Willensfreiheit und neuronaler Determinismus

Eine Darstellung und Bewertung der aktuellen Diskussion über die Möglichkeit eines freien Willens im Lichte der neurobiologischen Forschung


Trabajo, 2007

29 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Gliederung

Einleitung

1 Neurophysiologische Beschreibung des kognitiven Systems

2 Die Illusion der Freiheit

3 Kritik an den Thesen der Neurowissenschaftler
3.1 Das veraltete Menschenbild der Neurowissenschaftler
3.2 Beschreibungsebenen und Kategorienfehler
3.3 Reduktionismus und das Problem der mentalen Verursachung
3.4 Searles Konzept des Bewusstseins

4 Zwischenfazit

5 Wie lässt sich die Freiheit des Willens verstehen?
5.1 Lebensweltliche Erfahrung der Freiheit
5.2 Die Bedingtheit des freien Willens

6 Entschärfung des neuronalen Determinismus
6.1 Das Umweltverhältnis des Menschen
6.2 Der objektive Geist

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Frage, ob und in welcher Form der Mensch über einen freien Willen verfügt, reicht bis in die Anfänge des philosophischen Denkens zurück. Nahezu jeder große Denker nahm sich in der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der Philosophie diesem Problem an. Spätestens seit dem Aufstieg der Naturwissenschaften steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich unsere Intuition von einem freien Willen mit einem Weltbild in Einklang bringen lässt, das in sich kausal geschlossen ist, d.h. in dem alle Ereignisse durch ihre physischen Zustände und das Wirken von Naturgesetzen determiniert sind. Es wurde danach gefragt, wie unser imma­terieller Geist in der Lage ist, auf die materielle und kausal geschlossene Welt einzu­wirken, und ob wir durch unseren Willen tatsächlich befähigt sind, neue Kausalketten im Sinne eines un­be­wegten Bewegers anzustoßen. Man könnte ge­neigt sein, zu glauben, dass alle möglichen Lösungs­an­sätze und Konzepte zur Beantwortung dieser Fragen gründlich durch­dacht und erschöpft worden sind. Dennoch hat die Frage nach dem freien oder unfreien Willen in jüngster Zeit eine außer­ge­wöhnliche Renaissance erfahren. Ausgelöst wurde die aktuelle Debatte durch zahlreiche Neurowissenschaftler, die mit Hilfe neuer technischer Apparaturen und innovativer Methoden dem Gehirn des Menschen in bisher ungekannter Weise bei der Arbeit zuschauen konnten. Aus ihren Beobachtungen folgerten sie, dass der freie Wille eine von unserem kognitiven System erzeugte Illusion ist und dass einzig das neuronale Geschehen innerhalb des Gehirns unsere Ent­scheidungen und Handlungen be­stimmt. Zugespitzt bedeutet das: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“[1]

Nun sind deterministische Theorien, die den Menschen und sein Verhalten in die kausale Geschlossen­heit der Welt einbeziehen, nicht unbedingt neu. Die Frage ist also, warum sich dennoch so viele Philosophen, Juristen und Theologen von den Neurowissenschaftlern dermaßen heraus­ge­fordert fühlen, dass sie durch scharfe Repliken eine hitzige Debatte entfachten. Die Antwort besteht darin, dass die Thesen der Neuro­wissen­schaftler an unserem Selbstbild zu rütteln scheinen. Und sie tun dies nicht – wie in den Jahrhunderten davor – durch philosophische Spekulation oder gedankliche Akrobatik, sondern mit der Autorität der Wissenschaft. Christian Geyer formuliert die von den Neurowissenschaften erzeugte Bedrohung unseres Menschenbildes so: „Der Stachel sitzt tief, den Hirnforscher in unsere Kopfhaut getrieben haben.“[2]

Die Korrektur und Demontage menschlicher Selbstbilder hat in den Natur­wissenschaften eine lange Tradition. Aber auch der Widerstand gegen die von den Naturwissenschaften erzeugten neuen Welt- und Menschenbilder ist kein unbekanntes Phänomen, sondern war in allen Epochen eine Begleiterscheinung großer wissenschaftlicher Entdeckungen. Von diesem Punkt aus betrachtet, scheint es nicht verwunderlich, dass die Hirnforscher auf starken Widerspruch stoßen, wenn sie behaupten, unser Wille sowie unser gesamtes Erleben und damit wir selbst sind nur das Konstrukt eines physikalischen Systems.[3] Schaut man sich jedoch die Wissen­schaftsgeschichte an, so muss man feststellen, dass sich die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften gegen alle anfänglichen Widerstände am Ende durchgesetzt haben und heute unser Bild von der Welt prägen.

Da niemand ernsthaft die wissenschaftliche Qualität der neurobiologischen Forschung in Frage stellt, steht für potentielle Kritik nur die Interpretation und Aussagekraft der Forschungsergebnisse zur Ver­fügung. Insbesondere steht zur Debatte, ob die aus der experimentellen Forschung ge­wonnenen Erkenntnisse ausreichen, um Fundamentalaussagen über die menschliche Natur ab­zu­leiten. Die zentrale Frage lautet also: „Ist menschliches Handeln vollständig natur­ge­setzlich (...) erklärbar, oder gibt es gute Argumente anzunehmen, dass zumindest Teil­aspekte des Handelns, nämlich deren mentale >>Beweggründe<<, sich einer solchen Erklärung grundlegend entziehen?“[4]

Mit dieser Arbeit möchte ich versuchen, eine gewisse Struktur und Ordnung in die Vielzahl von Argumenten und Denkansätze zur neueren Willensfreiheitsdebatte zu bringen. Zunächst möchte ich jedoch nachvollziehen, was das Neuartige an den Erkenntnissen der Neuro­wissen­schaftler ist bzw. was deren Thesen überhaupt beinhalten. Dazu werde ich die wesentlichen Erkenntnisse und Aussagen der Neurowissenschaftler in Kürze zu­sammen­tragen und ihre Argumentation gegen die Vorstellung eines freien Willens nachzeichnen. Anschließend werde ich die wesentlichen Kritikpunkte, die den Thesen der Neurowissen­schaftler gegen­über­stehen, darstellen und bewerten, um schließlich mit der eigentlichen philosophischen Arbeit zu beginnen: nämlich der Bestimmung, was Willensfreiheit eigentlich darstellt, in welchen Kontexten überhaupt sinnvolle Aussagen über sie getroffen werden können, und wie sich Willensfreiheit trotz eines neuronalen Determinismus denken lässt.

1 Neurophysiologische Beschreibung des kognitiven Systems

Neurowissenschaftler wie Singer und Roth beschreiben in ihren Publikationen ein naturalistisches Bild des menschlichen Gehirns, das den der­zeitigen Forschungsstand der Neurophysiologie wieder­gibt. Die maßgeblichen Akteure in diesen Beschreibungen sind keine Personen oder gar das „Ich“, sondern dynamische Er­regungs­muster, Attraktoren und neuronale Verschaltungen. Nach Singer sind menschliche Entscheidungen und Handlungen ausschließlich das Resultat eines kompetitiven Prozesses neuronaler Erregungsmuster in einem sich selbst organisierenden kognitiven System. Durch mannigfaltige interne und externe Signale und Attraktoren angestoßen, beginnen unzählige Neuronen zu feuern und bilden über die vernetzten Hirnareale verschiedene Erregungsmuster aus, von denen sich schließlich eines durchsetzt und einen stabilen neuronalen Zustand begründet, der dann als Handlung bzw. Aktion des Gesamtorganismus in Erscheinung tritt. Welches Erregungsmuster sich durchsetzt ist nach Singer festgelegt „durch die spezifische Verschaltung und den jeweils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns.“[5] Zwar billigt Singer den bewussten Prozessen gegenüber unbewussten eine besondere Qualität zu (siehe S. 15), dennoch gilt der neuronale Determinismus nicht nur für unbewusste Gehirnaktivitäten, sondern ebenso für sämtliche bewussten Zustände. Alle Verhaltensleistungen, „also auch die höchsten kognitiven Funktionen, mit ihren psychischen und mentalen Konnotationen, [beruhen] auf den neuronalen Prozessen im Gehirn.“[6]

Die neurophysiologischen Beschreibungen unseres kognitiven Apparats implizieren also, dass mentale Zustände[7] weder vor den entsprechenden neuronalen Prozessen auftreten können, noch dass zwischen mentalen und neuronalen Prozessen strikte Parallelität herrscht, sondern „daß dem bewußten Erleben notwendig und offenbar auch hinreichend unbewußte neuronale Gescheh­nisse vorausgehen.“[8] Unsere mentalen Zustände können demnach scheinbar nicht die Ursache unserer Handlungen sein. In diesem Zusammenhang hatte bereits Benjamin Libet in den achtziger Jahren Aufsehen erregende Untersuchungen durchgeführt, in denen die zeitliche Abfolge zwischen einer einfachen Handlung, dem entsprechenden Willensakt und dem die Handlung einleitenden Aufbau des Bereitschaftspotentials auf neuronaler Ebene untersucht wurde. Es zeigte sich, dass sich das Bereitschaftspotential im Durchschnitt bereits 350 Millisekunden vor dem Bewusstwerden des Willensaktes aufbaute.[9] Damit konnte der Willens­akt anscheinend nicht die Ursache des Bereitschaftspotentials sein, sondern vielmehr nur die Folge. Trotz massiver Kritik am Versuchsaufbau[10] schlossen bereits viele Neuro­wissen­­schaftler aus diesen Experimenten, dass alle unsere Entscheidungen bereits vor dem Bewusst­werden des Willens auf neuronaler Ebene bestimmt sind, und wir somit nicht das tun, was wir wollen, sondern dass wir vielmehr das wollen, was wir tun. Das neuronale System determiniert nicht nur unser Handeln, es erzeugt die Empfindung einer freien Willens­aus­übung gleich mit. Anders formuliert: „Nicht mein bewußter Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!“[11]

Eine andere vermeintlich intuitive Auffassung unseres Selbstverständnisses, die Singer und andere Neurowissenschaftler durch die fortschreitende Er­forschung des Gehirns als widerlegt ansehen, ist die Vorstellung vom „Ich“ als einer alles ko­ordinierenden Zentralinstanz, die sich in der Architektur unseres Gehirns auffinden lässt. Dieser Vorstellung erteilen sämtliche Neuro­wissenschaftler eine klare Absage. Für sie ist das „Ich“ keine reale Entität, sondern höchstens ein soziales Konstrukt.[12]

„Es gibt keine Kommandozentrale, in der entschieden werden könnte, in der das >Ich< sich konstituieren könnte. Hochentwickelte Wirbeltiergehirne stellen sich vielmehr als hochvernetzte, distributiv organisierte Systeme dar, in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ablaufen. Diese parallelen Prozesse organisieren sich, ohne eines singulären Konvergenzzentrums zu bedürfen, ...“[13]

Neurowissenschaftler wie Singer können noch nicht im Detail erklären, aus welchen Prozessen und Funktionen das phänomenale „Ich“, das Bewusstsein oder die Dimension des Geistigen allgemein entsteht. Sie können auch das Prinzip, nach dem sich das kognitive System organisiert und Informationen ver­arbeitet, noch nicht befriedigend verstehen[14], aber sie sind in der Lage grundlegende Aussagen über die Systemstruktur unseres Gehirns zu machen. So sind die Neurowissenschaftler überzeugt, dass unseren höheren kognitiven Leistungen und mentalen Zuständen im Vergleich zu Tieren keine grundlegend andere Systemarchitektur oder andersartige neuronale Prozesse zugrunde liegen, sondern dass unsere mentalen Zustände vielmehr als ein Emergenzphänomen zu verstehen sind. D.h. alleine die Ver­mehrung von Großhirnrinde im Laufe der Evolution führte zur Entstehung unserer geistigen Welt.[15] Die Existenz unseres Bewusstseins scheint nicht mehr ganz so rätselhaft zu sein, sobald man die Geschlossenheit höher entwickelter Gehirne betrachtet. Von den zig Milliarden Verbindungen zwischen den Neuronen spielen die Ver­bindungen mit den Sinnesorganen nur eine marginale Rolle.[16] Unser neuronales System – und insbesondere die für das Bewusstsein verantwortliche Großhirnrinde – ist überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Die hohe Binnenverdrahtung kombiniert mit einer schnellen synaptischen Plastizität unserer Großhirnrinde gelten daher als wesentliche Voraussetzung dafür, dass das kognitive System Repräsentationen und Metarepräsentationen der eigenen Prozesse schafft und sich schließlich selbst bewusst wird.[17] Dennoch bleibt die Frage offen, mit welchen Mechanismen ein System ohne zentral koordinierende Instanz kohärente neuronale Ordnungszustände herzustellen vermag und wie schließlich aus diesen Zuständen unser Erleben und unser phänomenales „Ich“ hervorgeht.

2 Die Illusion der Freiheit

Angenommen Singer und andere Neurowissenschaftler zeichnen ein korrektes und ein – im Rahmen des wissenschaftlich Möglichen – voll­ständiges Bild unseres kognitiven Apparats. Wie kommt es dann, dass wir uns zumindest in unseren bewussten Entscheidungen frei wähnen? Wir erleben uns doch als autonome Akteure, die ihren Körper dirigieren und gemäß ihren Vorstellungen handeln können. Wie können wir uns bei einer so elemen­taren Evidenz unseres Selbstbildes irren? Oder wie Singer es formuliert: „Wie kann es sein, dass die Selbstauskunft, die ein kognitives System über sich gibt, nicht übereinstimmt mit den Er­geb­nissen, die es erzielt, wenn es sich mit naturwissenschaftlichen Methoden daran macht, seine Bedingungen er erforschen?“[18] Wie also kommt die Illusion des freien Willens zustande?

Die Neurowissenschaftler geben hierfür einige interessante Erklärungs­ver­suche. Zum einen sind wir laut Singer seit dem frühesten Kindesalter Adressat von Verhaltens­an­forderungen und damit verbundenen Sanktionen. Da dem Kind durch diese Erziehungspraxis suggeriert wird, dass es hätte anders handeln können, wenn es nur gewollt hätte, und wir es gleichzeitig auffordern, zukünftig in einer vergleichbaren Situation anders zu handeln, schreiben wir dem Kind Autonomie und Freiheit in seinem Handeln zu. „Wir erfahren also schon sehr früh eine Behandlung, die sich durch die Annahme rechtfertigt, wir seien frei in unseren Ent­scheidungen – eine Annahme, die sich über Erziehung verläßlich von Generation zu Generation tradiert.“[19] Hinzu kommt, dass die Entwicklungsphase, in der sich das „Ich“ konstituiert und in der die elementaren Ansichten über die Welt entstehen, einer früh­kind­lichen Amnesie zum Opfer fällt. D.h. die in dieser Phase erlernten Inhalte prägen sich dem Kind zwar sehr fest ein, die Lernprozesse als solche kann es jedoch nicht erinnern. Die Folge der frühkindlichen Amnesie ist, dass das in dieser Phase Gelernte später „als nicht verursacht [erscheint], als immer schon gewusst. (...) In der fehlenden Erinnerung an frühe soziale Lern­prozesse könnte somit die Ursache liegen für die eigentümliche, transzendente Komponente unseres Selbst­modells, die wir mit unserem Ich verbinden..."[20]

Eine andere mögliche Ursache, weshalb wir uns in unseren Entscheidungen frei fühlen, stellt für Singer die Tatsache dar, dass neuronale Prozesse im wesent­lichen unbewusst ablaufen und erst zu einem Zeitpunkt bewusst werden, wenn die Handlungs­­­­­entscheidung bereits gefallen ist. D.h. wir nehmen i.d.R. nur das Ergebnis des un­bewusst ablaufenden Entscheidungs­prozesses wahr, nicht jedoch den Prozess an sich. Deshalb empfinden wir das, was im Bewusstsein erscheint, als nicht verursacht. Da wir jedoch über­zeugt sind, dass nichts ohne Ursache ist, schreiben wir „unserem Wollen die Rolle zu, als Aus­löser für die schließlich bewußt gewordenen Entscheidungen zu fungieren. Diesem Wollen wiederum billigen wir inkonsequenterweise zu, daß es letztinstanzlich und unverursacht, also frei ist.“[21]

Ein weiteres starkes Indiz für die These, dass unser Freiheitsempfinden eine vom Gehirn geschaffene Illusion darstellt, liefert das Phänomen der Selbstzuschreibung von Handlungen. Am eindrucksvollsten in diesem Zusammenhang sind Experimente, in denen bestimmte Hirnbereiche (Thalamus) von Probanden künstlich gereizt wurden. Die Probanten bewegten daraufhin einen Finger, verneinten allerdings, dass sie diese Bewegung willentlich ausgeführt hatten. In einem anschließenden Experiment wurden Teile des motorischen Kortex stimuliert. Wieder bewegten die Probanden einen Finger. Diesmal allerdings schrieben sie sich eine Bewegungs­intention zu. „Hier liegt also das Erleben einer freien Entscheidung vor, die in diesem Falle aber nachweislich von außen ausgelöst wurde.“[22] Die Experimente deuten also darauf hin, dass unsere Intentionen unseren Handlungen erst nach­träglich angepasst werden.

„Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewußtsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht, weil im Bewußtsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“[23]

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich eine interessante Überlegung Singers ein­fügen, die eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage gibt, warum die Erkenntnisse der Neuro­wissen­schaftler so entschieden gegen unsere Intuitionen sprechen. Nach Singer hat sich unser Gehirn in seinem Erkenntnisvermögen im Laufe der Evolution notwendigerweise an Prozesse ange­passt, die in der makroskopischen Welt stattfinden. In dieser Welt herrschen die Gesetze der klassischen Mechanik mit soliden kausalen Wechsel­wirkungen und linearen Prozessketten. Aus ihr lassen sich zuverlässige Voraussagen über zukünftige Zustände der Umwelt ableiten, die für den erkennenden Orga­nismus einen Über­lebensvorteil bedeuten können. Für hoch komplexe nicht-lineare Systeme mit einer Viel­zahl von kausalwirksamen Variablen – wie beispielsweise das Klima, die Quantenwelt oder eben die Selbstorganisation vieler Milliarden Neuronen – gilt dies nicht. Selbst bei voll­ständiger Kenntnis des Anfangszustandes lassen sich keine zu­ver­lässigen Voraussagen über das System­­verhalten ableiten. Da es demnach keinen Über­lebens­­vorteil brachte, nicht-lineare dynamische Prozesse zu erfassen, haben wir für derartige Prozesse kein Erkennt­nisvermögen aus­­ge­bildet. Wir versuchen daher alltags­psycho­logisch die Welt und uns selbst immer noch mit linearen, voraussagbaren Kausalprozessen und hierarchischen Ich-Instanzen zu erklären. Auch stellen uns hochkomplexe nicht-lineare Systeme wie unser Gehirn vor erhebliche Ver­ständnis­­schwierigkeiten und wir stoßen schnell an die Grenzen unserer Vor­stellungs­kraft. „Diese Beschränkung unserer kognitiven Fähigkeiten könnte eine Erklärung dafür sein, warum unsere Intuition Vorstellungen über die Organisation unseres Gehirns ent­wickelt hat, die mit der naturwissen­schaftlichen Beschreibung dieses Organs nicht überein­stimmen.“[24]

3 Kritik an den Thesen der Neurowissenschaftler

Ich möchte im folgenden Kritikpunkte erläutern, die den Thesen der Neuro­wissen­schaftler am häufigsten entgegen gebracht wurden. Allerdings halte ich keinen der hier vorgebrachten Kritik­ansätze für geeignet, den neuronalen Determinismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Daher werde ich zu jedem vorgetragenen Einwand eine Gegenkritik bzw. Antwort der Neurowissenschaftler folgen lassen.

3.1 Das veraltete Menschenbild der Neurowissenschaftler

Das Bild vom Menschen, gegen das Singer und andere Neurowissenschaftler argumentieren und das sie als nicht mehr haltbar darstellen, ist eine klassische dualistische Konzeption, welche zwei unterschiedliche und nicht aufeinander reduzierbare Seins­bereiche – das Geistige und das Materielle – postuliert.[25] So neigen wir laut Singer dazu, „eine von neuronalen Prozessen unabhängige Instanz anzunehmen, die neuronalen Abläufen vorgängig ist“[26] denn es scheint uns, „als gingen unsere Entscheidungen unseren Handlungen voraus und wirkten auf Prozesse im Gehirn ein, deren Konsequenz dann die Handlung ist."[27] In einer dualistischen Konzeption hat die Sphäre des Geistigen wie auch die Sphäre des Materiellen einen eigenen ontologischen Status, und beide sind auf rätselhafte Weise im Menschen miteinander verbunden. Diese dualistische Vorstellung entspricht nach Singer unserer gewöhnlichen intuitiven Alltags­auf­fassung und scheint direkt aus unserem unmittelbaren Erleben zu resultieren.

[...]


[1] Prinz, Wolfgang: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Geyer 2004, S. 22.

[2] Geyer, Christian: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a.M. 2004, S. 9.

[3] Cruse, Holk: Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus, in Geyer 2004, S.227.

[4] Roth, Gerhard: Gehirn, Gründe und Ursachen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2005), S. 691.

[5] Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Geyer 2004, S.57.

[6] Singer, Wolf: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2005), S.708.

[7] Unter mentalen Zuständen werden hier in einem umfassenden Sinn sämtliche inneren, kognitiven Vorgänge wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Absichten, Wünsche, Gedanken etc. verstanden.

[8] Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Geyer 2004, S. 72.

[9] Vgl. Libet, Benjamin: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt a.M. 2005.

[10] Die meisten Kritiker der Libetexperimente bezweifelten, dass es sich bei der unter typischen Labor­be­dingungen ausgeführten Handlung überhaupt um einen wirklichen Willensakt handelte. Das Auslösen einer minimalen Bewegung stellt für sie keine Willensentscheidung dar. Vielmehr stelle die Einwilligung zur Teilnahme am Experiment den einzigen relevanten Willensakt dar. Dieser war jedoch nicht Gegenstand des Experiments. Die Experimente lassen im Übrigen völlig offen, was durch das Bereitschaftspotential eigentlich gemessen wird. Vgl. Pauen: Illusion Freiheit. Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2004 , S.22.

[11] Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, S. 73.

[12] Prinz: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, S. 23.

[13] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 43/44.

[14] Vgl. Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.714.

[15] Vgl. Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.715.

[16] Vgl. Ebd., S.716.

[17] Vgl. Roth: Gehirn, Gründe und Ursachen, S. 703.

[18] Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.713.

[19] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 49.

[20] Ebd., S. 51.

[21] Ebd., S. 50.

[22] Cruse: Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus, S. 224.

[23] Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 61.

[24] Singer: Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, S.720.

[25] Vgl. Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, S. 37.

[26] Ebd., S. 57.

[27] Ebd., S. 33.

Final del extracto de 29 páginas

Detalles

Título
Willensfreiheit und neuronaler Determinismus
Subtítulo
Eine Darstellung und Bewertung der aktuellen Diskussion über die Möglichkeit eines freien Willens im Lichte der neurobiologischen Forschung
Universidad
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Philosophie)
Curso
Freiheit und Neurobiologie
Calificación
1,0
Autor
Año
2007
Páginas
29
No. de catálogo
V87842
ISBN (Ebook)
9783638033220
Tamaño de fichero
519 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Willensfreiheit, Determinismus, Freiheit, Neurobiologie
Citar trabajo
Andre Fischer (Autor), 2007, Willensfreiheit und neuronaler Determinismus, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87842

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Título: Willensfreiheit und neuronaler Determinismus



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