sie entwickeln eine Identität zwischen den Welten.

3.3 Identit ä tsbildung bei hörenden Kindern gehörloser Eltern

Interessant im Sinne der Arbeit ist die Fragestellung, ob und inwieweit die hörenden Kinder der gehörlosen Eltern ebenso wie diese selbst mit der Zwei - Welten - Problematik konfrontiert werden. Sie nehmen meist eine besondere Position ein und müssen den Ansprüchen der hörenden und der gehörlosen Welt genügen. Sie sind durch Blutsverwandtschaft mit den Gehörlosen verbunden, verfügen über das kulturelle und sprachliche Wissen dieser Gruppe und treten doch auch mittels Lautsprache in der hörenden Welt auf (vgl. Padden/Humphries. 1991).

Betrachtet man die Identitätsbildung der hörenden Kinder in den ersten Lebensjahren, so erkennt man, dass sie sich mit zum Teil anderen Faktoren auseinander setzen müssen als Kinder, die von hörenden Eltern großgezogen werden. So bleibt auf der sprachlichen Ebene das Lallen der Kinder oft unbemerkt, erste Sprechversuche ebenso, so dass die Motivation für weitere Sprechübungen sinkt. Die ersten wahrnehmbaren Sprachmuster, die die Kinder selbst von ihren Eltern hören, sind meist falsch, verkürzt und melodielos. Die Verständigung zwischen Eltern und Kind läuft über den Sehsinn ab, weshalb Handeln und Sprechen gleichzeitig meist nicht möglich ist (vgl. Duc, zitiert nach Fengler. 1990). Die Identitätsentwicklung beeinflussenden Umweltbeziehungen und die soziale Interaktion sowie die Kompetenzen auf der Handlungsebene heben sich so von den Erfahrungen hörender Kinder hörender Eltern ab. Doch nehmen die Kinder diese Unterschiede wahr?

Im Säuglingsalter sind die Kinder noch eng verbunden mit der Lebens- und Kommunikationsweise ihrer gehörlosen Eltern. Die Gehörlosigkeit der Eltern wird oft spät und in bestimmten Bedeutungszusammenhängen entdeckt. So gibt es Beispiele dafür, dass Kinder erst mit Eintritt in das Schulalter bemerken, dass sie hörend sind: „Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass ich anders sein könnte als meine Eltern und Geschwister.“ (Padden/Humphries1991. 27) Erst dann wird die Gehörlosigkeit der Eltern zu einem bedeutenden Merkmal für das Leben des Kindes, zu einem Charakteristikum, zu einem Element, welches eng mit der Identität des Kindes gekoppelt zu sein scheint. Andererseits merken hörende Kinder instinktiv und sehr schnell, wie die Kommunikation und die Kommunikationsbedingungen im Elternhaus gestaltet werden müssen, um einen Gedankenaustausch erfolgreich zum Abschluss bringen zu können.

Ob und wie die Kinder in diesen Erkenntnisprozess hineinwachsen, ob es ein langsames Hineintasten in die Identität eines Kindes gehörloser Eltern ist oder ein schockartiges Erlebnis, wurde noch nicht erforscht. Es gibt Fallbeispiele, aber diese werden oft erst von den hörenden Kindern im Erwachsenenalter erzählt, so dass die Erinnerungen verzerrt sein können. Oft berichten auch andere Beteiligte über das zu beobachtende Verhalten des Kindes in der Zeit der ersten Identitätsentwicklung. Diese Berichte müssen als sehr subjektiv eingestuft werden.

Erster Ansatzpunkt und Vermutung ist, dass eine positive Identitätsentwicklung hörender Kinder korrespondiert mit einem positiven Denken über die Gehörlosigkeit seitens der Großeltern und Eltern, die dem Kind auch vermittelt werden muss (vgl. Funk. 1997). Wenn keine Positivitätstendenz in diesem Bereich vorhanden ist, können erhebliche Identifikationsprobleme und daraus folgende psychosoziale Probleme bei dem hörenden Kind auftreten, die die Identitätsentwicklung belasten können (vgl. Diller. o.A.). „So leben die hörenden Kinder in einem ständigen Balanceakt […] zwischen hörender und gehörloser Umgebung und müssen versuchen, ihr Selbst unter diesen Bedingungen zu entwickeln. Ihre gehörlosen Eltern können teilweise wenig Unterstützung anbieten, weil sie häufig selbst verunsichert sind, und ihr Erziehungsverhalten dementsprechend dem Entwicklungsalter des Kindes wenig angepasst ist.“ (Funk/Keller - Kraske et. al. 2001b. 154) Es haben sich zwei metaphorische Bilder zur Beschreibung der Grenzsituation der Identität hörender Kinder gehörloser Eltern herausgebildet.

Das erste ist das eines Schwingens auf einem Trapez: „Wenn man mit hörenden Kindern gehörloser Eltern spricht, kann das Bild eines Mannes entstehen, der sich auf einem fliegenden Trapez befindet. Er schwingt vor und zurück, immer zwischen zwei Plattformen, auf denen er aber niemals landet. Die Zuschauer unten beobachten ihn. Der Mann erfährt sich als jemanden, der in der Luft hängt und ist nur gefestigt, wenn er schließlich auf einer der beiden Plattformen landet. Die hörenden Kinder von gehörlosen Eltern bemühen sich ähnlich um Identität. Auf beiden Plattformen erhalten sie ein wenig Sicherheit, aber auf keiner fühlen sie sich wirklich heimisch. […] In Wirklichkeit haben sie weder die eine noch die andere. […] Die Existenz innerhalb eines Spannungsfeldes bringt unweigerlich Entwicklungsaufgaben und Probleme mit sich.“ (Funk/Keller - Kraske et. al. 2001a. 4)

Das andere Bild ist das eines Brückenmenschen auf einer Brücke. Betroffenen kommt es bei diesem Vergleich darauf an zu verdeutlichen, dass die hörenden Kinder „sicherlich die Situation haben, wo sie auf der einen Seite der Brücke stehen, und Situationen auf der anderen Seite - und dann gibt es Momente, wo man am liebsten in der Mitte stehen und von beiden Seiten nicht gestört und geärgert werden möchte.“ (Pöhler. 2000. 564)

Aus diesen gedanklichen Reflexionen kristallisiert sich heraus, dass vier Möglichkeiten existieren, mit dem Problem zwischen den beiden Welten umzugehen. Entweder man entscheidet sich für das Leben in der hörenden oder in der gehörlosen Welt. Des Weiteren kann man sich gleichermaßen mit beiden Welten identifizieren und in ihnen leben oder für keine der beiden entscheiden. Es soll kurz illustriert werden, wie die Hinwendung zu einer von beiden Welten, zu beiden oder zu keiner im Leben der Betroffenen aussehen kann.

In dem von Straßer vorgelegten Film „Brückenmenschen“ (1980) findet sich ein Beispiel für jede Möglichkeit. Vier hörende Erwachsene gehörloser Eltern sprechen in diesem Film über ihre Kindheit und ihre Identitätsbildung.

So lebt Schönfeld, der schon früh trotz geringem Gebärdenwortschatz dolmetschte, Techniker wurde, eine gehörlose Frau heiratete und ebenfalls gehörlose Kinder hat, in der gehörlosen Welt. Er ist derzeit Sozialarbeiter für Gehörlose und empfindet die hörende Welt als kalt. Es sei für ihn furchtbar zu sehen, wie sich Gehörlose alles im Leben mit viel mehr Mühe als hörende Menschen erkämpfen müssten Hauptenbucher, von Beruf Krankenschwester, hat nie ein ernsthaftes Gespräch mit ihren Eltern führen können. Sie hat die Gebärdensprache nicht gelernt und ist mit der Angst und dem bedrückenden Gefühl aufgewachsen, ihre Eltern nicht verstehen zu können. Sie hat sich nach ihrer Kindheit ganz aus der gehörlosen Welt zurückgezogen und lebt in der hörenden Welt.

Gossner, die den Beruf der Gehörlosenpädagogin ausübt, konnte nie über Probleme im Elternhaus mit anderen reden, da ihre Eltern in einer anderen Welt lebten. Zwischenmenschliches wurde nie besprochen. Durch das Können und Anwenden der Gebärdensprache wertete sie sich selbst im Kontakt mit anderen Kindern hörender Eltern auf. Sie lebte immer mit dem Gefühl, dass ihre Eltern nicht so viel wert seien wie andere, da sie weniger wussten. Sie hat ihren Beruf freiwillig gewählt, da es ein paar wenige Brückenmenschen geben müsse. Sie lebt in beiden Welten.

Der Komponist Oehring, der zweisprachig erzogen wurde, ist mit dem Trauma groß geworden, dass seine Eltern nicht auf ihn aufpassen können. Seine Kindheit wurde begleitet durch den Traum des Ertrinkens in Schlingpflanzen, während der Vater seelenruhig in einem Boot in der Nähe Zeitung liest und die Schreie nicht hören kann. Seine Musik ist voll von Emotionen und für beide Welten schwer verständlich. Seine Eltern dürfen nie ein Konzert von ihm besuchen. Er liebt die Kommunikationslosigkeit in der Musik und versinkt in ihr, da er in der Musik keinem eine Erklärung schuldig sei. Er lebt in keiner Welt, hat keinen Halt gefunden.

Welche Schlussfolgerungen kann man aus diesen Beispielen ziehen? Die jeweilige Kompetenz der Laut- und Gebärdensprache scheint einen Einfluss zu haben doch der allein ist nicht entscheidend. Die Wichtigkeit des Selbstbildes der Kinder sowie die Bedeutung der viablen Identität der gehörlosen Eltern sollte nicht unterschätzt werden. Nur wenn die hörenden Kinder erleben, dass ihre gehörlosen Eltern eine für sie passende Identität gefunden haben, kann es auch ihnen gelingen, eine solche aufzubauen.

Es wurden noch keine detaillierten Aussagen in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert, die aufzeigen, wie bei hörenden Kindern gehörloser Eltern eine positive Identitätsentwicklung gewährleistet werden kann. Die gelungene Identität der hörenden Kinder gehörloser Eltern scheint vielmehr ein Phänomen zu sein, bei dem es trotz Existenz einiger positiver Faktoren niemals eine Garantie geben wird.

An den Beispielen wird deutlich, dass sich Identitätsentwicklung über viele Jahre erstreckt, manchmal nie abgeschlossen wird und bei hörenden Kindern gehörloser Eltern immer mit stärkeren emotional belastenden Gefühlen verbunden ist: „Es gab Situationen, wo man begeistert war, so eine Kindheit zu erleben, und es gab Situationen, wo man traurig war. Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt, diese Extreme gab es.“ (Pöhler. 2000. 565)

Es kann bei hörenden Kindern gehörloser Eltern verstärkt zu Identitätsstörungen oder Identitätskrisen kommen. Wenn diese nicht überwunden werden, kann die Persönlichkeit der Kinder auch im Erwachsenenalter nachhaltig gestört sein. Dabei kann das Selbstkonzept als Teil der Identität schon bei Kindern innerhalb einer Familie mit gehörlosen Eltern divergieren.

Sätze wie „Es liegt an allen, inwieweit sich diese beiden Welten aufeinander zubewegen [sic!] können.“ und „Nähern wir uns mit gegenseitigem Respekt einander an.“ (Möbius. 1997. 127) klingen schön, lassen aber realistische und umsetzbare Konzepte vermissen.

4 S TELLUNG DER GEH Ö RLOSEN UND H Ö RENDEN F AMILIENMITGLIEDER

Das System Familie beinhaltet verschiedene Subsysteme, um die Komplexität des Systems aufrecht zu erhalten. In dieser Arbeit sollen die Subsysteme hörende Großeltern, gehörlose Eltern und hörende Kinder genauer untersucht werden. Es soll mit den folgenden Ausführungen geklärt werden, wie die Stellung der hörenden und gehörlosen Familienmitglieder charakterisiert werden kann. Es wird, nach einer Definition des Begriffes ‚Rolle’, an einer Familie mit hörenden Großeltern, gehörlosen Eltern und hörenden Kindern gezeigt, welche Rollenzuschreibungen betroffene Behinderte und deren Familienmitglieder im Gegensatz zu Familien mit nur hörenden Mitgliedern bekommen, sich selbst geben, und mit welchen Stigmata sie fertig werden müssen.

Die Bedeutung der Großeltern wird in der Literatur meist ausgespart oder findet nur Anerkennung, wenn es um die Kontakte des hörenden Kindes zur hörenden Welt geht. Es wird nicht beachtet, welchen Einfluss die Großeltern und ihre Erziehung des gehörlosen Kindes auf die erwachsenen Gehörlosen und deren Kinder haben. Ohne ein Hintergrundwissen über die Rolle der Großeltern fehlt also die Grundlage für die Beschreibung der Rollen der nächsten zwei Generationen.

4.1 Rollenbegriff unter dem Aspekt der Behinderung

„Menschliches Handeln ist im wesentlichen Rollenhandeln“ (Cloerkes. 2001. 211). Was genau aber ist eine Rolle?

Eine Rolle bietet ein geordnetes Modell von Verhaltensweisen eines Individuums und kennzeichnet somit den Platz und die Position desselben in einem interaktiven Gefüge (vgl. Häcker/Stapf. 1998). Die Persönlichkeit eines Menschen besteht aber nicht nur aus einer Rolle, sondern aus einem System vieler verschiedener internalisierter, das heißt verinnerlichter Rollen. Der Mensch spielt also unterschiedliche Rollen und ist deshalb immer mehr als in einer Rolle. So kann beispielsweise eine Person mit den Rollen Lehrer, Vater, Ehemann, Gitarrist und Erzieher beschrieben werden, wobei die Beschreibung nur einen Teil des Rollenrepertoires der Person umfasst. Genauso gut könnten die Rollen Helfer, Chef und Clown passen. Es gibt also im Bereich der Rollen ganz verschiedene Darstellungsweisen. Manche Rollen sind Überbegriffe von anderen Rollen. Daneben gibt es solche, die genau verdeutlichen, was gemeint ist, und andere, bei denen man Hintergrundinformationen benötigt, um sie zu verstehen.

Zum Rollenbegriff gehört zum einen die Rollenerwartung, zum anderen das Rollenverhalten. Die Rollenerwartung ist die Summe der eventuell verschiedenen Erwartungen an eine Person oder an eine Personengruppe. So existieren beispielsweise unterschiedliche Erwartungen an das Berufsbild des Lehrers, wie Pünktlichkeit, spezielles didaktisches Wissen, Fachwissen, Kinderliebe und vieles mehr, welche von außen an die Gruppe aller Lehrer herangetragen werden. Mit dem speziellen Rollenverhalten meint man die Verhaltensmuster, die die Gesellschaft bereitstellt, die erlernt und in bestimmten Situationen gewählt werden können. So lernt ein Kind in der Schule nach und nach die Rolle des Schülers anzunehmen, die er nachmittags wieder ablegen kann. Rollen haben eine entlastende und eine belastende Funktion. Sie entlasten, wenn dem jeweiligen Rollenträger Entscheidungen abgenommen werden und sich der Träger mit den Rollen sehr gut identifizieren kann, sie belasten, wenn sie im Widerspruch zur Persönlichkeit stehen oder überlastend wirken. So kann die Rolle des Studenten entlastend wirken, wenn ein Jugendlicher sich mit der Rolle identifizieren kann, da dieser sich nur an die Rollenerwartungen dieser Rolle halten muss. Die Rolle des Studenten wirkt belastend, wenn sich die betroffene Person, beispielsweise aus Altersgründen, nicht mehr in ihr erkennt und diese Rolle trotzdem aufrechterhalten muss. Es muss gesagt werden, dass es Rollen gibt, die mehr belasten als entlasten und umgekehrt. So ist die Rolle des Arbeitslosen eher negativ besetzt, belastet also mehr. Die Rolle des Berufstätigen dagegen ist positiver besetzt, entlastet also auch mehr.

Das Eintreten des Individuums in die formell oder informell angebotenen Rollen nennt man Rollenübernahme. Dazu gehört, dass Werte und Normen der Rollenerwartungen und des Rollenverhaltens im Laufe der Sozialisation erworben und sich angeeignet werden. Je gelungener dieser Prozess geschieht, also je besser die Rollenübernahme funktioniert, umso größer ist die Übereinstimmung zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung (vgl. Dupius/Kerkhoff. 1992). Auch hier gibt es negative und positive Beispiele zu benennen. Wenn ein Spitzensportler mit sich und seinem Körper im Einklang ist, regelmäßig trainiert und erfolgreich ist, dann ist seine Rollenübernahme geglückt. Doch auch ein ständiger Sitzenbleiber hat eine erfolgreiche Rollenübernahme getätigt, wenn er sich selbst beispielsweise aus Frust, Faulheit oder Angst mit den Normen und Werten der Rolle identifiziert.

Es ist unabdinglich, dass beide, das Individuum und die Gesellschaft, die Rolle entwerfen. Nur wenn beide die jeweilige Rolle als passend empfinden, kann sie sich entwickeln und sich innerhalb von auszulotenden Grenzen verändern. Im Sinne des Konstruktivismus ist eine Strukturveränderung eines Individuums, in diesem Fall eine Rollenveränderung, und somit indirekte Veränderung eines Individuums von außen nur so weit möglich, wie die Organisation eines Individuums bestehen bleibt, und sie das Individuum selbst als passend für sich erlebt. Dabei besteht eine bestimmte Spannbreite. Die Außenwelt, also Umwelt und Gesellschaft, wird nur insofern relevant, wie sie es vermag, Eigenzustände des Systems Mensch anzustoßen (vgl. Dettmann. 1999). Einem Schüler die Rolle des Klassensprechers zu geben, wird im Sinne des Konstruktivismus nur dann funktionieren, wenn dieser die Rolle auch annehmen will. Wie motiviert der Schüler dann die Rolle ausfüllt, liegt daran, wie passend er sie für sich empfindet.

Rollen, als Teil der Wirklichkeit eines Menschen und der Umwelt, entstehen durch den kommunikativen Dialog, durch Versprachlichung und Sozialisation (vgl. Schlippe/Schweitzer.1997). Wenn eine Rolle im Begriff ist sich zu ändern, nehmen die Gesellschaft und das Individuum eine Rollendistanz ein. Diese beiden weisen aktuelle Rollenerwartungen und Rollenverhalten auf, welche von den bisherigen Normen und Werten der jeweiligen Rolle abweichen. Das ist Voraussetzung für die Analyse und Neugestaltung der Rolle. Beide Systeme sind dabei bestrebt, durch Modifikationen ein neues Rollenmodell zu entwerfen und sich an dieses zu gewöhnen. Diesen Vorgang nennt man Passung. Es ist festzustellen, dass eine Rolle nicht „falsch“ oder „richtig“ sein kann: Sie ist mehr oder weniger passend (vgl. Osbahr. 2000). Wenn der Prozess des Rollenwandels erfolgreich beendet wurde, haben sich beide, die Gesellschaft und das Individuum emanzipiert (vgl. Dupius/Kerkhoff.1992). So veränderte sich das Bild des Pauk- und Drilllehrers um 1900 zu dem Lehrerbild von heute, in dem dieser im besten Fall dem Schüler im Prozess der Mündigkeit, Selbstständigkeit und Emanzipation helfend zur Seite steht. Wenn nicht beide, die Gesellschaft und die Berufsgruppe der Lehrer, diesen Rollenwandel gewollt hätten, wäre er so nicht durchsetzbar gewesen.

Der Prozess der Rollenübernahme und des Rollenwandels ist nicht immer erfolgreich. Es kann zu Rollenkonflikten kommen, die entstehen, wenn an eine Person zu verschiedenartige Rollenerwartungen herangetragen werden oder diese selbst zu viele Rollen erfüllen möchte. Man spricht dann von einem Interrollenkonflikt. Wenn ein Individuum nie Zeit hat, sich zu entspannen, eine Rolle ganz in sein Ich zu integrieren und Rollendistanz zu üben, kann ein Interrollenkonflikt die Ursache dafür sein.

Genauso vorstellbar ist, dass an eine einzelne Rolle widersprüchliche Erwartungen geknüpft sind, die diese Rolle nicht realisieren kann. Man bezeichnet diesen Konflikt als Intrarollenkonflikt. Wenn ein Lehrer gleichzeitig die Rollenerwartung des Strengen und des Antiautoritären annehmen soll, befindet er sich in einem Intrarollenkonflikt. Intra- und Interrollenkonflikte führen zur Nichterfüllung oder gar Verletzung der Rollenerwartung (vgl. Häcker/Stapf.1998).

Wie sieht nun die Rolle eines Behinderten aus?

Bei Behinderung erfolgt eine ambivalente soziale Reaktion durch die Umwelt, die sich bis in die Familie hinein ziehen kann. Die Rolle eines behinderten Menschen ist „gekennzeichnet durch einen elementaren Widerspruch: zwischen offizieller Entlastung für ihre Abweichung von der Norm einerseits und tatsächlicher Diskriminierung mit Zuweisung einer besonderen, abweichenden Rolle andererseits.“ (Cloerkes. 2001) Die Rolle des Behinderten vereint also Belastung und Entlastung. Schon diese Tatsache lässt vermuten, dass der Behinderte selbst unter Umständen in einem Intrarollenkonflikt steht.

Der Behinderte nimmt die Rolle des Devianten, des von der Norm Abweichenden, ein, denn er entspricht nicht den Erwartungen der Gesellschaft. Gerade durch diese Zuschreibung wird er mit einer speziellen Rollenerwartung konfrontiert. Diese Rollenerwartungen, die an die Rolle des Devianten geknüpft werden, können durchaus sehr verschieden sein. Die Rolle kann sich aus vielen einzelnen und zum Teil widersprüchlichen Rollen zusammensetzen, so dass sich der Behinderte zusätzlich einem Interrollenkonflikt ausgesetzt sehen könnte.

Die Werte und Normen, die die Gesellschaft an diese Rolle stellt, sind so vielfältig, dass es dem Behinderten schwer fallen könnte, eine passende und zudem für ihn emanzipierende Rollenübernahme zu absolvieren.

Auch bei der Rolle des Behinderten erfolgt die „soziale Tatsache einer Wahrnehmung von Behindertsein […] am erkennenden Subjekt wie am betrachteten Objekt, das die Typisierung übernimmt. Der Behinderte internalisiert die ihm zugeschriebene Rolle. Der übergreifende und scheinbar systemimmanente Zusammenhang ist das Normalitätsbewusstsein. Als behindert geltende Menschen sind demnach abweichend, nicht normal.“ (Bleidick. 2000. 130)

Das Bewusstsein einer Behinderung wirkt sich nicht nur auf denjenigen aus, den dies betrifft, sondern auch auf die Menschen, die mit ihm zusammen leben, die Familie. Denn auch in dem System Familie werden die Normen und Werte auf der einen Seite durch die Mitglieder der Familie selbst und auf der anderen Seite durch die Umwelt festgelegt.

Mit den vorangegangenen Informationen über den Begriff Rolle, den Beispielen und der Anwendung auf die Rolle des Behinderten wurde die Grundlage zum Verstehen der weiteren Problematik gelegt. Ein Gehörloser muss sich wie jeder Hörende mit vielen verschiedenen Rollenerwartungen arrangieren. Die Rolle des Behinderten ist nur ein Teil seiner Persönlichkeit. Es wird im Folgenden gezeigt, wie gravierend die Gehörlosigkeit eines Familienmitglieds die gesamte Rollendynamik der Familie verändert. Im Besonderen interessiert, welch vielfältige Rollen die hörenden Kinder Gehörloser zugeschrieben bekommen.

Jeder Mensch und jede Familie ist anders. Daher zeigen die folgenden Aussagen aus der Literatur keinen repräsentativen Querschnitt auf, sondern nur Tendenzen. Es werden teilweise Extreme beschrieben, um der Spannweite der Auswirkungen der Gehörlosigkeit gerecht zu werden. Diese Art der Herangehensweise erscheint jedoch als geeignetes Mittel, um wichtige Aussagen zu gewinnen, die für die weitere Arbeit von Belang sind.

4.2 Rolle der hörenden Großeltern in Bezug auf die gehörlosen Eltern

Nach Preston (1994) sind circa 90 v.H. Eltern von gehörlosen Eltern hörend. Das heißt in den meisten Fällen, dass der gehörlose Mensch der einzige Gehörlose unter den hörenden Familienmitgliedern ist, und zumindest seine Eltern noch keine Erfahrungen mit dem Thema der Gehörlosigkeit sammeln konnten.

Gehörlosigkeit kann ein kritisches Lebensereignis in einer Familie sein. Sie ruft die unterschiedlichsten Gefühle in einer betroffenen Familie hervor und zeigt somit auch verschiedene Rollenmodelle auf.

„Eine wichtige Voraussetzung für ein gesundes Funktionieren gehörlos - hörender Familien ist das grundlegende Erziehungsgeschick der Eltern, egal, ob die Eltern gehörlos und die Kinder hörend sind oder umgekehrt. In gemischten Familien sehen sich die gehörlosen oder hörenden Eltern mit der Problematik konfrontiert, ein Kind großzuziehen, das ganz anders ist als sie selbst.“ (Pollard/Rendon. 1999. 413) Doch was passiert tatsächlich, wenn hörende Eltern ein gehörloses Kind bekommen? Mit der Geburt eines gehörlosen Kindes stellt sich für die hörenden Eltern die Frage nach dem Umgehen mit der Behinderung. Mit der Diagnose „Gehörlosigkeit“ wird eine Störung in die Eltern - Kind - Beziehung gebracht. Die Eltern müssen Distanz üben zu der Rolle des Elternseins eines Kindes ohne Behinderung. Das stellt einen Verlust für sie dar. Sie haben sich schon in der vorgeburtlichen Phase ein Bild von ihrem Kind gemacht und eine Beziehung aufgebaut, die nach der Diagnose so nicht zu verwirklichen ist. Deshalb bedeutet für viele Eltern die „Diagnose der Unheilbarkeit“ (Weber. 1995. 75) die Zerstörung ihrer Vorstellung eines idealen Kindes und einer idealen Familie und daraus folgend auch eine Zerstörung des eigenen Selbstbewusstseins. Nicht selten müssen sich Eltern eines behinderten Kindes mit der Ansicht, sie seien unfähig, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, auseinandersetzen. Auf sie kommt eine neue Rollenerwartung zu, sie müssen sich ein neues Rollenverhalten aneignen. Darüber hinaus ist es für sie erforderlich, sich in der neuen Rolle der Eltern eines behinderten Kindes selbst zu verwirklichen und zu emanzipieren. Das scheint für viele Eltern nicht vorstellbar.

Es besteht die Gefahr, dass hörende Eltern auf ihr gehörloses Kind mit distanziertem Verhalten, mit ständigem inneren Protest reagieren, ja, die Gehörlosigkeit selbst als Bedrohung erleben. Der Rolle, die sie nun einnehmen sollen, können sie nicht gerecht werden, da die Rollendistanz, die Grundlage zur Veränderung der Elternrolle eines gesunden Kindes ist, durch individuelle, vor allem emotionale, und gesellschaftliche Erschwernisse verbaut wird.

Nach Funk (2001a) übernehmen viele hörende Eltern die Vorurteile der Umwelt, d.h. sie sind der Ansicht, dass ihr Kind intellektuell eingeschränkt, unflexibel und seine Sprache fremd und abstoßend ist, bringen dem Kind negative Gefühle wie Wut und Aggression entgegen, fühlen sich ohnmächtig und ihrer Erziehungsaufgabe womöglich nicht gewachsen. Sie entziehen ihrem Kind sogar soziale Ressourcen durch das Aufgeben von Freundschaftskontakten zur Bearbeitung ihrer Trauer. Hinzu kommt, dass Forderungen, die im Laufe der Entwicklung von ihnen an das gehörlose Kind gestellt werden, oft nicht mit den Bedürfnissen des gehörlosen Kindes übereinstimmen und nicht zuletzt das Selbstwertgefühl des Kindes beeinträchtigen. Das ist der Punkt, an dem die nicht gelungene Rollenübernahme und die sich daraus ergebenden Rollenkonflikte nicht mehr nur Probleme der Eltern sind, sondern auch auf die Kinder zu wirken beginnen.

Nach Pollard und Rendon (1999. 414) ist die „Interaktion ohnmächtiger Eltern mit ihren Kindern […] kontrollierend, selbstsüchtig, passiv oder in anderer Weise dysfunktional.“ Das Kind tritt in die Rolle des Isolierten, daher schränkt es sich möglicherweise „auf sein eigenes Ich ein und konzentriert sich auf das Erleben der eigenen Person; denn das ist ihm zugänglich.“ (Lindner.1992. 228). Die gehörlosen Kinder nehmen wahr, dass es den Eltern nicht leicht fällt, sich auf sie einzustimmen und beginnen, die Rolle eines Gehörlosen einzunehmen.

Es scheint logisch, dass unsichere oder ambivalente Verhältnisse zwischen hörenden Eltern und gehörlosem Kind sich so auswirken können, dass noch die erwachsenen Gehörlosen Probleme mit ihren sozialen und personalen Beziehungen haben können. Der Rollenkonflikt, den die Eltern und Kinder meist nicht allein zu lösen imstande sind, manifestiert sich und expandiert im Laufe der Jahre.

Innerhalb der Familie können, als Auswirkung des Rollenkonfliktes, disparate Kommunikationsstrukturen auftreten, wenn keine Bereitschaft seitens der Eltern besteht, sich mit ihren Kindern auf eine echte Verständigung einzulassen. Eine der Ursachen dafür ist die unterentwickelte Lautsprachfähigkeit der gehörlosen Kinder. Andererseits erwähnt Funk eine Untersuchung von Sloman/Springer/Vachon, nach der 88 v.H. hörenden Eltern die Gebärdensprache nicht gelernt haben (vgl. Funk. 2001a). Hörende Eltern und gehörlose Kinder kommunizieren dann relativ wenig miteinander und wenn, dann geht es meist um die Regulierung von Alltäglichem. Ein Grund dafür ist, dass die Eltern zudem bei der Kontaktaufnahme und beim Beginn eines Gespräches bestimmte Kommunikationsbedingungen erfüllen müssen (z.B. hörtechnische Hilfsmittel funktionsfähig halten, Blickkontakt, Mundbild, Auf -sich - aufmerksam - machen). Je älter die Kinder werden, desto mehr lassen die Bemühungen der Eltern nach (vgl. Sarimski. 1986). An die neue Elternrolle werden zu viele Erwartungen geknüpft, so dass es schnell zu einem Intrarollenkonflikt kommen kann.

Es entwickeln sich in diesem Fall auf der einen Seite Schuldgefühle gegenüber dem Kind, da man es besser hat, auf der anderen Seite geben die Eltern unbewusst und um sich selbst zu schützen ebenso dem Kind diese Rolle. Es sei verantwortlich für die vielen nicht erfüllten Träume der Eltern. Das heißt aber auch, dass diese Eltern ihre Rolle des Elternseins nicht voll ausschöpfen können. Die Rollenerwartungen der Eltern an die Kinder vermögen die gehörlosen Kinder nicht zu erfüllen und da sie die bis jetzt einzigen Gehörlosen in der Familie sind, bekommen sie kein geeignetes Rollenmodell gezeigt, welches sie sich aneignen könnten.

Doch häufig ist auch eine sehr enge Bindung zwischen hörenden Eltern und gehörlosen Kindern zu beobachten. Oft übernimmt in diesem Fall die Mutter die dominante Rolle in der Erziehung. Auch dieses Verhalten ist als Hinweis zu deuten: Die Mutter versucht wieder gutzumachen, „was sie oder andere scheinbar verschuldet haben und möchte negative Gefühle dem Kind gegenüber bannen.“ (Funk. 2001a. 285) Sie arrangiert sich zwar mit der Elternrolle eines hörgeschädigten Kindes, findet aber kein Mittelmaß in der Rolle. Das bedeutet letztendlich, dass sie sich die Rolle nicht passend machen kann.

Dieses Phänomen baut sich leicht zur Fremdbestimmung des gehörlosen Kindes aus, welche bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben kann. Nicht sehr selten wird dieses Verhalten auch durch die Gesellschaft unterstützt, denn die Rolle einer aufopferungsbereiten Mutter ist positiv besetzt. Durch das Ignorieren der Individualität des jeweiligen Kindes und das Nichtanerkennen der aktiven Rollenübernahme durch das Kind werden im Nachhinein die Lebensträume der Eltern mittels des gehörlosen Kindes versucht zu verwirklichen, was nicht möglich ist.

Es besteht die Gefahr, dass die Eltern auch nach der Kindheit die nunmehr gehörlosen Eltern nicht in die Unabhängigkeit entlassen können und eine Abhängigkeit zwischen beiden bestehen bleibt. Die Eltern bleiben dann immer in der Rolle der Eltern, obwohl sie in die neue Rolle der Großeltern hineinwachsen, die gehörlosen Eltern hingegen bleiben ihrerseits in der Kinderrolle, trotzdem sie sich die Elternrolle zu Eigen machen müssen. Diese Abhängigkeit zwischen Eltern und gehörlosen Kindern nach der Kindheit hat für beide Vorteile, wie im Weiteren noch erläutert werden wird, ist aber auch oft eine große Belastung (vgl. Funk 1997).

Es kann in beiden dargestellten Extremen, der Distanzierung der hörenden Eltern von ihrem gehörlosen Kind und der aufgebauten gegenseitigen Abhängigkeit, zu einem anomalen Bündnis kommen, innerhalb dessen es in Folge nicht passender Rollenerwartungen und nicht geeigneten Rollenverhaltens zu Beziehungserschwerungen und Kreisprozessen kommt, deren Ursache man kaum mehr ableiten kann, und die nicht nur die Eltern und die gehörlosen Kinder, sondern auch beteiligte Therapeuten, Mediziner und Pädagogen einschließt (vgl. Winnicott. 1983).

So darf davon ausgegangen werden, dass das Kind in beiden Fällen merkt, dass es anders ist, als die Eltern es sich erhofft haben. Es wird mit der Rolle des Devianten konfrontiert und kann diese nur schwer zurückweisen.

Konstituierend für das Elternsein der gehörlosen Kinder sind die Erfahrungen, die sie selbst gemacht haben, als sie klein waren. Eltern müssen deshalb kompetent und mit viel Selbstvertrauen an die Erziehungsaufgabe gehen: „Wenn ein Elternteil kein Selbstvertrauen besitzt und sich in der Ausübung der Elternrolle nicht kompetent fühlt - wenn sie sich, aus welchem Grund auch immer, ‚ohnmächtig’ fühlen - dann werden die Eltern - Kind - Beziehung sowie die psychosoziale Entwicklung des Kindes und sein Lernerfolg wahrscheinlich Schaden nehmen.“ (Pollard/Rendon. 1999. 413 - 414) Dies gilt für die hörenden Eltern genauso wie für die gehörlosen Kinder.

Doch die Erfahrungen der Gehörlosen im eigenen Elternhaus sind von großer Wichtigkeit für die Erziehung ihrer Kinder.

„In der Frage der Kooperation zwischen gehörlosen Eltern und hörenden Großeltern […] ergibt sich ein höchst sensibler Bereich, von dessen Bewältigung die Problemlösung in der Erziehung des hörenden Kindes abhängt.“ (Diller 1988. 81)

4.3 Rolle der hörenden Großeltern in Bezug auf die hörenden Enkelkinder

„Das Verhältnis von Großeltern und Enkelkindern ist üblicherweise in unserer Gesellschaft nicht so eng geknüpft wie das zwischen Eltern und Kind.“ (Funk. 2001a. 283) Bei hörenden Großeltern, gehörlosen Eltern und ihren hörenden Kindern kann man diese Aussage nicht so pauschal treffen. Fengler (1990) sagt aus, dass gehörlose Eltern nicht alle Situationen in der Erziehung ihrer Kinder allein meistern können, weshalb manche Situationen von den hörenden Großeltern übernommen werden müssen.

In einer Studie von Gotthardt (1988), in der 54 gehörlose Ehepaare durch Fragebögen und teilstrukturierte Interviews befragt wurden, präzisiert Gotthardt diese Situationen. Sie stellt fest, dass bei Behördengängen 43 v.H. Gehörlosen die Hilfe ihrer Eltern oder ihrer Geschwister annehmen und dass bei der vorübergehenden Betreuung der Kinder an erster Stelle (mit 33 v.H.) die Großeltern oder andere hörende Verwandte einspringen. Weitere 19 v.H. Eltern würden in diesem Fall nur und nahezu täglich der Großmutter diese Rolle überlassen, immerhin 5 v.H. Eltern gaben ihre Kinder der Großmutter oft, aber nicht regelmäßig. Erstaunlicherweise gaben 26 v.H. Eltern an, dass sie ihre Kinder nie anderen anvertrauten, das heißt, nie etwas ohne sie machten. Obwohl sich die Eltern bei Erziehungsproblemen an die speziellen öffentlichen Stellen wie Sozialarbeiter, Gehörlosenpfarrer oder Beratungsstellen wenden können, helfen an erster Stelle die Großeltern mit 26 v.H.. Auch Hausaufgabenhilfe wird von 31 v.H. Großeltern gewährleistet. Deutlich wird die Rolle der Großeltern als Fachkraft, als Informant und Wissensvermittler. Mallory/Schein/Zingle (1991 - 1992) machen ebenfalls deutlich, dass Verwandte insgesamt eine große Rolle bei alltäglichen Hilfen spielen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Hilfsquellen gehörloser Eltern mit hörenden Kindern (Mallory/Schein/Zingle. 1991 - 1992. 19)

Doch ist es nicht normal, dass Eltern erst in der Familie selbst Hilfe suchen und sich erst dann an öffentliche Stellen wenden? Sollen das Abgeben der Kinder für eine bestimmte Zeit an die Großeltern, die geleistete Hausaufgabenhilfe und das Bekanntmachen der Kinder mit der Kultur durch die Großeltern schon zeigen, dass die gehörlosen Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nicht gewachsen sind? Es scheint vielmehr selbstverständlich, dass Großeltern diese Rollen übernehmen und ist kein Argument für die Unfähigkeit der Eltern.

Die Großeltern unterstützen die Eltern, was diese auch als Entlastung ihrer Rolle ansehen. Funk kommt zu dem Resultat, dass die Großeltern neben der Entlastung eine Quelle der Information darstellten: über sie bekämen die Kinder Zugang zu kognitivem und emotionalem Wissen, zum Beispiel durch das Einführen in die Welt der Bücher, durch das Singen von Kinderliedern, durch Konzert- und Theaterbesuche.

[...]

Excerpt out of 85 pages

Details

Title
Hörende Kinder gehörloser Eltern als Sonderfall der Hörbehindertenpädagogik
College
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Rehabilitationspädagogik)
Grade
1,0
Author
Year
2003
Pages
85
Catalog Number
V87184
ISBN (eBook)
9783638013208
ISBN (Book)
9783640319763
File size
2620 KB
Language
German
Keywords
Hörende, Kinder, Eltern, Sonderfall, Hörbehindertenpädagogik
Quote paper
Juliane Schreck (Author), 2003, Hörende Kinder gehörloser Eltern als Sonderfall der Hörbehindertenpädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87184

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