Leseprobe
Gliederung
Einleitung
1 Neurophysiologische Beschreibung des kognitiven Systems
2 Die Illusion der Freiheit
3 Kritik an den Thesen der Neurowissenschaftler
3.1 Das veraltete Menschenbild der Neurowissenschaftler
3.2 Beschreibungsebenen und Kategorienfehler
3.3 Reduktionismus und das Problem der mentalen Verursachung
3.4 Searles Konzept des Bewusstseins
4 Zwischenfazit
5 Wie lässt sich die Freiheit des Willens verstehen?
5.1 Lebensweltliche Erfahrung der Freiheit
5.2 Die Bedingtheit des freien Willens
6 Entschärfung des neuronalen Determinismus
6.1 Das Umweltverhältnis des Menschen
6.2 Der objektive Geist
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Frage, ob und in welcher Form der Mensch über einen freien Willen verfügt, reicht bis in die Anfänge des philosophischen Denkens zurück. Nahezu jeder große Denker nahm sich in der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der Philosophie diesem Problem an. Spätestens seit dem Aufstieg der Naturwissenschaften steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich unsere Intuition von einem freien Willen mit einem Weltbild in Einklang bringen lässt, das in sich kausal geschlossen ist, d.h. in dem alle Ereignisse durch ihre physischen Zustände und das Wirken von Naturgesetzen determiniert sind. Es wurde danach gefragt, wie unser immaterieller Geist in der Lage ist, auf die materielle und kausal geschlossene Welt einzuwirken, und ob wir durch unseren Willen tatsächlich befähigt sind, neue Kausalketten im Sinne eines unbewegten Bewegers anzustoßen. Man könnte geneigt sein, zu glauben, dass alle möglichen Lösungsansätze und Konzepte zur Beantwortung dieser Fragen gründlich durchdacht und erschöpft worden sind. Dennoch hat die Frage nach dem freien oder unfreien Willen in jüngster Zeit eine außergewöhnliche Renaissance erfahren. Ausgelöst wurde die aktuelle Debatte durch zahlreiche Neurowissenschaftler, die mit Hilfe neuer technischer Apparaturen und innovativer Methoden dem Gehirn des Menschen in bisher ungekannter Weise bei der Arbeit zuschauen konnten. Aus ihren Beobachtungen folgerten sie, dass der freie Wille eine von unserem kognitiven System erzeugte Illusion ist und dass einzig das neuronale Geschehen innerhalb des Gehirns unsere Entscheidungen und Handlungen bestimmt. Zugespitzt bedeutet das: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“[1]
Nun sind deterministische Theorien, die den Menschen und sein Verhalten in die kausale Geschlossenheit der Welt einbeziehen, nicht unbedingt neu. Die Frage ist also, warum sich dennoch so viele Philosophen, Juristen und Theologen von den Neurowissenschaftlern dermaßen herausgefordert fühlen, dass sie durch scharfe Repliken eine hitzige Debatte entfachten. Die Antwort besteht darin, dass die Thesen der Neurowissenschaftler an unserem Selbstbild zu rütteln scheinen. Und sie tun dies nicht – wie in den Jahrhunderten davor – durch philosophische Spekulation oder gedankliche Akrobatik, sondern mit der Autorität der Wissenschaft. Christian Geyer formuliert die von den Neurowissenschaften erzeugte Bedrohung unseres Menschenbildes so: „Der Stachel sitzt tief, den Hirnforscher in unsere Kopfhaut getrieben haben.“[2]
Die Korrektur und Demontage menschlicher Selbstbilder hat in den Naturwissenschaften eine lange Tradition. Aber auch der Widerstand gegen die von den Naturwissenschaften erzeugten neuen Welt- und Menschenbilder ist kein unbekanntes Phänomen, sondern war in allen Epochen eine Begleiterscheinung großer wissenschaftlicher Entdeckungen. Von diesem Punkt aus betrachtet, scheint es nicht verwunderlich, dass die Hirnforscher auf starken Widerspruch stoßen, wenn sie behaupten, unser Wille sowie unser gesamtes Erleben und damit wir selbst sind nur das Konstrukt eines physikalischen Systems.[3] Schaut man sich jedoch die Wissenschaftsgeschichte an, so muss man feststellen, dass sich die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften gegen alle anfänglichen Widerstände am Ende durchgesetzt haben und heute unser Bild von der Welt prägen.
Da niemand ernsthaft die wissenschaftliche Qualität der neurobiologischen Forschung in Frage stellt, steht für potentielle Kritik nur die Interpretation und Aussagekraft der Forschungsergebnisse zur Verfügung. Insbesondere steht zur Debatte, ob die aus der experimentellen Forschung gewonnenen Erkenntnisse ausreichen, um Fundamentalaussagen über die menschliche Natur abzuleiten. Die zentrale Frage lautet also: „Ist menschliches Handeln vollständig naturgesetzlich (...) erklärbar, oder gibt es gute Argumente anzunehmen, dass zumindest Teilaspekte des Handelns, nämlich deren mentale >>Beweggründe<<, sich einer solchen Erklärung grundlegend entziehen?“[4]
Mit dieser Arbeit möchte ich versuchen, eine gewisse Struktur und Ordnung in die Vielzahl von Argumenten und Denkansätze zur neueren Willensfreiheitsdebatte zu bringen. Zunächst möchte ich jedoch nachvollziehen, was das Neuartige an den Erkenntnissen der Neurowissenschaftler ist bzw. was deren Thesen überhaupt beinhalten. Dazu werde ich die wesentlichen Erkenntnisse und Aussagen der Neurowissenschaftler in Kürze zusammentragen und ihre Argumentation gegen die Vorstellung eines freien Willens nachzeichnen. Anschließend werde ich die wesentlichen Kritikpunkte, die den Thesen der Neurowissenschaftler gegenüberstehen, darstellen und bewerten, um schließlich mit der eigentlichen philosophischen Arbeit zu beginnen: nämlich der Bestimmung, was Willensfreiheit eigentlich darstellt, in welchen Kontexten überhaupt sinnvolle Aussagen über sie getroffen werden können, und wie sich Willensfreiheit trotz eines neuronalen Determinismus denken lässt.
1 Neurophysiologische Beschreibung des kognitiven Systems
Neurowissenschaftler wie Singer und Roth beschreiben in ihren Publikationen ein naturalistisches Bild des menschlichen Gehirns, das den derzeitigen Forschungsstand der Neurophysiologie wiedergibt. Die maßgeblichen Akteure in diesen Beschreibungen sind keine Personen oder gar das „Ich“, sondern dynamische Erregungsmuster, Attraktoren und neuronale Verschaltungen. Nach Singer sind menschliche Entscheidungen und Handlungen ausschließlich das Resultat eines kompetitiven Prozesses neuronaler Erregungsmuster in einem sich selbst organisierenden kognitiven System. Durch mannigfaltige interne und externe Signale und Attraktoren angestoßen, beginnen unzählige Neuronen zu feuern und bilden über die vernetzten Hirnareale verschiedene Erregungsmuster aus, von denen sich schließlich eines durchsetzt und einen stabilen neuronalen Zustand begründet, der dann als Handlung bzw. Aktion des Gesamtorganismus in Erscheinung tritt. Welches Erregungsmuster sich durchsetzt ist nach Singer festgelegt „durch die spezifische Verschaltung und den jeweils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns.“[5] Zwar billigt Singer den bewussten Prozessen gegenüber unbewussten eine besondere Qualität zu (siehe S. 15), dennoch gilt der neuronale Determinismus nicht nur für unbewusste Gehirnaktivitäten, sondern ebenso für sämtliche bewussten Zustände. Alle Verhaltensleistungen, „also auch die höchsten kognitiven Funktionen, mit ihren psychischen und mentalen Konnotationen, [beruhen] auf den neuronalen Prozessen im Gehirn.“[6]
Die neurophysiologischen Beschreibungen unseres kognitiven Apparats implizieren also, dass mentale Zustände[7] weder vor den entsprechenden neuronalen Prozessen auftreten können, noch dass zwischen mentalen und neuronalen Prozessen strikte Parallelität herrscht, sondern „daß dem bewußten Erleben notwendig und offenbar auch hinreichend unbewußte neuronale Geschehnisse vorausgehen.“[8] Unsere mentalen Zustände können demnach scheinbar nicht die Ursache unserer Handlungen sein. In diesem Zusammenhang hatte bereits Benjamin Libet in den achtziger Jahren Aufsehen erregende Untersuchungen durchgeführt, in denen die zeitliche Abfolge zwischen einer einfachen Handlung, dem entsprechenden Willensakt und dem die Handlung einleitenden Aufbau des Bereitschaftspotentials auf neuronaler Ebene untersucht wurde. Es zeigte sich, dass sich das Bereitschaftspotential im Durchschnitt bereits 350 Millisekunden vor dem Bewusstwerden des Willensaktes aufbaute.[9] Damit konnte der Willensakt anscheinend nicht die Ursache des Bereitschaftspotentials sein, sondern vielmehr nur die Folge. Trotz massiver Kritik am Versuchsaufbau[10] schlossen bereits viele Neurowissenschaftler aus diesen Experimenten, dass alle unsere Entscheidungen bereits vor dem Bewusstwerden des Willens auf neuronaler Ebene bestimmt sind, und wir somit nicht das tun, was wir wollen, sondern dass wir vielmehr das wollen, was wir tun. Das neuronale System determiniert nicht nur unser Handeln, es erzeugt die Empfindung einer freien Willensausübung gleich mit. Anders formuliert: „Nicht mein bewußter Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!“[11]
Eine andere vermeintlich intuitive Auffassung unseres Selbstverständnisses, die Singer und andere Neurowissenschaftler durch die fortschreitende Erforschung des Gehirns als widerlegt ansehen, ist die Vorstellung vom „Ich“ als einer alles koordinierenden Zentralinstanz, die sich in der Architektur unseres Gehirns auffinden lässt. Dieser Vorstellung erteilen sämtliche Neurowissenschaftler eine klare Absage. Für sie ist das „Ich“ keine reale Entität, sondern höchstens ein soziales Konstrukt.[12]
„Es gibt keine Kommandozentrale, in der entschieden werden könnte, in der das >Ich< sich konstituieren könnte. Hochentwickelte Wirbeltiergehirne stellen sich vielmehr als hochvernetzte, distributiv organisierte Systeme dar, in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ablaufen. Diese parallelen Prozesse organisieren sich, ohne eines singulären Konvergenzzentrums zu bedürfen, ...“[13]
Neurowissenschaftler wie Singer können noch nicht im Detail erklären, aus welchen Prozessen und Funktionen das phänomenale „Ich“, das Bewusstsein oder die Dimension des Geistigen allgemein entsteht. Sie können auch das Prinzip, nach dem sich das kognitive System organisiert und Informationen verarbeitet, noch nicht befriedigend verstehen[14], aber sie sind in der Lage grundlegende Aussagen über die Systemstruktur unseres Gehirns zu machen. So sind die Neurowissenschaftler überzeugt, dass unseren höheren kognitiven Leistungen und mentalen Zuständen im Vergleich zu Tieren keine grundlegend andere Systemarchitektur oder andersartige neuronale Prozesse zugrunde liegen, sondern dass unsere mentalen Zustände vielmehr als ein Emergenzphänomen zu verstehen sind. D.h. alleine die Vermehrung von Großhirnrinde im Laufe der Evolution führte zur Entstehung unserer geistigen Welt.[15] Die Existenz unseres Bewusstseins scheint nicht mehr ganz so rätselhaft zu sein, sobald man die Geschlossenheit höher entwickelter Gehirne betrachtet. Von den zig Milliarden Verbindungen zwischen den Neuronen spielen die Verbindungen mit den Sinnesorganen nur eine marginale Rolle.[16] Unser neuronales System – und insbesondere die für das Bewusstsein verantwortliche Großhirnrinde – ist überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Die hohe Binnenverdrahtung kombiniert mit einer schnellen synaptischen Plastizität unserer Großhirnrinde gelten daher als wesentliche Voraussetzung dafür, dass das kognitive System Repräsentationen und Metarepräsentationen der eigenen Prozesse schafft und sich schließlich selbst bewusst wird.[17] Dennoch bleibt die Frage offen, mit welchen Mechanismen ein System ohne zentral koordinierende Instanz kohärente neuronale Ordnungszustände herzustellen vermag und wie schließlich aus diesen Zuständen unser Erleben und unser phänomenales „Ich“ hervorgeht.
2 Die Illusion der Freiheit
Angenommen Singer und andere Neurowissenschaftler zeichnen ein korrektes und ein – im Rahmen des wissenschaftlich Möglichen – vollständiges Bild unseres kognitiven Apparats. Wie kommt es dann, dass wir uns zumindest in unseren bewussten Entscheidungen frei wähnen? Wir erleben uns doch als autonome Akteure, die ihren Körper dirigieren und gemäß ihren Vorstellungen handeln können. Wie können wir uns bei einer so elementaren Evidenz unseres Selbstbildes irren? Oder wie Singer es formuliert: „Wie kann es sein, dass die Selbstauskunft, die ein kognitives System über sich gibt, nicht übereinstimmt mit den Ergebnissen, die es erzielt, wenn es sich mit naturwissenschaftlichen Methoden daran macht, seine Bedingungen er erforschen?“[18] Wie also kommt die Illusion des freien Willens zustande?
Die Neurowissenschaftler geben hierfür einige interessante Erklärungsversuche. Zum einen sind wir laut Singer seit dem frühesten Kindesalter Adressat von Verhaltensanforderungen und damit verbundenen Sanktionen. Da dem Kind durch diese Erziehungspraxis suggeriert wird, dass es hätte anders handeln können, wenn es nur gewollt hätte, und wir es gleichzeitig auffordern, zukünftig in einer vergleichbaren Situation anders zu handeln, schreiben wir dem Kind Autonomie und Freiheit in seinem Handeln zu. „Wir erfahren also schon sehr früh eine Behandlung, die sich durch die Annahme rechtfertigt, wir seien frei in unseren Entscheidungen – eine Annahme, die sich über Erziehung verläßlich von Generation zu Generation tradiert.“[19] Hinzu kommt, dass die Entwicklungsphase, in der sich das „Ich“ konstituiert und in der die elementaren Ansichten über die Welt entstehen, einer frühkindlichen Amnesie zum Opfer fällt. D.h. die in dieser Phase erlernten Inhalte prägen sich dem Kind zwar sehr fest ein, die Lernprozesse als solche kann es jedoch nicht erinnern. Die Folge der frühkindlichen Amnesie ist, dass das in dieser Phase Gelernte später „als nicht verursacht [erscheint], als immer schon gewusst. (...) In der fehlenden Erinnerung an frühe soziale Lernprozesse könnte somit die Ursache liegen für die eigentümliche, transzendente Komponente unseres Selbstmodells, die wir mit unserem Ich verbinden..."[20]
Eine andere mögliche Ursache, weshalb wir uns in unseren Entscheidungen frei fühlen, stellt für Singer die Tatsache dar, dass neuronale Prozesse im wesentlichen unbewusst ablaufen und erst zu einem Zeitpunkt bewusst werden, wenn die Handlungsentscheidung bereits gefallen ist. D.h. wir nehmen i.d.R. nur das Ergebnis des unbewusst ablaufenden Entscheidungsprozesses wahr, nicht jedoch den Prozess an sich. Deshalb empfinden wir das, was im Bewusstsein erscheint, als nicht verursacht. Da wir jedoch überzeugt sind, dass nichts ohne Ursache ist, schreiben wir „unserem Wollen die Rolle zu, als Auslöser für die schließlich bewußt gewordenen Entscheidungen zu fungieren. Diesem Wollen wiederum billigen wir inkonsequenterweise zu, daß es letztinstanzlich und unverursacht, also frei ist.“[21]
Ein weiteres starkes Indiz für die These, dass unser Freiheitsempfinden eine vom Gehirn geschaffene Illusion darstellt, liefert das Phänomen der Selbstzuschreibung von Handlungen. Am eindrucksvollsten in diesem Zusammenhang sind Experimente, in denen bestimmte Hirnbereiche (Thalamus) von Probanden künstlich gereizt wurden. Die Probanten bewegten daraufhin einen Finger, verneinten allerdings, dass sie diese Bewegung willentlich ausgeführt hatten. In einem anschließenden Experiment wurden Teile des motorischen Kortex stimuliert. Wieder bewegten die Probanden einen Finger. Diesmal allerdings schrieben sie sich eine Bewegungsintention zu. „Hier liegt also das Erleben einer freien Entscheidung vor, die in diesem Falle aber nachweislich von außen ausgelöst wurde.“[22] Die Experimente deuten also darauf hin, dass unsere Intentionen unseren Handlungen erst nachträglich angepasst werden.
„Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewußtsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht, weil im Bewußtsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“[23]
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich eine interessante Überlegung Singers einfügen, die eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage gibt, warum die Erkenntnisse der Neurowissenschaftler so entschieden gegen unsere Intuitionen sprechen. Nach Singer hat sich unser Gehirn in seinem Erkenntnisvermögen im Laufe der Evolution notwendigerweise an Prozesse angepasst, die in der makroskopischen Welt stattfinden. In dieser Welt herrschen die Gesetze der klassischen Mechanik mit soliden kausalen Wechselwirkungen und linearen Prozessketten. Aus ihr lassen sich zuverlässige Voraussagen über zukünftige Zustände der Umwelt ableiten, die für den erkennenden Organismus einen Überlebensvorteil bedeuten können. Für hoch komplexe nicht-lineare Systeme mit einer Vielzahl von kausalwirksamen Variablen – wie beispielsweise das Klima, die Quantenwelt oder eben die Selbstorganisation vieler Milliarden Neuronen – gilt dies nicht. Selbst bei vollständiger Kenntnis des Anfangszustandes lassen sich keine zuverlässigen Voraussagen über das Systemverhalten ableiten. Da es demnach keinen Überlebensvorteil brachte, nicht-lineare dynamische Prozesse zu erfassen, haben wir für derartige Prozesse kein Erkenntnisvermögen ausgebildet. Wir versuchen daher alltagspsychologisch die Welt und uns selbst immer noch mit linearen, voraussagbaren Kausalprozessen und hierarchischen Ich-Instanzen zu erklären. Auch stellen uns hochkomplexe nicht-lineare Systeme wie unser Gehirn vor erhebliche Verständnisschwierigkeiten und wir stoßen schnell an die Grenzen unserer Vorstellungskraft. „Diese Beschränkung unserer kognitiven Fähigkeiten könnte eine Erklärung dafür sein, warum unsere Intuition Vorstellungen über die Organisation unseres Gehirns entwickelt hat, die mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung dieses Organs nicht übereinstimmen.“[24]
3 Kritik an den Thesen der Neurowissenschaftler
Ich möchte im folgenden Kritikpunkte erläutern, die den Thesen der Neurowissenschaftler am häufigsten entgegen gebracht wurden. Allerdings halte ich keinen der hier vorgebrachten Kritikansätze für geeignet, den neuronalen Determinismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Daher werde ich zu jedem vorgetragenen Einwand eine Gegenkritik bzw. Antwort der Neurowissenschaftler folgen lassen.
3.1 Das veraltete Menschenbild der Neurowissenschaftler
Das Bild vom Menschen, gegen das Singer und andere Neurowissenschaftler argumentieren und das sie als nicht mehr haltbar darstellen, ist eine klassische dualistische Konzeption, welche zwei unterschiedliche und nicht aufeinander reduzierbare Seinsbereiche – das Geistige und das Materielle – postuliert.[25] So neigen wir laut Singer dazu, „eine von neuronalen Prozessen unabhängige Instanz anzunehmen, die neuronalen Abläufen vorgängig ist“[26] denn es scheint uns, „als gingen unsere Entscheidungen unseren Handlungen voraus und wirkten auf Prozesse im Gehirn ein, deren Konsequenz dann die Handlung ist."[27] In einer dualistischen Konzeption hat die Sphäre des Geistigen wie auch die Sphäre des Materiellen einen eigenen ontologischen Status, und beide sind auf rätselhafte Weise im Menschen miteinander verbunden. Diese dualistische Vorstellung entspricht nach Singer unserer gewöhnlichen intuitiven Alltagsauffassung und scheint direkt aus unserem unmittelbaren Erleben zu resultieren.
[...]
[1] Prinz, Wolfgang: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Geyer 2004, S. 22.
[2] Geyer, Christian: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a.M. 2004, S. 9.
[3] Cruse, Holk: Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus, in Geyer 2004, S.227.
[4] Roth, Gerhard: Gehirn, Gründe und Ursachen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2005), S. 691.
[5] Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Geyer 2004, S.57.
[6] Singer, Wolf: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2005), S.708.
[7] Unter mentalen Zuständen werden hier in einem umfassenden Sinn sämtliche inneren, kognitiven Vorgänge wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Absichten, Wünsche, Gedanken etc. verstanden.
[8] Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Geyer 2004, S. 72.
[9] Vgl. Libet, Benjamin: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt a.M. 2005.
[10] Die meisten Kritiker der Libetexperimente bezweifelten, dass es sich bei der unter typischen Laborbedingungen ausgeführten Handlung überhaupt um einen wirklichen Willensakt handelte. Das Auslösen einer minimalen Bewegung stellt für sie keine Willensentscheidung dar. Vielmehr stelle die Einwilligung zur Teilnahme am Experiment den einzigen relevanten Willensakt dar. Dieser war jedoch nicht Gegenstand des Experiments. Die Experimente lassen im Übrigen völlig offen, was durch das Bereitschaftspotential eigentlich gemessen wird. Vgl. Pauen: Illusion Freiheit. Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2004 , S.22.
[11] Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, S. 73.
[12] Prinz: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, S. 23.
[13] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 43/44.
[14] Vgl. Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.714.
[15] Vgl. Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.715.
[16] Vgl. Ebd., S.716.
[17] Vgl. Roth: Gehirn, Gründe und Ursachen, S. 703.
[18] Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.713.
[19] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 49.
[20] Ebd., S. 51.
[21] Ebd., S. 50.
[22] Cruse: Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus, S. 224.
[23] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 61.
[24] Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.720.
[25] Vgl. Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 37.
[26] Ebd., S. 57.
[27] Ebd., S. 33.