Der russische Ödipus - die erotische Marienverehrung des Grigori Jefimowitsch Rasputin


Libro Especializado, 2008

110 Páginas


Extracto


Inhalt

Vorwort

Die Marienerscheinungen
Die erste Erscheinung und ihre Folgen
Das Erlebnis
Ignoranz der Kirchen
Das Geschehen aus esoterischer Sicht
Der familiäre und etymologische Bezug
Der Einfluss der Mutter
Esoterische Aspekte seiner Jugendjahre
Mit Rasputin vergleichbare Marien- und Sophienverehrer
Erste Erfahrungen Rasputins mit dem anderen Geschlecht
a) Irina Kubaschowa
b) Natalia Stepanowa
c) Resumé der beiden Schlüsselerlebnisse
Die zweite Erscheinung und ihre Folgen
Das Erlebnis
Datierung und Glaubwürdigkeit
Praskowja Dubrowina
Traum und Wirklichkeit
Die dritte Erscheinung und ihre Folgen
Unstetes Leben und Wallfahrten
Das Erlebnis und die Wende
Marienträume

Rasputin und die Sekte der Chlysten
Ein „vorbereitendes“ Erlebnis
Rasputins Zusammentreffen mit den Chlysten
Wie Rasputin in Kontakt mit den Chlysten kam
Das Gespräch mit dem Woschd
Was Rasputin bei den Chlysten-Ritualen erlebte
Die Sekte der Chlysten und ihre gnostischen Wurzeln
Von der chlystischen Lehre
Zum ersten Gedankenpaar
Zum zweiten Gedankenpaar
Aus der Geschichte der Sekte
a) Die Chlysten des 17.-18. Jahrhunderts und ihre Ausbreitung
b) Wasili Radajew
c) Afanasi Durmanow und die Brüder Utizki
d) Osip Potapkin, Jewdokia G. [Potapkina]
Die chlystischen Gottesmütter - die „Inkarnationen der Bogomater“
Das Christus-Bewusstsein
Die Herabrufung der Rûah-Mutter
Ein Geistesverwandter Rasputins in der alten Gnosis: Karpokrates
Die hinduistischen Wurzeln
Die Auswirkungen der chlystischen Lehre auf Rasputins Leben
Im Kontext der Religionsgeschichte
Im praktischen Leben: Mutter Erdes Botschaft
Die dunkelste Seite des Wundermönchs
Die Rückschlüsse von Handschrifts Handschrift auf sein Wesen
Soziologisch-anthropologische Aspekte
Die drei Spielarten von Rasputins Sexualität
Theosophisch-esoterische Aspekte des Sex

Fuchs, Dionysos, Śiva. Die „Archetypen“ Rasputins in der Geister- und Götterwelt
Fuchs
Dionysos
Fuchs und Dionysos
Tanz
Die Verehrerinnen und der sexuelle Rausch
Śiva
Śiva, das Urbild des Dionysos
Der matriarchale Hintergrund
Śiva und die Übereinstimmungen mit Rasputin
Ambivalenz (1): Dämonisch-Göttliches Wesen
Ambivalenz (2): Eros-Sexus und Askese
Phallus-Bezug (Śiva im Lińga, Rasputin als Sklave seines Phallus)
Tanz
Dākinīs, Mænaden, Hexen, VerehrerInnen; Fuchs und Schakal
Segensgeste

Resumé: Mahāmāyās Schatten

Statt eines Schlusswortes

Chronologie der frühen Jahre

Literatur
Zur Person Rasputins
Zum Thema Chlysten
Sonstige Religionsgeschichte und Allgemeines

Vorwort

Zahlreiche Bücher schreiben über Grigori Rasputin aus der Sicht der Zeitgeschichte und Politik. Wenn ich von ihm schreibe, dann keineswegs in der Absicht, der Fülle von Biographien eine weitere hinzuzufügen. Auch geht es mir nicht um Dinge der Politik, egal ob Kirchen- oder weltliche Politik, auch nicht um seine Ermordung, sondern vor allem um den jungen Rasputin, seine Religiosität und sein Wesen, weniger um die Auswirkungen, die sein Leben gehabt hat. Denn all die Skandale, über die viele Biographien so ausgiebig berichten, sind letztlich nichts anderes als die Folgen einer ganz besonderen Religiosität. Diese Religiosität, ihre Wurzeln und ihre Folgen, sollen das Hauptthema der folgenden Ausführungen sein, und schon jetzt kann ich dem Leser versprechen, dass sich erstaunliche Dimensionen auftun werden.

Auch wenn es sich hier in erster Linie um eine religionswissenschaftliche Arbeit handelt, so halte ich mich nichtsdestoweniger an die Daten der solideren Biographien, das heißt vor allem jene von Edward Radsinski, Elisabeth Heresch, René Fülöp-Miller und nicht zuletzt Rasputins oft zu Unrecht verunglimpfter Tochter Maria Rasputin, die uns für das Verständnis seiner Religiosität wertvolle, ja unentbehrliche Erinnerungen aufgezeichnet hat.

Natürlich wird der Leser nun die Frage stellen, warum das Thema Rasputin eigentlich für die Theologie, die Esoterik und ihre Nebenwissenschaften interessant ist. Hierzu möchte ich den mysteriösen Umstand der drei Propheten namens Grigori in Zusammenhang mit der Dynastie der Romanows aufzeigen. Es gibt nämlich bemerkenswerte Verbindungen zwischen diesen sowie der Familie Ipatiew. Ferdinand Ossendowski weist in seinem Werk „Schattenbilder aus dem neuen Russland“ auf folgendes hin:[1]

Als 1613 die Romanows in Gestalt von Nikolai Teodorowitsch in Moskau den Thron bestiegen, fand im Kloster Ipatiew, von der reichen Familie Ipatiew gegründet, eine Feier statt. Während der Prozession erlitt ein Epileptiker namens Grischa (Grigori) einen Anfall, und er rief aus: „Viele Jahre werden die Romanows über uns herrschen, zu Macht und Ruhm gelangen und erst unter dem Dache Ipatiew zugrundegehen.“

Nachdem die Worte des ersten Grigori unter Unverständnis verklungen waren, entsann man sich ihrer wieder 199 Jahre später, als im Jahre 1812 Napoleon den Kreml besetzt hatte. Die russischen Truppen hatten sich bis Kustrowa zurückgezogen, da trat erneut ein Prophet namens Grigori auf, der den Sturz des Kaiserhauses voraussagte. Die Polizei von Moskau ließ ihn verhaften und zu Tode peitschen, doch seit jener Zeit flüsterte man immer wieder, dass der Glanz der Romanows mit einem Gottesmann namens Grischa zusammenhinge.

Gut 93 Jahre darauf, am 1. November 1905, notierte Zar Nikolaus II. in sein Tagebuch: „...Wir haben den Gottesmann Grigori aus dem Gouvernement Tobolsk kennengelernt.“ Den Rest kennen wir recht gut: Die wundersame, heilende Wirkung von Rasputin auf Zarewitsch Alexej und die Abhängigkeit Alexandra Fjodorownas von ihm, die daraus erwuchs mit all ihren Folgen, sowie seine Prophezeiung vom Untergang der Romanows. Nun, mittlerweile war die Familie Ipatiew nach Jekaterinenburg (Swerdlowsk) umgezogen. Und genau im Haus dieser Familie war es, wo das Zarenpaar und seine Kinder 1918 unter den Kugeln der Bolschewiken starben. Wer möchte da nicht an Schicksal glauben!

Abgesehen vom Thema Prophetie sind natürlich auch die Heilungen sowie aus religionswissenschaftlicher Sicht die Marienerscheinungen, die Geschichte der Chlysten und ihre tieferen Wurzeln von Interesse, sowie nicht zuletzt auch die graphologischen Aufzeichnungen, die uns Max Pulver zur Charakterisierung von Rasputins Wesen hinterlassen hat.

Historische Fakten und Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaften zusammengenommen ergeben, wie ich meine, ein wesentlich klareres Bild des „Heiligen Teufels“, das aufräumt mit den bisherigen Vorurteilen und Klischees.

Diejenigen unter den Lesern, deren Horizont groß genug dafür ist, werden verstehen. Ich kann jedem nur raten und wünschen, sich mit Offenheit daranzuwagen, oder aber es lieber gleich bleiben zu lassen, denn für mich ist es nicht so wichtig, dass das Buch möglichst oft verkauft wird, sondern dass es diejenigen erreicht, die Lady Sudbina („Frau Schicksal“) dazu bestimmt hat, es zu lesen.

Die Marienerscheinungen

In Rasputins Leben haben, glaubt man den Quellen, mindestens zwei oder drei Erscheinungen der Muttergottes stattgefunden. Sie bilden die Basis für Rasputins spätere Religiosität und den Glauben, den er im Lauf der Jahre daraus entwickelt hat.

Die erste Erscheinung und ihre Folgen

Über die erste berichtet uns seine Tochter Maria Rasputin[2], die mit ihrem ursprünglichen Namen Matrjona Grigorjewna Rasputina hieß, sowie Henri Troyat[3], der eine Kurzfassung ihrer Schilderung wiedergibt.

Das Erlebnis

Es geschieht an einem warmen Sommertag des Jahres 1877, in der Umgebung von Pokrowskoje. Grigori, acht Jahre jung, und sein Bruder Michail, zehn, tollen wie junge Füchse gefährlich nahe am Ufer der Tura herum, als das Schicksal die Karten mischt. Der Platz, den sie sonst bevorzugen, ist diesmal nämlich von lauten Ausflüglern besetzt, und dort, wohin es sie daraufhin verschlägt, ist es gefährlicher. Michail hat sich als erster seiner Sachen entledigt und springt ins Wasser. Dort, wo er erwartet hatte, noch stehen zu können, versinkt er plötzlich in einem Loch und verschwindet aus Grigoris Sichtfeld. Schreckerstarrt muss dieser erkennen, dass sein Bruder in einen Strudel geraten ist. „Mischa, Mischa!“ rufend, stürzt er ans Ufer und taucht seinen Arm hinein in die Fluten. Michail kann den Arm ergreifen, doch das Unglück will es, dass Grigori ihn nicht retten kann, sondern selbst hineingezogen wird. Verzweifelt kämpfen sie mit den wilden Wogen, versuchen dem Wasser zu entrinnen, doch sie haben keine Chance. Aber da! Zufällig eilt ein Mann herbei, den sein Weg in einiger Entfernung am Flussufer vorbeigeführt hat. Es gelingt ihm, beide zu retten und so kommen sie triefend nass, durchweicht und frierend zu Hause an. Bald darauf stellt sich bei beiden eine starke Lungenentzündung ein.

Etwa eine Woche später. Eine warme Bauernkate, von Öllampen mehr schlecht als recht erhellt, ein Bett in der Küche, am warmen Ofen, dort, wo es am wärmsten ist.

„Ja! Oh ja! Ich will es, ich will es!“ Eine schwache Knabenstimme dringt durch den Morgen, um gleich darauf wieder einzuschlafen. Die Worte haben Mutter Anna Wasiljewna, eine kleine Frau mit schmalem, strengem Gesicht und dunklem, streng nach hinten frisierten Haar, ans Bett ihres Sohnes gerufen, und als der Junge wieder erwacht, erzählt er ihr von seinem Erlebnis: Eine wunderschöne Frau mit blondem Haar und weißblauem Kleid sei ihm erschienen und habe ihm befohlen, wieder gesund zu werden.

Nachdem sie sich etwas gefasst haben, beschließen die Eltern, den Dorfpopen zu Rate zu ziehen, denn sie sind gläubige und gottesfürchtige Menschen, die an keinem Sonntag den Gang in die Pokrowskojer Marienkirche versäumen, und denen auch die Heiligtümer von Abalak, 25 Werst nördlich von Tobolsk,[4] Tobolsk selbst und Tjumen durch viele Wallfahrten vertraute Stätten sind.

Der Dorfpope lässt es sich nicht nehmen, zum Mittagessen zu kommen, und nachdem er sich die Geschichte angehört und mit Grigori selbst gesprochen hat, erklärt er den Eltern mit bedeutungsvoller Stimme, dass ihrem Sohn die Gottesmutter, die Bogomater selbst, erschienen sei.

Bei dem Dorfpopen handelt es sich laut Troyats Angabe um Pjotr Ostrumow, was in Widerspruch zu bei Heresch wiedergegebenen Details aus der Ermittlungsakte von 1907 steht, wo wir lesen können, dass Ostrumow erst seit 1897 mit Rasputin bekannt ist.[5] Es wird sich daher wohl um den anderenorts öfters erwähnten Pjotr Popow handeln, oder um einen anderen Vorgänger Ostrumows.

Ignoranz der Kirchen

Bevor ich zum entscheidenden Aspekt komme, möchte ich zuvor kurz darauf hinweisen, dass die Orthodoxen wie Katholischen Kirchen die Marienerscheinungen Rasputins in ihren Werken einfach weglassen. Abgesehen von der Quellenlage, genauer gesagt dadurch, dass die Erlebnisse hauptsächlich durch seine Tochter Maria Rasputin, die ihnen als Zeugin offenbar nicht gut genug ist, überliefert sind, liegt bei der Ostkirche der Grund mit darin, dass Menschen, die den Tod durch Ertrinken erlitten haben, nicht heiliggesprochen werden dürfen. Eine seltsame Logik - nur weil jemand diese Todesart erlitten hat, soll er keine visionären Erfahrungen gehabt haben? Bei den Katholiken hingegen werden die Marienerscheinungen aus dem Bereich der Orthodoxen Kirche ohnehin sehr stiefmütterlich behandelt. Selbst für die großen Geschehnisse wie in Kasan oder Kiew hat das „Lexikon der Marienerscheinungen“ nur ein paar Zeilen übrig.[6] Eine positive Ausnahme bildet der große Ufologe Michael Hesemann, der die visionären Erlebnisse Rasputins für glaubhaft hält und als authentisch würdigt.[7] Man sollte nicht vergessen, dass es auch bei den heilig- oder seliggesprochenen SeherInnen durchaus ZeitgenossInnen gab, deren Leben keineswegs vorbildlich christlich verlief, und deren Visionen trotzdem ernstgenommen werden.

Das Geschehen aus esoterischer Sicht

Nun aber zum Geschehen selbst. Was hat Rasputin aus esoterischer Sicht erlebt? Bei Bewusstseinszuständen wie Traum, Trance, Fieberwahn, Koma und vergleichbaren Situationen geschieht, stark vereinfacht beschrieben, in etwa Folgendes:[8] Der feinstoffliche Körper, auch als Astralleib oder Seele bezeichnet, löst sich vom grobstofflichen Körper und geht, salopp gesagt, „auf Reisen“, bleibt aber, solange die Lebenserhaltungsfunktionen des „Fleisches“ noch intakt sind, mit dem grobstofflichen Leib verbunden durch das berühmte Astralband oder Silberschnur, die erst beim endgültigen Hinübergehen, dem Tod, durchtrennt wird. Die Reise geht durch sämtliche Sphären der jenseitigen Welten, in schlafwandlerischem und unbewusstem Zustand. Erst wenn der Astralleib in ein Gebiet kommt, wo eine Schwingungsfrequenz vorherrscht, die mit seiner eigenen übereinstimmt, erwacht das Bewusstsein: Das Erleben beginnt. Die Schwingungsfrequenz selbst wiederum hängt in großem Maße davon ab, in welcher psychisch-seelischen Verfassung sich der Schläfer befindet. Im Fall von Grigori war eine Nah-Tod-Situation vorausgegangen. Wir wissen, dass sein Bruder Michail an der dem unfreiwilligen Bad in der eiskalten Tura folgenden Lungenentzündung starb, er selbst jedoch wieder gesund wurde. In diesem extremen Zustand, zwischen Tod und Leben, noch den Tod vor Augen, war ihm Diejenige am nächsten, nach der sich sein Innerstes vor Sehnsucht verzehrte. Seine innerste Liebe aber war die, wie sich später noch deutlicher herauskristallisieren wird, erotisch geartete Liebe zur Himmelskönigin, daher war SIE es, die er zu erblickten glaubte. Sein Wunsch, die Himmlische Mutter auf der Erde zu suchen, brachte das vehemente Bejahen, weiterleben zu wollen, hervor.

Der familiäre und etymologische Bezug

Schon aus familiären Umständen ist Grigori ein Bezug zur Gottesmutter sozusagen in die Wiege gelegt. In frühester Kindheit verliert er seine Schwester, die den Namen Maria trägt. Die an Epilepsie Leidende hat beim Wäschewaschen einen Anfall, stürzt in den Fluss und ertrinkt. Wenn er später seiner ersten Tochter den Namen Maria in der russischen Form Matrjona geben wird, können wir versichert sein, dass er damit bei weitem nicht nur seine verstorbene Schwester würdigt. Die Erinnerungen an Krankheit, Unfall und Verlust sowie der Umstand, dass die spätere Zarin Alexandra Fjodorowna ebenfalls an der damals nicht wenig verbreiteten Krankheit litt, mögen mit dazu beigetragen haben, dass Rasputins künftiges Verhältnis zu „Alicky“ sehr eng werden sollte. Bedeutungsvoll ist auch der Name seiner Mutter: Anna, ein Name, bei dem ein gläubiger Mensch natürlich sofort an die Mutter der Jungfrau Maria denkt. Auch die Frau, die in St. Petersburg zumeist die Verbindung zwischen ihm und der Zarin herstellen wird, hieß wie seine Mutter: Anna - nämlich Anna Wyrubowa!

Überhaupt muss man davon ausgehen, dass Rasputins leibliche Mutter eine viel größere Rolle in seinem Leben gespielt hat, als man allgemein annimmt. Um diese Frau gibt es die widersprüchlichsten Angaben: Elisabeth Heresch schreibt, sie sei schon „sehr früh“ verstorben und er habe nur wenig Erinnerungen an sie behalten. Angaben von Maria Rasputin lassen darauf schließen, dass Anna Wasiljewnas Ableben kurz vor der Hochzeit ihres Sohnes, also 1887, mit Paraskejewa (Praskowja) Fjodorowna Dubrowina eingetreten sei, denn: Seine Frau sei zu ihm ins Haus „ihres seit kurzem verwitweten Schwiegervaters“ gezogen. Bei Radsinski schließlich findet sich die Wahrheit, und noch mehr: Sie weilte noch im Jahre 1897 unter den Lebenden, da die Volkszählung dieses Jahres sie noch als Familienmitglied führte. Laut dieser Information habe der Rasputinsche Haushalt, was die Familienmitglieder angeht, 1897 aus Anna, 57, Jefim, 55, Praskowja, 30, und Grigori, 28 Jahre alt, bestanden; Bauern, weder besonders arm noch wohlhabend. Im Tobolsker Archiv befinden sich laut Radsinski auch die Bücher aus der Pokrowkojer Marienkirche (heute nur noch Ruine), und nach diesen Akten heirateten am 21. Januar 1862 Anna Wasiljewna, 22 Jahre alt, und Jefim Jakowlewitsch, 20 Jahre alt. Demzufolge wurde Anna Wasiljewna Rasputina also höchstwahrscheinlich 1840, Grigoris Vater Jefim Jakowlewitsch, seinerseits Sohn von Jakow Wasiljewitsch Rasputin, 1842 geboren.[9]

Der Einfluss der Mutter

Es ist natürlich ein frappierender Unterschied, ob man den Einfluss der Mutter auf das Leben eines Menschen danach beurteilt, ob sie, wie viele Autoren schreiben, schon in seiner Kindheit verstorben sei, oder, wie sich bei Maria Rasputin ergibt, als er gerade 18 war, oder ob sie noch immer Einfluss auf ihn hatte, als er schon 28 Jahre alt war, so wie es tatsächlich der Fall ist, umso mehr, da Grigori, von seinen Wanderungen abgesehen, zu Hause bei den Eltern lebte. John Eugene Clay erwähnt bei dem Versuch, die Kulte der chlystischen Gottesmütter wie auch die Marienverehrung in Russland zu erklären, eine These des Soziologen Michael Carroll, die besagt, dass im russischen Volk, wo die Väter oft längere Zeit von zuhause wegblieben, viele Söhne eine besonders starke Mutterbindung, die auch ödipale Elemente beinhaltete, entwickelt hätten. Um dem Konflikt zu entgehen, sei diese Liebe oft auf die Muttergottes projiziert worden.[10] Gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass dies auch bei Grigori so war, denn als Fuhrunternehmer war sein Vater Jefim oft für längere Zeit von zu Hause fort. Der Russe hat ohnehin ein wesentlich stärkeres Verhältnis zur Mutter: Er lebt nicht im „Vaterland“, sondern in „Mütterchen Russland“, und es gibt im Volksglauben ja auch die Gestalt der „Mutter Erde“, von der später noch die Rede sein wird.

Esoterische Aspekte seiner Jugendjahre

Ich denke nun genügend Gründe dafür aufgeführt zu haben, dass Rasputins Religiosität sich durch eine ödipale Veranlagung auf die Gottesmutter bezogen hat, direkt oder indirekt, was seinen Ursprung zweifellos in dem Schlüsselerlebnis von 1877, im Alter von acht Jahren, hat. Er suchte SIE, ihre hehre Erscheinung, in seinen jungen und späteren Jahren, überall in seiner Umwelt. In seinem Leben spielen, wie wir noch sehen werden, die blonden Schönheiten eine prägende Rolle. So berichtet beispielsweise Jelena Dschanumowa in ihrem Erlebnisbericht davon, wie sehr Rasputin zuerst von ihrer Freundin, dem blonden Vamp Lola, in heftige Erregung versetzt wird.[11] Nicht ohne Grund hat Vera Alexandrowna Schukowskaja, eine spätere Bekannte von ihm, über ihn in ihre Aufzeichnungen geschrieben: „Rasputin, der seit 30 Jahren Gott auf Erden sucht...“[12] Man wird noch sehen, wie sehr dies zutrifft!

In seiner Pubertät verband sich Grigoris Sehnsucht mit dem Sexus. Eine weise Frau und Okkultistin, Dion Fortune (1891-1946) hat einmal geschrieben, dass bei der Onanie dem Nervensystem ein Schaden zugefügt werde, da es einen Verlust von Energie ohne den gleichzeitigen Gewinn durch das Medium eines sogenannten ätherischen Doppelgängers gäbe, soll heißen: Die Energie, die für die Vereinigung und Ergänzung mit einem Partner anderen Geschlechts gedacht ist, geht sozusagen im freien Raum verloren und baut durch die beim Akt auftretenden sexuellen Fantasien in den tieferen Ebenen der unsichtbaren Welt Gedankengestalten auf, die dann Gefahr laufen, von bösen Kräften beseelt und aus eigener Kraft aktiv zu werden. Die Gedankengestalten, im Mittelalter Inkubus (Buhlteufel) und Sukkubus (Buhlteufelin) genannt, manifestieren sich und sind, der Natur der Kraft zufolge, der sie ihre Entstehung verdanken, bestrebt, sich in der Atmosphäre des Ortes ihrer Entstehung herumzutreiben, um Menschen, die mit dieser Atmosphäre in Berührung kommen, zur Sinnlichkeit zu verführen.[13] Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass Rasputin einem solchen Dämon anhängig war, sondern vielmehr, dass er unbewusst zur Entstehung von Sukkuben beitrug, da sich seine Art der Liebe auf einer sehr unteren, rein sexuellen Stufe befand und er diese Art von Liebe auf die Muttergottes projizierte. Ein Mystiker des 20. Jahrhunderts, Carl Welkisch, schreibt: „Ein Mensch, der in seinen Vorstellungen, Reden und Handlungen Heiliges und Unheiliges vermischt, ... räumt, ohne es zu wissen, niedern Geistern Einfluss ein, die ihn gerne auf ihre Stufe herabziehen möchten. Jedes Gefühl für die Heiligkeit der von Gott verliehenen Geschlechtlichkeit wird erstickt, und das Innenleben wird verunreinigt...“[14] Das gilt auch, sogar noch erheblich verstärkt, wenn das Unheilige, und sei es auch völlig unbewusst, zum Heiligen erhoben wird! Wenn meine These stimmt, dass Rasputin die Gottesmutter mit seiner Erotik verband, war insofern sein falscher Weg bereits zu diesem Zeitpunkt vorgezeichnet.

Mit Rasputin vergleichbare Marien- und Sophienverehrer

Rasputin hat in den Marienverehrern der Kirche einige berühmte Vorbilder: Joseph von Copertino hatte angeblich so wenig Talente, dass er im Kloster von Arbeitsbereich zu Arbeitsbereich als unbrauchbar hin- und hergeschoben wurde. Eines Tages jedoch, so seine Verehrer, war er „durch seine asketische Frömmigkeit, deren schlagendes Herz die inbrünstige Verehrung der Muttergottes war“,[15] zu solch wunderbarer Weisheit gelangt, dass die Gelehrten unter den Ordensleuten eingestanden, die Unterredungen mit ihm seien nützlicher als ihre Studien. Schon das Aussprechen des Mariennamens, der Anblick ihres Bildes setzte ihn in Verzückung, und mehr als einmal haben ihn Augenzeugen im Zustand der Levitation - erhoben, schwebend in der Luft - beobachtet. Mehr in die Richtung Rasputin geht das, was dem Heiligen Alphonsus von Liguori, einem feurigen Verehrer der Muttergottes, zuteil werden durfte. Nicht nur waren seine Hymnen voll von Erotik, sondern er selbst habe noch mit 88 Jahren den „Stachel des Fleisches“ gespürt, und die Ursache dafür war der Anblick von Bildnissen der Gottesmutter in seinem Inneren. In einer Grotte glaubte er, Zusammenkünfte mit der Himmelskönigin zu haben, die sich ihm in „jungfräulicher Schönheit“ - also nackt! - vor seinen Augen zeigte.[16] Manche der sogenannten Maria-Lactans-Bilder, wo die stillende Gottesmutter dargestellt wird, zeigen sie naturgemäß als ganz oder teilweise barbusig, und so mancher Heilige genoss sozusagen die Muttermilch aus ihrer heiligen Brust.

Der Psychologe Freimark belehrt uns, dass dort, wo versucht wird, den Sexualtrieb abzutöten, sich die Natur räche, indem sie das Gehirn des Apostaten mit erotischen Bildern fülle.[17] In einem Buch über das mönchische Leben[18] fand ich einen Aufsatz von einem jungen Mann namens Jakiw, der sich in ein attraktives Mädchen, Nastka, verliebt. Als sie dies bemerkt, erwidert sie diese Liebe, doch er, aus Angst vor Sünde, will es nicht zulassen. Immer stärker plagen ihn erotische Fantasien, und er berät sich mit seinem Onkel, dem Popen, der ihm rät, eine Frau zu suchen. Doch das dünkt ihm kein guter Rat. Danach gerät er an den Pförtner des nahen Klosters, den Fanatiker Jeremia, der ihn belehrt, dass der Teufel vor allem im weiblichen Körper wohne; er rät Jakiw, ins Kloster zu gehen. Dieser befolgt den Rat und verzieht sich schließlich als Klausner in eine düstere, unterirdische Höhle, einem Verliese gleich. Der Erfolg davon ist, dass ihn die Bilder nur umso stärker peinigen. Das mutige Mädchen sucht ihn sogar dort auf, doch er stößt sie hinweg, beschimpft sie sogar als Teufelin und Verführerin. Als sie nichtsdestoweniger immer wieder erscheint, geschieht es schließlich eines Tages: Er, dreckig und stinkend geworden in seinem Loch, fällt über sie her, blind und rasend vor unterdrückter Lust, und vergewaltigt sie in schlimmster Weise. Danach ermordet er sie und richtet sich am Ende selbst. - Dieses erschütternde Zeugnis lehrt uns: Jakiws Askese und Keuschheit war keine mönchische Tugend, sondern Egoismus, die Angst nicht in den Himmel zu kommen, und die schrecklichen Taten sind das Resultat dieser egoistischen Liebe. Daran führt kein Weg vorbei, mag die Askese auch noch so sehr als mönchische Tugend gepriesen werden. Für Jakiw war sie nur der Deckmantel für seine Angst, nicht errettet zu werden.

Auch wenn wir an Heinrich Suso (1295-1366) denken, der sowohl Sophia als auch Maria verehrte, und der sich nachts einen Keuschheitsgürtel mit Sicherheitsschloss um die edlen Teile legte, den Schlüssel dazu viele Zimmer entfernt verwahrend, damit er sich nicht versehentlich selbst beflecke, müssen wir davon ausgehen, dass diesen Seliggesprochenen, dessen Ansehen hier in keinster Weise herabgesetzt werden soll, zahlreiche erotische Träume von Frau Weisheit, Sophia, oder von der Gottesmutter Maria geplagt haben. Die erotische Dichtung zugrundelegend, müssen wir auch den Pietisten Gottfried Arnold (1666-1714), den Sophiologen Wladimir Solowjew (1853-1900) und viele Andere wie den großen Jakob Böhme (1575-1624) in dieser Weise „würdigen“. Ergänzenderweise soll nicht unerwähnt bleiben, dass es durchaus auch das Gegenstück dazu gab, also Nonnen, deren Verehrung von Christus stark erotisch geprägt war, so Mechthild von Magdeburg, Maria von Agreda, Teresa von Avila, Caterina von Genua, und andere mehr.

Erste Erfahrungen Rasputins mit dem anderen Geschlecht

Es ist nötig, auf die ersten Erfahrungen Rasputins mit den Frauen einzugehen, besonders die Begegnungen mit Irina Kubaschowa und Natalia Stepanowa, da wir daraus vieles über seine Persönlichkeit erfahren.

a) Irina Kubaschowa

1885. Rasputin ist mittlerweile etwa 16 Jahre jung. Was ist mit dem Begnadeten geschehen, der als Achtjähriger im Traum die Gottesmutter geschaut und seitdem in zahlreichen Visionen meist dunkle Ereignisse wie Krankheiten oder den Tod von Mitbürgern vorausgesagt hat?

Das Bildnis der Gottesmutter hatte sich in seiner Seele eingebrannt. Diese wunderschöne Frau mit den hellblonden Locken in dem weißblauen Kleid stand immer vor seinem inneren Auge, und - auch wenn es ihm nicht bewusst war: An ihr maß er die Mädchen und Frauen, die ihm begegneten. Folgendes belegt uns dies eindrucksvoll.[19]

Eines Tages trifft der junge Rasputin also auf eine Frau, Irina Kubaschowa, die seiner Marienerscheinung sehr ähnlich sieht. Es sind besonders ihre wasserstoffblonden, langen Locken, die auf ihn eine eigentümliche Faszination ausüben. Die meisten Frauen tragen sonst die typische russische Bauerntracht, zu deren Grundausstattung schlichte Kopftücher gehören, welche die meisten Haare verdecken. Recht offene blonde Locken, wie sie die Kubaschowa zeigt, sieht man selten. Die Schönheit dieser Frau gleicht der Gottesmutter, sie ragt aus der Menge hervor wie eine Rose aus einem Feld von Wiesenblumen, weckt in ihm Erinnerungen an die Vision seiner Kindheit. So nimmt es uns kaum wunder, wenn die Augen des jungen Rasputin mit ihren Blicken verstohlen, aber nichtsdestoweniger beharrlich an dieser Erscheinung, dieser Verkörperung der Schönheit selbst haften bleiben - wie gebannt, als wäre die Frau eine Fee oder Engelin, ein Wesen wie aus einer anderen Welt, was gar nicht so abwegig ist, denn natürlich ist die Oberschicht eine völlig andere Welt als das, was er aus seinem persönlichen Umfeld kennt.

Wochenlang verzehrt der junge Rasputin sich nach ihr in unsäglicher Sehnsucht, ständig ihr hehres Bild vor Augen. Als er sie endlich wiedersieht, erweckt sie durch ihr Lächeln die höchsten Hoffnungen und Wunschträume in ihm. Danach aber zeigt sie ihr wahres Gesicht, und er wird gnadenlos desillusioniert: Sie lockt ihn zu sich in ein Gartenhäuschen der Kubaschowschen Villa, betört ihn, der verehrend vor ihr auf die Knie sinkt, in schamlosester Weise, um ihm dann nicht nur das ersehnte sexuelle Erlebnis zu verwehren, sondern auch, um ihn von ihren Dienerinnen in schrecklicher Weise malträtieren zu lassen, sodass er zahlreiche Verletzungen wie Schrammen, Quetschungen und Hämatone davonträgt, ganz zu schweigen von der Schädigung seiner Psyche durch diese Demütigung. Dort, auf dem Landsitz der Familie Kubaschow, hat sich ein Schlüsselerlebnis abgespielt. Nicht nur, dass er, wie die Zukunft erweisen wird, hinfort höhergestellte Damen nicht besonders gut, ja teilweise verächtlich behandeln wird, nein, auch für das Thema Sex und Versuchung ist das Erlebte wichtig. Das Zusammenwirken von aufgestauter Lust, gefolgt von erzwungenem Verzicht, werden wir später in seiner Lehre wiederfinden. In der Begegnung mit der Kubaschowa wurde ein erster Grundstein dafür gelegt.

Der Kern des Berichtes stammt aus den Erinnerungen von Grigori Rasputin und Dunja Petschorkina und gelangte so zu Matrjona Rasputina, Grigoris Tochter, von der er Jahrzehnte nach dem Tod ihrers Vaters veröffentlicht wurde.[20]

Angewidert von dem Verhalten ihrer Herrin hatte Dunja Petschorkina, die damals kaum 14-Jährige, den Dienst im Hause Kubaschow gekündigt und wenig später in Pokrowskoje, eine Arbeit als Hausmagd im Hause Rasputin begonnen, wobei sie einen gesellschaftlichen Abstieg in Kauf nahm. Sie ist die Schwester von Dmitri Petschorkin,[21] dem Freund Rasputins, der Jahre später mit ihm die Reise zum heiligen Berg Athos unternehmen wird, und wir dürfen aus gutem Grund annehmen, dass die Freundschaft der beiden Männer durch sie erst zustandekam. Freilich ist dies nur eine Mutmaßung, allerdings eine recht plausible. Der Freund wird bei manchen Autoren Petschorkin, bei anderen Petscherkin genannt. Bei Radsinski werden Dunja (Kurzform von Jewdokia) und Katja (Kurzform von Jekaterina) unter den Namen Jewdokia respektive Jekaterina Peterkina geführt. Bei den unterschiedlichen Schreibweisen, in welcher russische Namen oft in westlichen Übersetzungen wiedergegeben werden, ist es nicht ausgeschlossen, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass zwischen Peterkina und Petschorkina gar kein Unterschied besteht. Das Alter dieser Dunja ist der Schlüssel zur Ermittlung des genauen Ereignisjahres, eine Datierung, die erhebliche Probleme bereitet:

Ein kleines Detail aus einer Ermittlungsakte weist, verbunden mit einer Angabe von Rasputins Tochter, darauf hin, dass die Episode erst 1889 oder 1890 stattgefunden haben könnte, denn die Akte, datierend aus dem Jahr 1907,[22] nennt an der Stelle, wo von Jewdokia und Jekaterina Petschorkina die Rede ist, auch deren Alter: 31 und 21, was danach bedeuten würde, dass Dunja im Jahr 1876 geboren wäre. Da sie laut Maria Rasputins Angabe zum Zeitpunkt des Erlebnisses mit der Kubaschowa 14 Jahre jung war,[23] hätte das Geschehen dann wohl im Jahre 1890 stattgefunden. Leider sind die Altersangaben in den Akten nicht immer zuverlässig, wie man auch anhand von Rasputin selbst sieht, von dem man ja bis ans Ende des 20. Jahrhunderts nicht wusste, wann genau sein Geburtsjahr war. Bei Heresch finden wir das Ereignis auf S. 24-25, noch vor seinem ersten Erlebnis mit den Chlysten (S. 31-32) eingeordnet, welches bei ihr auf sein 18. Lebensjahr datiert ist,[24] wodurch man den Eindruck hat, es sei ein Erlebnis aus seiner Teenager-Zeit, vielleicht als 16- oder 17jähriger, also 1885 oder 1886. Liest man intensiv die Schilderung seiner Tochter, drängt es sich geradezu auf, dass es sich hier um die bittere Erfahrung eines Jugendlichen handelt. Daher ist es am vernünftigsten, von der Angabe Radsinskis, der an einer Stelle erwähnt, dass Katja, die Nichte Dunjas, 1881 geboren ist, auf das Geburtsjahr von Dunja selbst zu schließen, woraus sich folglich 1871 ergibt, wenn die Tante tatsächlich 10 Jahre älter als die Nichte war. Aus dem Alter der Ersteren zum Zeitpunkt des Geschehens ergibt sich dann das Jahr 1885. - Aufgrund der Entwicklungsphase eines jungen Mannes im allgemeinen kann es auch ein Jahr früher oder später sein, ein größerer Zeitrahmen jedoch ist nur schwer vorstellbar, wie letztlich auch, wie man noch sehen wird, der Gesamtrahmen dieses Zeitraumes verdeutlicht.

Die Detailfülle, mit der seine Tochter Maria Rasputin von diesen Dingen berichtet, zeigt uns, dass er ihr sowie auch Dunja Petschorkina sehr viel anvertraut haben muss.

Rasputin musste einsehen, dass Schönheit nicht unbedingt gleichbedeutend mit Güte und Liebe ist. War es ihm selbst klar, dass er größtenteils in Tagträumen lebte, sein Denken und Fühlen unglaublich stark auf seine Wunschträume, seine Sehnsucht nach der Göttlichen Mutter gerichtet war? Wir wissen es nicht. Jedenfalls, er musste durch dieses traumatische Erlebnis, das er nie richtig verwinden konnte, auch auf schmerzliche Weise lernen, dass ein Adelsrang einen Menschen nicht unbedingt automatisch näher an das Göttliche heranrückt. Somit steht eine Irina in Verbindung zu seinem ersten traumatischen Erlebnis, und eine Irina wird es einst im Dezember 1916 auch sein, deren gepriesene Reize dazu benutzt werden, ihn zu der Stätte seiner Ermordung zu locken. Ob es mit der Mystik der 16 - sein Alter bei der Demütigung, der Tag und das Jahr seiner Ermordung - eine numerologische Bewandtnis hat, umso mehr in Verbindung zu den beiden Irinas, die wir hier wie dort antreffen? Wir können es nicht einmal erahnen, es ist nur auffällig und scheint seine Schicksalszahl zu sein.

b) Natalia Stepanowa

Die Überlegungen berücksichtigend, welche betreffs der Datierung des vorangegangenen Erlebnisses mit der Kubaschowa im Kapitel zuvor angestellt worden sind, kann das folgende Erlebnis nur 1886, das heißt ein halbes bis dreiviertel Jahr danach, stattgefunden haben:[25]

Natalia Stepanowa ist eine alleinstehende Frau, die bisweilen einen Vagabunden in ihrem Haus und manchmal auch in ihrem Bett aufnimmt. In Pokrowskoje wird sie deshalb argwöhnisch beobachtet und hat keinen guten Ruf. Eines Tages wird sie bei einem solchen Abenteuer erwischt, und während man den Mann lediglich verjagt, glauben die Dorfältesten, an ihr ein Exempel statuieren zu müssen. Fast wie in der Zeit Christi, als das Volk die Sünderin steinigen wollte, misshandelt man die Stepanowa, indem man sie an ein Pferd bindet und von diesem aus dem Dorf schleifen lässt, wobei sie erhebliche Verletzungen erleidet. Anders als seinerzeit Christus kann Rasputin aufgrund seines Alters und gesellschaftlichen Status als Sohn des Dorfvorstehers nicht direkt ins Geschehen eingreifen, doch in anderer Hinsicht ist der Part, den er hier spielt, dem von Christus vergleichbar, was ihm freilich erst Jahre später bewusst werden soll. Denn nicht nur in seiner Art des Mitgefühls und der Nächstenliebe, die er als Einziger für Natalia Stepanowa empfindet, hat er zweifelsohne etwas von der christlichen Erlösergestalt, sondern auch in seinen heilerischen Fähigkeiten. Als sich die Menge, die dem Spektakel beiwohnte, wieder aufgelöst hat, folgt Rasputin den Schleifspuren, die das Pferd im Schlamm hinterlassen haben, und findet Natalia nach kurzer Zeit. Da er bereits damals den Ruf eines Wunderheilers hat, vertraut sie, die verbannt ist und sich im Dorf nicht mehr blicken lassen kann, sich ihm an und es gelingt ihm tatsächlich, nach und nach ihre Wunden per Handauflegen zu heilen; auch baut er ihr eine provisorische Unterkunft und versorgt sie mit allem Nötigen. Als sie ihm unversehens ihre nackte Vorderseite zuwendet, erwacht sein Begehren, das sie sehr wohl wahrnimmt. Wie von ungefähr richtet sie sich plötzlich auf. Über ihr Gesicht, das sie ihm zugewandt hat, lässt sie die Sonne ihres süßesten Lächelns scheinen, und dieses Lächeln verspricht ihm die schönsten Freuden, welche immer er auch haben möchte: „Grischa“, flötet sie, „ich habe nur eine Möglichkeit, um dir meine Dankbarkeit zu zeigen für all das, was das du für mich getan hast. Wenn du willst, kannst du mich haben!“

Dieses freizügige Angebot kommt für ihn sehr unverhofft, und er lehnt es vorerst ab, will lieber damit warten, bis sie wieder völlig gesund ist. In diesen Tagen jedoch findet ein Dorffest statt, und Rasputin, der bislang noch keinen Alkohol getrunken hat, lässt sich zum Wodka verleiten. In leicht benebeltem Zustand begeht er die Dummheit, zwei junge Männer zum Versteck von Natalia zu führen, mit dem Ergebnis, dass er die Frau am Ende vor ihnen beschützen muss. Als die Zwei sich getrollt haben, stürzt er schluchzend hinweg von diesem Ort, rennt, bis er ausgepumpt ist, und fällt plötzlich nieder auf die Knie und bittet Gott um Vergebung für die Sünde, die er fast begangen hätte, und für die Sünde, die er tatsächlich in seinem Herzen trägt: Das Verlangen, das er für Natalia nach ihrem Angebot empfunden hatte. Als er sein Gebet beendet hat, kommt ein innerer Friede über ihn, das Hämmern in seinem Kopf lässt sukzessive nach, und er fühlt sich besser. Es ist fast wie eine Erlösung. Gott hat ihm vergeben. Zu der Einlösung ihres Versprechens kommt es nun natürlich nicht mehr.

Ganz ähnlich wie bei der Episode mit der Kubaschowa spielt auch hier wieder sexuelles Verlangen, Verzicht und diesmal besonders Schuldgefühle in Verbindung mit Reue eine Rolle - ein weiterer Schritt in Richtung seiner zukünftigen Glaubenslehre.

c) Resumé der beiden Schlüsselerlebnisse

Bereits ein gutes halbes Jahr vor dem Erlebnis mit der Stepanowa hatte Rasputin schon ein unglückliches Erlebnis durch seine - und seien sie noch so illusorisch gewesenen - sexuellen Wünsche durchmachen müssen. Hatte bereits dieses, wie man annehmen muss, in ihm erstes Nachdenken über Sünde und Reue hervorgebracht, so musste ihn dieses zweite Erlebnis natürlich noch viel mehr darin bestärken. Vor dem Hintergrund dieser dörflichen Gemeinschaft mit ihrer panischen Angst vor Sünde, mit Menschen, welche die Wahrheit nicht ertragen können und daher Opfer benötigen, um ihr Gewissen zu beruhigen; die in der Person von Natalia Stepanowa auch auf ihre eigene Schuld einprügeln, muss sich in ihm ein besonders starkes Bewusstsein von Schuld, Sünde, Reue und Sühne entwickelt haben, das umso verständlicher ist, wenn man bedenkt, welches Geheimnis er mit sich herumtrug: Er hatte sich in eine Frau verliebt, die niemand geringerem als der Gottesmutter, die ihm vor langen Jahren erschienen war, sehr ähnlich sah. Einerseits schien ihm die Heilige Jungfrau ihre Gunst zu schenken, nicht nur in ihrer Erscheinung, sondern auch in der Form von Heilkräften, andererseits aber hatte er immer wieder Visionen und Vorahnungen dunkelster Natur, bei denen es um Tod und Krankheit ging. Dass er dadurch in große Gewissenskonflikte kommen musste, und dass sich die Frage nach dem Sinn seines Lebens daran entzünden mochte, ist nur allzu verständlich und nachvollziehbar.

Was die Sache noch verstärkt, ist, die Episode mit Natalia betreffend, nicht nur die Tatsache, dass er ein sexuelles Begehren ihr gegenüber empfand, sondern ganz besonders auch der Umstand, dass er sich durch den Genuss von Wodka zu einem Fehler verleiten ließ, den er im nachhinein korrigieren konnte. Entscheidend ist dabei der von seiner Tochter festgehaltene Aspekt, dass er durch sein „Fleisch“ zweimal, erst bei Irina und jetzt bei Natalia, Gott geradezu vergessen hatte! Wenn er später, wie es uns aus einem ebenfalls von seiner Tochter überlieferten Gespräch mit Iliodor bekannt ist, argumentieren wird, dass es dem Heiligen nicht möglich ist zu beten, wenn ihn die Sinnenlust ergriffen hat, so spricht er dabei von seiner eigenen Erfahrung. Das ständige Hin und Her zwischen Versuchung und Überwindung, Reue und Sühne, das so charakteristisch für ihn ist, hat seine Ursachen mit Sicherheit auch in diesen beiden Schlüsselerlebnissen, umso mehr, wenn wir die geradezu einer Erlösung nahekommenden Gefühle berücksichtigen, die er bei seiner Reue empfunden hat: Ein tiefer innerer Friede, begleitet von der Besserung seines nervlichen Zustands und seines Gemütes.

Die zweite Erscheinung und ihre Folgen

Das Erlebnis

Anfang 1887. Rasputin ist mittlerweile 18 geworden.

Eines Tages geht er hinaus auf das Feld, um zu pflügen. Wie so oft ist er versunken in Gedanken, was gerade bei dieser Arbeit, bei der er einsam, nur in Gesellschaft eines Pferdes, seine geradlinigen Furchen über den Acker zieht, sehr verständlich ist, erst recht nach dem Erlebnis mit der Stepanowa, das nun einige Monate hinter ihm liegt.

Da hat er wieder ein Erlebnis des inneren Lichts, das er so oft vor seinen Augen sieht, dieses Licht, das manchmal wie ein Inferno in ihm explodiert und sich danach oftmals in der Vorausschau von Ereignissen manifestiert.

Es geschieht wie immer ganz unverhofft. Eine Fülle gleißenden Lichtes breitet sich plötzlich vor ihm aus und füllt seine Sicht wie ein Ozean. Er verliert das Gefühl in den Händen, lässt den Pflug los, sinkt nieder auf die Knie. Während das Licht nun in tausend Teile zu zersprühen scheint, enthüllt es ihm gleichzeitig einen nahezu weißen, glänzenden Schein. Himmlische Musik erklingt, aus höchsten Sphären kommend, so als ob Engelschöre das Kommen eines wundervollen Wesens ankündigen würden. Nicht nur sein Herz, sein ganzes Ich ist offen und bereit für eine Begegnung mit dem Göttlichen, nach dem er sich so sehr sehnt. Das leuchtende Oval eines Glorienscheins manifestiert sich, und in dessen Mitte befindet sich eine nur schemenhaft erkennbare Gestalt, die sich auf ihn zu bewegt und bald als eine Frau in fließenden Gewändern erkennbar ist.

Rasputin ist der Atem stehen geblieben. Dann erkennt er die Muttergottes, die ihm als Jungfrau von Kasan, ein dem Orthodoxen Gläubigen durch zahlreiche Ikonen vertrautes Bild, die Gnade ihrer Erscheinung schenkt. Eine goldene Krone auf dem Haupt, umgeben von einem pulsierenden Heiligenschein in brillanten Farben, bekleidet mit einem schneeweißen schimmernden Kleid, gold- und silberbestickt, und mit zahlreichen Edelsteinen besetzt, darüber ein Mantel aus reinstem Purpur - so steht sie vor ihm.

Sie reicht ihren rechten Arm hernieder zu ihm, und mit einer Bewegung ihrer Hand, deren Innenfläche sie nach außen gewendet hat, spendet sie ihm die Gnade ihrer Erleuchtung, während ihre linke Hand über seinem Kopf erhoben ist, ihm ihren Göttlichen Segen gewährend. Tränen rinnen seine Wangen hinab, als er ein Gebet des Dankes und der Hingabe spricht, dem er hinzufügt:

„Wie darf ich dir dienen, Heiligste Mutter?“

Er blickt in ihr ruhiges, gelassenes Antlitz, entzückt und hingerissen von ihrer Schönheit; sein Herz ist so voll von Verehrung, dass es nahe daran ist, daran zu zerbersten.

Kaum noch atmend und ohne körperliches Gefühl verharrt er auf seinen Knien vor ihr, bis die Vision zu verblassen beginnt. Ein wenig Enttäuschung darüber, dass sie nicht zu ihm gesprochen hat, wie sie seine Zukunft sieht, beginnt in ihm aufzuflackern, doch scheint diese Zukunft offensichtlich dadurch, dass er sie so glühend verehrt. Als die Jungfrau, ihre Göttliche Liebe ausstreuend, vor seinen Augen verschwindet, und mit ihr der himmlische Chor vor seinen Ohren, verbleibt er noch minutenlang in seiner Gebetshaltung, halb benommen und sinnierend. Was ist ihre Absicht mit ihm? In welcher Weise wird er ihr dienen dürfen?

Als er sich wieder erheben will, wird ihm durch einen stechenden Schmerz bewusst, dass er außerhalb seines physischen Leibes war und nun wieder in diesen zurückgekehrt ist: Er kniet auf einem scharfkantigen Stein, der einen Riss in seine Hosen geschnitten und auch sein Knie ein wenig verletzt hat, denn es blutet. Indes, es macht ihm nichts aus - was ist schon dieser kleine Schmerz, quasi dieses kleine Opfer angesichts der gleichzeitigen Erscheinung der Gottesmutter von Kasan? Er ist ganz erfüllt von diesem zauberhaften Ereignis und meint, er müsse es seiner Mutter erzählen.

Da vernimmt er plötzlich eine Stimme, die bestimmt und doch freundlich direkt in sein Ohr zu sprechen scheint: „Erzähle keinem Menschen davon, dass du mich gesehen hast!“

Er ist verwundert. Ein Geheimnis? Warum soll so etwas Wunderbares geheimgehalten werden? Was hat die Muttergottes nur Mysteriöses mit ihm vor?

Datierung und Glaubwürdigkeit

Bei diesem Erlebnis müssen wir uns einmal mehr auf die Angaben von Rasputins Tochter Maria Rasputin verlassen.[26]

Diese Marienerscheinung auf dem Feld wird von vielen Autoren erwähnt, nirgendwo allerdings so ausführlich geschildert wie von Maria Rasputin. Der Chronologie dieses Buches zufolge hat das Ereignis stattgefunden, bevor Rasputin seine spätere Frau Praskowja kennen lernte, zugleich wird dort erwähnt, dass er bereits 18 Jahre alt war, was den Zeitraum auf die Wochen zwischen dem 10. Januar - seinem Geburtstag - und dem 22. Februar 1887 - dem Datum seiner Heirat mit Praskowja - reduziert.

Man hat Maria Rasputin bisweilen vorgeworfen, dass sie eine einseitige Berichterstattung betrieben, sprich nur die guten Seiten ihres Vaters, der für sie ein Heiliger war, dargelegt und die negativen Seiten weggelassen hätte. Abgesehen davon, dass sie gewisse dunkle Seiten ihres Vaters vermutlich nicht einmal gekannt hat, muss man bei dieser Marienerscheinung schon zugestehen, dass die Lektüre ihrer Erinnerungen an gewissen Stellen durchaus so verstanden werden kann, dass Rasputin hier sozusagen ein Heiligenschein umgehängt werden soll. Letztlich kann dem Bericht, wie auch den vorangegangenen, ja nur Rasputins eigene Version zugrunde liegen, und er selbst hat sich zweifelsohne als eine Art Heiligen betrachtet, was nun aber keinesfalls heißen soll, dass ich an der Marienerscheinung an sich Zweifel hegen würde. Die Detailgetreue besonders der Beschreibung der Gottesmutter entspricht durchaus Schilderungen anderer, anerkannter Visionäre oder deren Augenzeugen. Seltsam wirkt die eindeutige Zuordnung der Erscheinung zu den Geschehnissen von Kasan. Wozu hätte die Gottesmutter in ihrer Gestalt als Kasansche Jungfrau noch einmal im Jahre 1887 - 308 Jahre nach ihrer Erscheinung in Kasan - Grigori Rasputin in Pokrowskoje erscheinen sollen, es sei denn, um ihn für ein großes Leben auszuersehen? Dies zumindest scheint uns Maria Rasputin mehr oder weniger unterschwellig nahelegen zu wollen. Nun, letztlich ist es sekundär, ob es die Gottesmutter von Kasan war oder nicht; wichtig ist, dass es sich tatsächlich um eine Muttergotteserscheinung handelt, die Grigori Rasputin zuteil wurde. Eine ganz besondere Bedeutung muß man auch dem Erlebnis des Schmerzes beimessen, der ihm mittels des blutenden Knies widerfuhr. Dieses Schmerzerlebnis - und mit Sicherheit auch die vorangegangenen Erlebnisse der Enttäuschung - drückten dem jungen Rasputin ihren Stempel auf, bereiteten sozusagen das innere Feld für spätere Zügelung des Fleisches durch Askese und Geißelungen, denn zu den Schuldgefühlen und Reue gesellte sich nun auch das Schmerzerlebnis als eine weitere Steigerung. War dies der Wille der Muttergottes?

Praskowja Dubrowina

Nur wenige Wochen nach der Marienerscheinung lernt Rasputin auf einem Kirchenfest, vermutlich in Abalak, ein Mädchen kennen, das der Erscheinung der Gottesmutter ähnelt: Praskowja Dubrowina, aus einem Nachbardorf stammend, ist die Frau, die er bald danach heiraten wird.

Maria Rasputin berichtet in Erinnerungen ausführlich darüber,[27] und auch die Akten geben Zeugnis davon. Um die ganze Sache in ihrem Gesamtzusammenhang besser zu verstehen, muss man sich noch einmal den zeitlichen Ablauf vor Augen führen. Sein Geburtstag war der 10. Januar, der Tag des Heiligen Gregor, von dem er seinen Namen hat. Nur knapp sechs Wochen darauf jedoch, am 22. Februar 1887, ist uns urkundlich verbürgt, dass seine Hochzeit mit Praskowja Fjodorowna Dubrowina in der Marienkirche zu Pokrowskoje stattfand. Dazwischen liegt seine Marienerscheinung, von der seine Tochter sagt, dass sie geschah, kaum dass er 18 geworden war. Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, dass diese Erscheinung der Gottesmutter vor allem eine Frage aufwarf: Was hatte sie mit ihm vor? Was für ein Leben sollte ihm beschieden sein? Kurz darauf begegnet, fast möchte ich sagen „erscheint“ ihm eine Frau, die der Marienerscheinung gleicht, unzweifelhaft etwas Marienhaftes an sich hat. In der Tat: Praskowja galt als ausgesprochen schön, wenn nicht sogar hehr; groß, blond, stolz und dabei noch warmherzig, bescheiden. Das musste SIE sein! Als sein Vater Jefim ihn fragt, warum er denkt, dass sie die Richtige für ihn sei, bricht Rasputin ihn eine romantische Lobeshymne aus:

„Ich weiß einfach, dass sie die Richtige ist. Sie ist so schön; ihre Augen sind so groß und schwarz; ihr Haar ist wie Seide, gemacht aus Ähren des Korns. Sie liebt es genauso wie ich, zu tanzen, und sie ist so anmutig. Oh, sie ist das richtige Mädchen! Ich weiß es. Sie...“

Das Charisma dieser Frau muss Rasputin derart berauscht haben, dass er darin ein Zeichen sah: Eine Frau, von der Gottesmutter selbst gesandt, erst recht, wenn diese Begegnung tatsächlich im Marienheiligtum zu Abalak stattgefunden hat!

Nun, seine Eltern benötigen dringend eine weitere Arbeitskraft auf dem Hof, und so beeilt man sich mit der Hochzeit.

Traum und Wirklichkeit

Für Rasputin ist ein Traum wahr geworden. Er hat sozusagen seine Traum-Frau - ein Wesen, das ihm in ihrer erhabenen Schönheit, Warmherzigkeit und Bescheidenheit wie die Heilige Jungfrau selbst vorkommen muss - zur Ehefrau nehmen dürfen. Sie ist gut zwei Jahre älter als er, und das ist ihm nur recht.

Indes, der Rausch der Verliebtheit ist schnell verflogen, und der harte Alltag in einem sibirischen Dorf wird ihm bald den Unterschied zwischen einer Frau und einem himmlischen Wesen aufzeigen. Nicht lange dauert es, bis der harte bäuerliche Alltag die Euphorie verdrängt. Als neun Monate nach der Hochzeit der erste Sohn geboren wird, ist die Freude zwar groß, doch das Kind stirbt nach einem halben Jahr, etwa im April oder Mai 1888. Der Tod seines Kindes stürzt Rasputin in eine tiefe Krise, und er beginnt zu Trinken, begeht Diebereien. Wir wissen fast nichts über diese Zeit, und vielleicht ist es auch besser so.

Dass Rasputin nach dem Tod seines erstgeborenen Sohnes in eine Krise fällt, ist verständlich. Dies allein jedoch kann kaum der Auslöser für das schlechte Leben sein, dem er darauf verfällt. Was noch hinzu kommt ist, das Praskowja seine Religiosität (zunächst) nicht so ernst nimmt und dies eher belächelt. Diese Umstände zusammengenommen werfen ihn nun wieder aus der Bahn. Er muss hinaus, verdingt sich daher als Fuhrmann, ertränkt seine Enttäuschung im Wodka. Um das Geld für die Trunksucht zu beschaffen, begeht er Diebstähle. Was ist aus seinem Traum geworden? Was ist mit seiner Gottsuche? Das Paradies - durch die Ehe zu Staub zerfallen?

Die dritte Erscheinung und ihre Folgen

Unstetes Leben und Wallfahrten

Über einen Zeitraum von fast drei Jahren, von etwa Mai 1888 bis Februar 1891 wissen wir fast nichts über Rasputins Leben - nichts über seine Familie, nichts über seine Religiosität.

Einer allgemeinen Lehrmeinung zufolge werden Männer erst mit 21 Jahren wirklich erwachsen, und da es sich bei ihm um seine Lebensjahre 19 bis 22 handelt, mag man manches, was in dieser Zeit geschah, vielleicht noch seiner Jugend zuschreiben.

Es kann jedenfalls kein gutes Leben gewesen sein, denn am 14. Februar 1891 wird er in Kasan wegen Meineides zu einer Prügelstrafe verurteilt. Hat ihn die berühmte Legende von der Kasaner Gottesmutter in diese „heilige Stadt“ der Orthodoxie gezogen oder vielleicht nur ein Auftrag als Fuhrmann? Und der Meineid - worauf geht er zurück?

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob das Delikt Rasputins mit Religion oder mit etwas anderem zu tun hatte. In jedem Fall ist es nach all den marianischen Informationen, die wir bisher kennen, wahrlich kein Wunder, dass es ihn früher oder später nach Kasan verschlägt, den traditionsreichen Ort, wo 1579 die Gottesmutter erschienen war, und wo er später viele Verehrerinnen haben wird, bei denen er wohnt und für einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren eng mit dieser Stadt verbunden sein wird.

Das Wenige, was wir über den Zeitraum 1888 bis 1891 wissen, zeigt, dass eine gewisse Degeneration eingetreten ist, auf die jedoch bald wieder eine Periode gesteigerter Religiosität folgt, denn ab 1891 etwa dürfte diese wieder langsam erwacht sein: Noch in diesem Jahr unternimmt Rasputin eine Reise zum Kloster Abalak, wo er vor vier Jahren Praskowja kennenlernte, vielleicht um Rat bei weisen Menschen zu suchen, vielleicht, um Buße zu tun.

Diese in Russland berühmte, im Westen nahezu unbekannte Erscheinungsstätte Mariens steht mit einer wundertätigen Ikone (Abalackaja) in Zusammenhang. Die Ikone der Gottesmutter von Abalak gilt als die erste ihrer Art im christianisierten Sibirien. Die Muttergottes erschien dort erstmals im Juli 1636 und insgesamt vier Mal dem Wundertäter Nikola und anderen SeherInnen. Unter anderem wurde dabei einer Witwe namens Maria im Traum der Auftrag erteilt, die Bewohner von Abalak zum Bau einer Holzkirche zu veranlassen, was aber erst - wie auch die Tradierung der Legende überhaupt - Jahrzehnte danach (ab etwa 1670), nach diversen Wundern, geschah.

Zu diesem Marienheiligtum Abalak hatte Rasputin offenbar einen besonderen Bezug. Hier traf er nicht nur sein „Abbild Mariens“, Praskowja, sondern hier war vor allem ein Heiligtum der echten Muttergottes.

Vorerst scheint diese Wallfahrt nicht viel zu bringen, noch ist es ein Hin und Her, denn 1892 erfolgt gegen ihn in Pokrowskoje eine Anklage und Verurteilung zu einer einjährigen Verbannung wegen Diebstahls von Dorfpflöcken.

Das Erlebnis und die Wende

Irgendwann bei der Feldarbeit kommt die Wende. Er sieht das, wonach sich seine Seele seit seiner Kindheit verzehrt. Die Erscheinung der Muttergottes! Im Glanz der Sonne, sich hin- und herwiegend, ermahnt sie ihn zur Umkehr. Wir wissen, dass diese Marienerscheinung stattgefunden hat, aber leider nicht den genauen Zeitpunkt. Denkbar ist auch, dass diese Muttergotteserscheinung identisch ist mit der, die bei Maria Rasputin/Barham auf S. 59-60 zu finden ist. Das Wahrscheinlichste ist wohl, dass, sollte tatsächlich eine solche Erscheinung in diesem Zeitraum erfolgt sein, sie unmittelbar vor einem Punkt stattgefunden hat, an dem seine Religiosität eine neue Belebung erfuhr. Somit hätte sie ihn zur Umkehr von seinem üblen Weg bewogen. Mit Sicherheit jedenfalls wurde zu dieser Zeit etwas in ihm ausgelöst, seien es die Reisen, die ab jetzt folgen, oder vielleicht später die Gründung einer religiösen Gemeinschaft in seinem Heimatdorf, die in einigen Jahren erfolgen sollte.

1893. Nach dem Ablauf der Verbannungszeit kehrt er zurück nach Pokrowskoje. Oft ist er religiös euphorisch, ja wie in einer Art von religiösem Wahn, redet mit sich selbst unverständliche Sätze und gestikuliert dabei. In den folgenden drei Jahren folgt eine Zeit vieler Reisen, langer Abwesenheit von zu Hause. Als Reiseziele sind bekannt: Zarizyn mit seiner berühmten Muttergottesikone; Solowzew, die Stätte des heiligen Sergius von Radonesh; Kiew mit seiner Lawra, dem Höhlenkloster und der Hagia Sophia, ebenfalls ein Zentrum Orthodoxer Frömmigkeit; ebenso Kasan, die heilige Stadt, die einst den Ausgangspunkt für seinen Weg an den Zarenhof bilden wird.

Gerade die Lawra muss tiefen Eindruck auf Rasputin gemacht haben, denn er schreibt viele Jahre später, in einem Titel namens „Kurze Beschreibung der Reise zu den heiligen Stätten und die davon inspirierten Reflexionen über religiöse Fragen“ folgendes: „Ich kam in die heilige Lawra aus Piter, und hier erscheint mir die Welt Piters als Welt der Eitelkeit. Wenn du die Muttergottes anbetest und der Gesang erklingt ‚Zu deiner Güte nehmen wir Zuflucht’, bleibt dir das Herz stehen, und du denkst an das Vergängliche, dem du seit deiner Jugend dienst - da kommst du in die Höhlen und siehst nur die Einfachheit, kein Gold, kein Silber. Alles atmet nur Stille. Hier wird dir die Vergänglichkeit des Lebens bewusst (...)“[28] Die weiße Farbe der Lawra’schen Höhlengänge kann man mit Reinheit, die Feuchtheit aber mit dem Mutterschoß assoziieren, sodass der unwillkürliche Gedanke an den reinen Schoß Mariens, die 1231 in Kiew erschien, naheliegt. Dort, in diesem heiligen Fluidum, kamen ihm diese Gedanken; marianische Spiritualität und Kontemplation, die ja die Vorbedingung für jegliche Empfindungen der Reue ist. Kann es ein Zufall sein, dass er gerade hier an die Zuflucht zur Gottesmutter und ihre Güte denkt, sich sozusagen nach Geborgenheit in ihrem heiligen, mütterlichen Schoß sehnt?

Auch von weiter entfernt gelegenen Zielen ist uns bekannt, so dem marianischen Heiligtum auf dem Berg Athos, wo die Gottesmutter 963 erschienen war, mit dem Zönobiten-Kloster, wohin ihn Freund Petschorkin, der Bruder Dunjas, den er durch sie kennengelernt hat, begleitet und diesem Orden beitritt.

Das Ideal, das er an den geweihten Orten sucht, findet Rasputin nicht. Vor allem stört ihn die harte Arbeit, zu der Mönche und Nonnen in der Regel stark eingespannt werden. Freilich verschweigt er diesen Aspekt gern in seinen späteren Berichten und spricht lieber von Machtkämpfen, Intrigen und Prügelstrafen, die ihn abgeschreckt hätten, was wohl auch nicht ganz unwahr sein dürfte: „...Ich rate niemandem, seine Frau zu verlassen und in ein Kloster zu ziehen, um ein geistliches Leben zu führen. Dort habe ich mancherlei Sorten von Menschen gesehen; sie leben keineswegs wie Mönche, sondern tun, was ihnen beliebt, und auch Frauen halten nicht, was sie ihren Männern versprochen haben...“[29]

Zwischen seinen Reisen taucht er immer wieder mal in Pokrowskoje auf, wie die Geburt seines zweiten Sohnes Dmitri (Mitja), der 1895 zur Welt kommt, und der geistig etwas zurückbleiben ist, beweist.

[...]


[1] Ossendowski S. 126-127.

[2] Rasputin/Barham S. 13-14.

[3] Troyat S. 6-8.

[4] Heresch S. 29.

[5] Ibid. S. 152.

[6] Hierzenberger/Nedomansky S. 83 (Kiew 1231), resp. S. 137 (Kasan 1579).

[7] Hesemann S. 92.

[8] Folgendes vgl.: Kontakt-Berichte 8/1977, S. 5-7.

[9] Radsinski S. 45.

[10] Clay S. 461-462.

[11] Djanoumova S. ?.

[12] Radsinski S. 20.

[13] Fortune S. 183.

[14] Welkisch S. 125.

[15] Freimark S. 155.

[16] Ibid. S. 156.

[17] Ibid. S. 157.

[18] Schewtschuk S. 167-190.

[19] Vgl. die Schilderung von Rasputin/Barham S. 24-33.

[20] Dort, bei Rasputin/Barham, heißt sie zwar Dunia Bekyesheva, und wohl daher bei Heresch Dunja Bokjeschowa, doch könnte dieser Name aus einer Heirat nach Rasputins Tod herrühren.

[21] Heresch S. 231.

[22] Ibid. S. 149.

[23] Rasputin/Barham S. 33.

[24] Wie wir später noch sehen werden, war der Kontakt mit den Chlysten laut Radsinski erst in seinem 28. Lebensjahr, also 1897.

[25] Rasputin/Barham S. 41-51.

[26] Ibid. S. 53-55.

[27] Ibid. S. 59-60.

[28] Heresch S. 183.

[29] Ibid. S. 40.

Final del extracto de 110 páginas

Detalles

Título
Der russische Ödipus - die erotische Marienverehrung des Grigori Jefimowitsch Rasputin
Autor
Año
2008
Páginas
110
No. de catálogo
V87243
ISBN (Ebook)
9783638022323
ISBN (Libro)
9783638923668
Tamaño de fichero
912 KB
Idioma
Alemán
Notas
Die bisherigen Werke über Rasputin sind in der Regel reine Biographien, Geschichtsbücher. Bei meiner Arbeit handelt es sich erstmals um eine theologische Herangehensweise an das Thema.
Palabras clave
Grigori Jefimowitsch Rasputin, Theologie, Russland, Chlysten, Mariologie, Marienverehrung, Geschichte, Zarenreich
Citar trabajo
Klaus Mailahn (Autor), 2008, Der russische Ödipus - die erotische Marienverehrung des Grigori Jefimowitsch Rasputin, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87243

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