Jugendverbandsarbeit zwischen Selbstorganisation und sozialer Kontrolle


Mémoire (de fin d'études), 1999

139 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Jugendverbände aus organisationssoziologischer Perspektive

3 Die Alterskategorie „Jugend“
3.1 Alterskategorien als gesellschaftliche Produkte
3.2 Jugend /Adoleszenz als gesellschaftliche Produkte
3.3 Sozialisation im Jugendalter
3.4 Institutionalisierung der Sozialisationsprozesse

4 Institution
4.1 Begriff der Institutionalisierung

5 Soziale Kontrolle
5.1 Soziale Kontrolle als Begriff in den Sozialwissenschaften
5.1.1 Abweichendes Verhalten
5.2 Soziale Kontrolle als besonderer Gegenstand der Soziologie
5.2.1 Bedingungsverändernde soziale Kontrolle

6 Der öffentliche Umgang mit der Jugend

7 Die Entwicklung der Jugendverbandsarbeit in Deutschland von der Kaiserzeit bis zum Ende des 2. Weltkrieges
7.1 Jugendpflege und Jugendverbände
7.2 Jugend und Rechte?
7.3 Voraussetzungen der Entwicklung
7.3.1 Entdeckung der „Jugend“
7.3.2 Vereinsrecht als Voraussetzung
7.3.3 Freizeit als Voraussetzung

8 Die institutionelle Entwicklung der „Organisationen Jugendverbände“
8.1 Das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden
8.1.1 Integrationsaufgabe der Jugendpflege
8.1.2 Jugendpflege als nationale Aufgabe
8.1.3 Jugendverbände im Nationalsozialismus

9 Jugendverbände und „Sektoraler Korporatismus“
9.1 Das Korporatismus-Konzept
9.1.1 Prozeß der Konsolidierung und Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen Verbänden und Staat
9.1.2 Prozeß der Zentralisierung und Durchorganisierung der Jugendverbände

10 Jugendverbandsarbeit nach 1945
10.1 Gründung und Etablierung – Die Nachkriegszeit
10.1.1 Der Aufbau von Jugendverbänden in der Nachkriegszeit
10.2 Erziehungs- und Integrationsfunktion – Die 50er Jahre
10.3 Erziehung- und Bildungsfunktion – Die 60er Jahre
10.4 Bildung und Professionalisierung – Die 70er Jahre
10.5 Bedeutungsverlust und Orientierungskrise – 80er Jahre
10.6 Jugendverbände in den 90er Jahren

11 Jugendringe

12 Jugendverbände und Staat
12.1 Jugendausschüsse
12.2 Staatliche Förderung
12.2.1 Prinzipien staatlicher Förderung
12.3 Kontrolle der Jugendverbandsarbeit durch den Staat?
12.3.1 Aberkennung der öffentlichen Förderungswürdigkeit
12.3.2 Direktes Eingreifen in die Autonomie des Jugendverbandes
12.3.3 Qualifizierte Sperrung der Bundesjugendplanmittel für die Naturfreundejugend Deutschland [NFJD]
12.3.4 Verweigerung der Benutzung von kommunalen Jugendeinrichtungen – Der Kreis Bad Segeberg
12.3.5 Festlegung von diskriminierenden Förderungskriterien
12.3.6 Wandel eines Jugendverbandes und staatliche Reaktion [BDP]
12.4 Autonomie versus Abhängigkeit
12.5 Das "Neue Steuerungsmodell“

13 Jugendverbände und Erwachsenenorganisationen

14 Jugendliche in Jugendverbänden

15 Schluß

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Die These, die in dieser Untersuchung vertreten wird lautet, die Einrichtung von Jugendorganisationen durch nicht - jugendliche gesellschaftliche Kräfte stellt eine mögliche und historisch nachweisbare Form der Reaktion auf das gesellschaftliche Phänomen einer Jugendphase mit ihren spezifischen Anforderungen an die Mitglieder dieser Altersgruppe dar. Jugendverbände stellen in ihrer Vielschichtigkeit den konkreten Ausdruck solcher Versuche dar, Jugend gesellschaftlich einzubinden. Dabei sollen Jugendorganisationen keinen Selbstzweck erfüllen, sondern Jugendliche auf ihre Rollen als Erwachsene im sozialen Kontext vorbereiten, gleichwohl soll der besondere Charakter der Jugendphase innerhalb von Jugendverbänden nicht negiert werden. Wie dies im einzelnen geschieht, welche strukturellen Besonderheiten darin zum Ausdruck kommen, und welche Kontrollmechanismen im Zusammenhang mit Jugendorganisationen auftreten, soll das Thema dieser Arbeit sein. In Anlehnung an die These von Linton, der behauptet, daß die Übergangsphasen von der Adoleszenz in den Erwachsenenstatus immer durch ein gesellschaftlich definiertes System von Belohnungen und Bestrafungen umrahmt werden, verorten wir die strukturellen Besonderheiten von Jugendverbandsarbeit hypothetisch zwischen Selbstorganisation und sozialer Kontrolle. Beide Elemente, zum einen Selbstorganisation als zugestandener Freiraum bzw. relative Autonomie, die in ihrem Kern auf Freiwilligkeit der Teilnahme und des Engagements basiert, und zum anderen strukturelle Kontrollen im Bereich der Jugendverbandsarbeit sollen somit, zunächst hypothetisch, als strukturtypische Rahmenbedingungen von Jugendverbandsarbeit begriffen werden. Die sozialen Bemühungen, Adoleszenz und die damit einhergehenden spezifischen Probleme des Jugendalters aufzugreifen und in die bestehenden sozialen Verhältnisse zu inkorporieren respektive zu integrieren, sind im Rahmen von Jugendverbandsarbeit konkret geworden. Selbstredend kann Jugendverbandsarbeit nicht als prominentester Versuch oder gar als alleiniger Versuch verstanden werden, Integrationsleistungen zu erbringen. Trotzdem erscheint die Beschäftigung mit Jugendverbänden vor dem Hintergrund von gesellschaftlicher Integration als soziologisch relevantes Forschungsfeld. Jugendverbände werden in dieser Arbeit als Organisationen begriffen, deren gesellschaftliche Position wesentlich durch ihre Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Einrichtungen und Gruppen gekennzeichnet ist. Die Beziehungen des Staates und der Erwachseneorganisationen zu Jugendverbänden unterliegen in dieser Untersuchung deshalb der Aufmerksamkeit.

Um dem Gegenstandsbereich der Jugendverbandsarbeit näher zu kommen, wird zunächst auf die soziologischen Begriffe der Jugend, der Sozialisation und der Institutionalisierung eingegangen. Daran schließt sich eine Begriffsbestimmung sozialer Kontrolle an. Nach diesem definitorischen Vorarbeiten wendet sich die Untersuchung der historischen und institutionellen Entwicklung der Jugendverbandsarbeit zu. Da der Zeitraum von ungefähr 100 Jahren seit Beginn von Jugendverbandsarbeit zu schildern ist, fällt diese Darstellung knapp aus. Die Entwicklung der Jugendverbandsarbeit nach 1945 wird im wesentlichen auf die Entwicklung in Westdeutschland begrenzt. Eine Reflexion der Jugendverbandsarbeit in der ehemaligen DDR hätte den Rahmen dieser Arbeit überstiegen. Vergleiche mit Entwicklungen in anderen Gesellschaften mußten aus dem gleichen Grund ausbleiben[1]. Insgesamt wird eine Einordnung der Jugendverbandsarbeit in Deutschland im Spannungsfeld von Selbstorganisation und sozialer Kontrolle angestrebt. Es bleibt einleitend anzumerken, daß auf die jeweiligen historischen und weltanschaulichen und pädagogischen Besonderheiten der Vielzahl von Jugendverbänden in dieser Untersuchung nicht eingegangen werden kann. Diese Einschränkung ist der großen Anzahl an verschiedenen Jugendverbänden geschuldet. Dem Versuch, Jugendverbandsarbeit in das Spannungsfeld von Selbstorganisation und sozialer Kontrolle einzuordnen, steht ein solches Vorgehen jedoch aus Sicht des Verfassers nicht entgegen.

2 Jugendverbände aus organisationssoziologischer Perspektive

Das Interesse der Soziologie an Organisationen ist auf das vermehrte Auftreten von sozialen Gebilden, die allgemein als Organisationen werden, zurückzuführen. Die Verbreitung von Organisationen gilt als typisches Merkmal entwickelter Industriegesellschaften. Die soziologische Beschäftigung mit dem sozialen Gebilde „Organisation“ kann sich zunächst auf drei Arten dem Phänomen nähern. Eine erste Möglichkeit besteht darin, den Zugang zu Organisationen über die Individuen zu suchen. Daneben bietet es sich an, von der einzelnen Organisation aus die soziologische Forschung zu starten. Drittens können Organisationen aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus thematisiert werden (Mayntz: 1963, S. 23).

Die für diesen Zusammenhang vermutlich fruchtbarste Art des Zugangs liegt in einer Bezugnahme auf den Organisationstyp „Jugendverband“. Jugendverbände können untersucht werden im Hinblick auf wesentliche Strukturen, Prozesse und wechselseitige Beziehungen zu einer relevanten Umwelt. Diese Merkmale definieren Jugendverbände in soziologischer Hinsicht und unterscheiden sie von anderen Gegenständen. Diese Untersuchung fokussiert besonders Kontrollinteressen und Kontrollhandlungen, die im Zusammenhang mit dem Organisationstyp Jugendverband auftreten.

Unsere Hypothese lautet, daß Jugendverbandsarbeit als institutionalisierte Form von Jugendarbeit bestimmten Spannungsverhältnissen unterliegt. Ein wesentliches davon stellt die Spannung zwischen gesellschaftlicher Kontrolle und Selbstorganisation dar. Wird Kontrolle im gesellschaftlichen Wechselspiel zwischen den verschiedenen Ebenen von sozialen Einheiten ausgeübt? Damit ist das Verhältnis von Individuen zu Organisationen, Institutionen, Personengruppen und der Gesamtgesellschaft angesprochen. Daneben existieren Kontrollverhältnisse zwischen unterschiedlichen Typen von Organisationen [Staat versus Jugendverbände, Erwachsenenorganisationen versus Jugendverbände] und innerhalb bestimmter Organisationen [beispielsweise zwischen der Leitung einer Organisation und deren Mitgliedern, Mitgliederversammlungen etc. versus Organisationsleitung]. Die uns hier interessierende Frage ist, inwieweit Jugendverbände durch Kontrollbeziehungen zu ihrer relevanten Organisationsumwelt, also zu Erwachsenenorganisationen oder zum Staat, prinzipiell in selbstorganisiertem Handeln beeinträchtigt sind. Selbstorganisation kann als ein wesentliches Merkmal von Jugendverbänden beschrieben werden, nimmt man Bezug auf die Selbstbeschreibungen von Jugendverbänden (Deutscher Bundesjugendring: 1999, S. 36). Anders ausgedrückt: Jugendverbände sind Organisationen mit verschiedenen Beziehungen zu anderen Organisationen und Institutionen. Diese Beziehungen bilden eine Grenze für die Selbstorganisationsmöglichkeiten von Jugendverbänden. Selbstorganisation kann mit Autonomie übersetzt werden. Autonomie kann im Unterschied zu Autarkie als Beziehungsform von gesellschaftlichen Gebilden und Personen bezeichnet werden, die sich durch wechselseitige Beeinflussung auszeichnet. Autarkie bezeichnet eher eine vollständige Unabhängigkeit von einer sozialen Umwelt. Die Frage, die hier interessiert, ist die nach der Autonomie von Jugendverbänden gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren.

Selbstorganisation meint in diesem Zusammenhang auch die Berücksichtigung von Mitgliederinteressen in Jugendverbänden. In binnenstruktureller Hinsicht interessant ist die Frage, inwieweit Mitgliederinteressen innerhalb der Organisation Jugendverband eine Chance haben gehört und auch teilweise verwirklicht zu werden. Denn Jugendliche können sowohl als Zielgruppe und Adressaten von Jugendverbandsaktivitäten bezeichnet werden als auch als „bestandssichernde Elemente“ von Jugendverbänden. Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft oder der Teilnahme an Veranstaltungen ist ein Kernelement von Jugendverbandsarbeit. Freiwilligkeit erfordert die Einbeziehung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen Jugendlicher in die Aktivitäten des Jugendverbandes. Ansonsten bleiben die Mitglieder aus, was den Bestand der Organisation Jugendverband gefährdet. Es soll versucht werden, Evidenz für die These zu gewinnen, daß die in dem Begriff Selbstorganisation mitangelegte Freiwilligkeit des Engagements in Jugendverbänden als Korrektiv zu verbandsfremden Kontrollintentionen fungiert. Es soll versucht werden zu zeigen, daß die Relativität von a) Selbstorganisation, Autonomie und Freiwilligkeit einerseits und b) Kontrollintentionen anderer Organisationen andererseits das charakteristische Spannungsverhältnis von Jugendverbandsarbeit ausmachen.

3 Die Alterskategorie „Jugend“

3.1 Alterskategorien als gesellschaftliche Produkte

Gesellschaften klassifizieren und organisieren ihre Mitglieder gleichzeitig in unterschiedlicher Art und Weise. Eine Möglichkeit der Klassifizierung besteht darin, dies entlang von Alters- und Geschlechtskategorien zu tun (Linton: 1942, S. 589). Die Klassifizierung in Alters- und Geschlechtskategorien basieren auf einer relativen Abstraktion, sind doch die identifizierten Mitglieder einer Altersklasse nicht in greifbaren oder sichtbaren Gruppen zusammengefügt. Die Zugehörigkeit zu einer Alters- und Geschlechtskategorie impliziert nicht die Mitgliedschaft aller dieser Menschen in einer Organisation oder Vereinigung.

Zweifelsohne sind Alters- und Geschlechtskategorien an bestimmte physiologische Dispositionen und Eigenschaften angelehnt. Diese sind jedoch nicht als unabhängig von sozialen oder kulturellen Bezügen anzusehen und somit von diesen zu trennen. Dies wird deutlich, wenn man versucht fixe Zäsuren oder Wendepunkte im Lebenszyklus an bestimmte physiologische Ereignisse zu binden. Die wenigen relativ eindeutigen und offensichtlichen biologischen Ereignisse, die feste Punkte im Leben eines Menschen markieren, sind die Geburt, der Eintritt in die Geschlechtsreife und der Tod. Genauer besehen sind aber auch diese Daten nicht eindeutig bestimmt[2]. Ebensowenig fix ist der Eintritt in die Geschlechtsreife. Dies ist wohl noch am ehesten bei Frauen zu bestimmen, für Männer ist die Festlegung dieses Ereignisses wesentlich schwieriger. Die Kategorisierung und Klassifizierung von Gesellschaftsmitgliedern in Alters- und Geschlechtskategorien erfolgt also immer in einem sozial und kulturell vorgeprägten Raum. Physiologische Daten gehen als Bezugspunkte in diese Auseinandersetzung ein (Linton: 1942, S. 591).

3.2 Jugend /Adoleszenz als gesellschaftliche Produkte

Die Phase der Adoleszenz oder Jugend besitzt einige besondere Merkmale, die sie von anderen Lebensperioden unterscheidet. So kann festgehalten werden, daß alle Menschen einen Prozeß des körperlichen Wachstums und der sexuellen Reifung durchlaufen. Zu den gebräulichen Begriffen, die diese Lebensphase erfassen sollen, sind „Jugendalter, Jugendzeit, Reifealter, Reifezeit, Pubertät und andere mehr zu zählen. In der jüngeren Literatur ist auch von der Postadoleszenz die Rede, welche sich an die Adoleszenz anschließe und eine eigene Lebensphase beschreibe. Die Fragen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen werden, können im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden. „Jugend“ ist eine anthropologische Konstante insofern, als daß sie in allen Gesellschaften auftritt unberücksichtigt ihrer näheren sozialen und historischen Bestimmung. Die Jugendphase stellt eine besondere Phase im Leben eines Menschen dar. Während der Jugend werden wichtige Weichen für den späteren Lebenslauf des einzelnen gestellt. Der Erwachsenenstatus ist die Zielperspektive für alle Jugendphasen. „Erwachsensein“ bedeutet in einem ursprünglichen Sinne herangewachsen sein. Erwachsensein meint den Abschluß einer psycho - sozialen Entwicklung. Diese Entwicklungsphase unterliegt in verschiedenen Gesellschaften jedoch unterschiedlicher Wahrnehmung. Gesellschaften können Adoleszenz ignorieren oder versuchen, die Besonderheiten dieser Phase aufzugreifen und Jugendliche erfolgreich in die bestehende Sozialstruktur zu inkorporieren (Linton: 1942, S. 595). Für Gesellschaften, die Adoleszenz als eigene Lebensphase negieren, werden zwei Formen des Umgangs mit Jugendlichen wahrscheinlich.

Zum einen kann die Kindheit mit den ihr eigentümlichen Eigenschaften der Abhängigkeit von und Unterlegenheit gegenüber den Erwachsenen auf die Periode der Adoleszenz übertragen werden. Zum anderen kann der Erwachsenenstatus mit seinen multiplen sozialen Anforderungen an den einzelnen nach „unten“ auf die Jugendphase ausgedehnt werden. In jedem Falle erscheint der Adoleszente, gemessen an den üblichen Rollenerwartungen von Kindheit und Erwachsenenstatus, als Abweichler (Linton: 1942, S. 596). Die gesellschaftliche Reaktion auf Abweichungen vom kindlichen Rollenspektrum führt vermutlich eher zu disziplinierenden und repressiven Maßnahmen. Die Nichterfüllung von Verhaltensanforderungen des Erwachsenenstatus provoziert Tadel für die „Verantwortungslosigkeit“ und „Unbedarftheit“ des Adoleszenten (Linton: 1942, S. 596).

In solchen Gesellschaften, die die Tatsache der Adoleszenz nicht verneinen, existieren diverse Formen von „rites de passage“, welche den Übergang in die nächst höhere Alterskategorie markieren sollen. Diese sind oftmals verbunden mit feierlichen Zeremonien. Hervorstechendstes Ritual des Übergangs vom Jugendalter in das Erwachsenenalter ist die Heirat (Linton: 1942, S. 597). Im Zuge von Modernisierungs- und Industrialisierungsprozessen in den westlichen Gesellschaften kam es zu einer Umdeutung althergebrachter Riten. Damit haben auch Ereignisse wie die Heirat ihre Bedeutung als „rite de passage“ zu einem nicht geringen Teil eingebüßt (ebd.: S. 600). Dieses Faktum kann für die jeweiligen Schichten der Gesellschaft unterschiedlich dargelegt werden. In Arbeiterfamilien war es bis zur gesetzlichen Einschränkung von Kinderarbeit bzw. ihrem Verbot üblich, daß Kinder schon vor Eintritt in die Pubertät als Lohnarbeiter tätig waren, um die Familie finanziell zu unterstützen. Sie übernahmen also schon Aufgaben, die tendenziell eher Erwachsenen zugeordnet werden können, bevor der Eintritt ins Erwachsenenalter durch eine Heirat und die Gründung einer eigenen Familie sichtbar vollzogen war. Innerhalb der Berufsgruppen wurde dann aber die Abhängigkeit des Kindheitsstatus perpetuiert bis zur Adoleszenz (ebd.: 601). Diese Art der Verschmelzung von Elementen der Kindheit und Adoleszenz wurde vermutlich originär in den „oberen“ gesellschaftlichen Schichten angelegt. Hier waren eine den Adoleszenten auferlegte Zurückhaltung in sexuellen Belangen und ein Insistieren auf sexueller Abstinenz deutliche Zeichen für jugendliche Abhängigkeit und Kontrolliertheit (Linton:1942, S. 601). An dieser Stelle soll aber darauf hingewiesen werden, daß der Jugendbegriff durch eine Ambivalenz ausgezeichnet ist » ..., die in seinen beiden Hauptwurzeln, nämlich der hausrechtlichen Abhängigkeit und in der Entwicklung zur autonomen Persönlichkeit, begründet ist, ...« (Mitterauer: 1986, S. 93).

Diese Ambivalenz erschwert die genaue definitorische Erfassung von Jugend und weist auf die historische Wandelbarkeit des Jugendstatus hin.

Nun ist es ein Grunderfordernis für jedes Individuum, sich im Laufe seines Lebens auf viele verschiedene Rollenanforderungen einzulassen und diese zu bewältigen. Diese Rollenanforderungen werden auch durch Alters- und Geschlechtskategorien definiert. Jede dieser Lebensperioden stellt eigene Anforderungen und Erwartungen an das Verhalten des einzelnen. Eine erfolgreiche Bewältigung dieser Anforderungen bedarf einer variablen und veränderbaren Persönlichkeitsstruktur (Linton: 1942, S. 601). Diese sehr allgemeine Aussage und berührt noch nicht die Art und Weise, in der Gesellschaften die Übergänge zwischen verschiedenen Alterskategorien organisieren. Hier ist grundsätzlich anzunehmen, daß es Unterschiede in der Abruptheit und den jeweiligen Zeitpunkten der Übergänge gibt. Es scheint offensichtlich, daß je gradueller die Übergänge sich vollziehen, desto weniger problematisch sie für den einzelnen im Hinblick auf die Anpassung seiner persönlichen Rollenstruktur werden. Unabhängig davon wie Gesellschaften die Übergänge organisieren, ob sie eher für gleitende oder abrupte Statuswechsel optieren, kann festgehalten werden, daß die Prozesse des Statuswechsels durch ein System von Belohnungen und Bestrafungen umrahmt werden (Linton: 1942, S. 602). Dies wird offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein übermäßiges Festhalten an Verhaltensweisen einer unteren Alterskategorie zu Verspottung oder gar Boykott durch Altersgenossen führen kann. Belohnungen für altersgruppenadäquates Verhalten werden eher in steigender Autorität im Umgang mit der sozialen Umwelt oder zunehmenden Möglichkeiten zu Befriedigung von Bedürfnissen ausgeschüttet. Mit dem Erlangen des „vollen“ Erwachsenenstatus verliert diese Form der Sanktionierung vermutlich an Gewicht.

Im Zuge der geschichtlichen Entwicklung erodierte die dominierende familiale Bedingtheit von Jugend zugunsten umfassenderer gesellschaftlicher Konditionen (Mitterauer: 1986, S. 94). Beispiele hierfür sind die Einführung jugendlicher Alterszäsuren durch den Staat. Mit der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht und der allgemeinen Militärpflicht werden gesamtgesellschaftliche Bruchstellen in die individuellen Lebenszyklen eingesetzt, die an das jeweilige Lebensalter gebunden sind und somit die Lebensphase Jugend offensichtlich charakterisieren können. Die altersgemäßen Fixierungen der Jugendphase durch beispielsweise staatliche Schulgesetze können aber die schichten-, klassen- und milieuabhängigen Phänomene des Jugendlebens nicht außer Kraft setzen. Vielmehr ist „die Jugend“ immer in differenten sozialen Kontexten zu beschreiben. Die Jugend als homogene Gruppe mit gleichen Erfahrungen und unter gleichen sozialen Bedingungen gab und gibt es in diesem Sinne nicht. Mitterauer aber konstatiert, daß in europäischen Gesellschaften eine Tendenz zur Angleichung jugendlicher Biographiemuster vorliege (Mitterauer: 1986, S. 94). Dieser Auffassung widersprechen Untersuchungen, die Jugend im Zusammenhang mit einer sich entfaltenden Postmoderne behandeln. In der jüngeren Diskussion um das Phänomen „Jugend“ wird zunehmend die Auffassung vertreten, daß jene Struktur der Jugendphase sich zunehmend auflöst, die mit der Entdeckung der Jugend im Zuge einer sich entfaltenden gesellschaftlichen Moderne Gestalt annahm[3]. Die Rede ist von einer Entstrukturierung der Jugendphase (Feige: 1996), der Destandardisierung der Jugendphase (Olk: 1989) oder der Destrukturierung von Alters-Status-Übergängen (Wallace: 1997). Als Ursachen für die Auflösung der klassisch – modernen Jugendstruktur wird die Erosion eines jugendbezogenen Arbeitsmarktes (Wallace: 1997, S. 50), die Ausdehnung von Ausbildung und Berufsvorbereitung, derzufolge das Eintrittsalter in das Berufsleben durchschnittlich immer höher wird (ebd.), das Wachstum einer Konsumkultur, die jugendliche Subkulturen transformiert (ebd.) und damit deren vormalige devianten Merkmale „normalisiert“, wie auch die Destruktion von Familienübergängen, die sich beispielsweise im Bedeutungsverlust von Heiraten spiegelt, benannt (Wallace: 1997, S. 51). Insgesamt wird festgestellt, daß die Lebensphase Jugend sich im Lebenszyklus verlängert hat und die Übergänge zur nächsten Lebensphase riskanter geworden sind (ebd.). Damit habe sich das Alter als Datum der Erfassung und als Angelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Kontrollen und Klassifizierungen von einem wesentlichen Kriterium seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem weniger signifikanten Merkmal entwickelt (Wallace: 1997, S. 48).

3.3 Sozialisation im Jugendalter

Für die zugrundeliegende Fragestellung wesentlich ist die Frage nach der Integration von heranwachsenden Menschen in die bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen. Diese Frage ist über eine genauere Bestimmung von Sozialisationsprozessen im Jugendalter zu beantworten.

Sozialisation ist ein Begriff, der nicht auf eine bestimmte Alterskategorie beschränkt angewendet werden kann. Der Mensch bewegt sich Zeit seines Lebens in einer sozialen und materiellen Umwelt und wird durch diese geprägt, beeinflußt und wirkt zugleich auf seine Umwelt zurück. Von Geburt an ist der Mensch in soziale Beziehungen eingebunden, die ihm deutlich machen, welches Verhalten und welche Handlungen von ihm erwartet, geduldet oder bestraft werden. Der Mensch lernt also, sein Verhalten an die Umwelt anzupassen. Er trägt keine bislang entdeckte genetische Information in sich, die ihm von Natur aus angibt, wie er sich zu Verhalten hat. Die Erwartungen der Umwelt werden über Sozialisation vermittelt. Der Mensch paßt sich seiner Umwelt an, um überleben zu können, die gesellschaftliche Umgebung sichert über die Integration junger Menschen ihren Fortbestand. Bis zur vollständigen gesellschaftlichen Integration als Erwachsener und darüber hinaus wird der Mensch gesellschaftlich geprägt. Dabei kommt dem Heranwachsenden keine reine Objektrolle zu, er wirkt vielmehr als Ziel und Träger von Sozialisationsprozessen an seiner Anpassung produktiv mit. Eine begriffliche Festlegung von Sozialisation muß folgende Aspekte umfassen:

» Im heute allgemein vorherrschenden Verständnis wird mit Sozialisation der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren. Sozialisation beschreibt den Prozeß, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. « (Hurrelmann: 1990, S. 14)

3.4 Institutionalisierung der Sozialisationsprozesse

Sozialisation wird in entwickelten Gesellschaften durch Institutionen vermittelt. Hier kann unterschieden werden zwischen Institutionen, die quasi nebenbei durch das wechselseitige Einwirken aufeinander sozialisieren, und solchen Institutionen, die ausdrücklich zum Zwecke der Sozialisation bestehen und bestimmte Sozialisationsziele verfolgen. In die zuletzt genannte Gruppe fallen Jugendverbände. In Jugendverbänden wird Sozialisation geplant und organisiert betrieben.

Insofern wirken Jugendverbände ganz allgemein an den Problemen des Erhaltes der Gesellschaft und der Weiterentwicklung ihrer Kultur mit. Diese Aufgaben werden in entwickelten Gesellschaften zum überwiegenden Teil in Institutionen bearbeitet (Tillmann: 1989, S. 102).

Aus diesem Sachverhalt ergeben sich drei mögliche Perspektiven, aus denen heraus man sich Sozialisationsinstanzen nähern kann. Zum einen kann man der Frage nachgehen, welche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen eine Institution erfüllt bzw. erfüllen soll. Hieraus ergeben sich dann Verhaltensanforderungen und Rollenerwartungen für die Mitglieder der Institution. Zum anderen sind die subjektiven Aneignungsformen gegenüber den gesellschaftlich vorgegebenen bzw. zugeschriebenen Verhaltensanforderungen zu betrachten. Eine weitere Möglichkeit liegt in der Beschreibung der organisationssoziologischen Zusammenhänge bestimmter Sozialisationsinstanzen. An dieser Stelle sollen einige kurze Ausführungen zum sozialwissenschaftlichen Begriff der Institution einflochten werden, um eine genauere Vorstellung von Institutionalisierungsprozessen zu bekommen.

4 Institution

Der Begriff der Institution ist in den Sozialwissenschaften und in der Soziologie nicht eindeutig definiert und verweist auf jeweils differente Sinnhorizonte und Deutungszusammenhänge. Allgemein und wenig an der gesellschaftlichen Konkretion orientiert kann man Institutionen als Einheiten der normativ verankerten, auf Dauer gestellten Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns begreifen (Pabst: 1984, S. 256 f). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bezeichnet der Institutionenbegriff habitualisierte Verhaltensweisen und Beziehungsmuster (edb.: S. 257). Diese entwickelten eine relative Eigenständigkeit gegenüber subjektiven Motivationen. Als soziale Tatsachen sind sie dem Menschen gleichsam vorgegeben und werden im Sozialisationsprozeß durch Internalisierung in der Persönlichkeitsstruktur verankert. Damit ist zugleich gesagt, daß institutionalisierte Verhaltensweisen nicht an kontingente oder anthropologische Bedingungen gebunden sind, sondern in einem spezifischen gesellschaftlich-historischen Kontext zu untersuchen sind. Das Problem der Abgrenzung zum Organisationsbegriff ist in einer ersten Annäherung in der Art zu lösen, als daß Organisationen zunächst als soziale Systeme definiert werden, die auf einen bestimmten Zweck hin orientiert und planmäßig gestaltet sind (Mayntz: 1963, S. 36). Der primäre Bezug für Institutionen liegt in dem, was charakteristisch soziale Aktivitäten in relativ stabilen Strukturen, Regeln und normativen Erwartungen beschreibt und erklärt. Dieses ist im wesentlichen die normative Verhaltensstruktur.

Bei Durkheim haben soziale Institutionen die Funktion, als kollektive Internalisierung soziale Ordnung herbeizuführen. Die Objektivität der Regelmäßigkeiten des sozialen Geschehens soll gegenüber den Individuen sichergestellt werden. Von außen wirkende Zwänge, die sanktionierenden objektiven Forderungen, werden von Durkheim ins Zentrum der Betrachtung gestellt (vgl. Adorno: 1976). Er befaßt sich mit der Internalisierung von Normen. Die normative Verhaltensstruktur wird über Internalisierung auf Dauer gestellt.

4.1 Begriff der Institutionalisierung

Institutionalisierung bedeutet zunächst einen Prozeß der Verfestigung bestimmter Muster wiederkehrenden Verhaltens. Das soziale Verhalten ist auf eine vorgegebene Norm ausgerichtet und beständig, weil nicht permanent hinterfragt (Pabst: 1984, S. 258). Dies kann Entlastung für die Menschen bedeuten, weil durch Institutionalisierung Verhaltenssicherheit geschaffen wird. Dies kann aber auch bedeuten, daß bestimmte normative Verhaltensregeln auf Dauer gestellt werden, die eine soziale Asymmetrie perpetuieren und damit Lebenschancen bestimmter Menschen dauerhaft beeinträchtigen.

Institutionen, wenn sie verstanden werden als soziale Einheiten, wie Organisationen, Betriebe, Einrichtungen u. ä., erfüllen bestimmte Aufgaben nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Binnenverteilung von Funktionen. Dabei weisen Institutionen nicht nur entlastenden Charakter auf, sie können auch lästig werden oder gar unterdrückend wirken. Mit Institutionen sind nicht nur Handlungsnormierungen, sondern auch organisierte Formen sozialer Kontrolle verbunden. Dieses ergibt sich aus der inhaltlichen Vorbestimmung von Kommunikation in Institutionen, der funktionalen Ausrichtung und hierarchischen Definition von institutionalisierten Prozessen (Tillmann: 1989, S. 102 ff).

5 Soziale Kontrolle

In diesem Kapitel soll der Begriff soziale Kontrolle näher bestimmt werden. Dies ist wichtig im Hinblick auf die Interpretation des Gegenstandes Jugendverbandsarbeit. Ohne einen Begriff sozialer Kontrolle bleibt die Darstellung des Gegenstandes Jugendverbandsarbeit maßstabslos.

5.1 Soziale Kontrolle als Begriff in den Sozialwissenschaften

Soziale Kontrolle kann grundsätzlich in einer weiteren und einer engeren Dimension verstanden werden. Die weitere begriffliche Fassung von sozialer Kontrolle unterstellt, daß soziale Kontrolle ein Aspekt jeglichen gesellschaftlichen Lebens ist (Peters: 1995, S. 131). Dieses Verständnis findet sich in einigen sozialwissenschaftlichen Ansätzen wieder. So definiert Hartfiel soziale Kontrolle als

» die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die abweichendes Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft ... verhindern oder einschränken « (Hartfiel: 1972, S. 355). Diese sehr allgemeine Definition bezieht sich auf die Wirkungen, die bestimmte Strukturen und Prozesse auslösen. Damit können Gesten, Bauwerke, Gespräche etc. gemeint sein. Ausgeschlossen sind in dieser Definition alle Prozesse, die auf die Herstellung von Normkonformität und die Vermeidung von Abweichungen zielen, aber dieses Ziel nicht erreichen. Unter Einbeziehung dieser Prozesse in die Definition von sozialer Kontrolle verwandeln sich alle Prozesse der Sozialisation, der Interaktion und Institutionalisierung in soziale Kontrolle, denn Sozialisation, Interaktion und Institutionalisierung dienen der Herstellung von Normkonformität oder der Vermeidung abweichenden Verhaltens (Peters: 1995, S. 129). Peters verweist darauf, daß in der Soziologie die weite Definition von sozialer Kontrolle eine lange Tradition hat. So wird der Begriff bei Janowitz aus einer wissenschaftshistorischen Herleitung auf die

» ... zentrale Problematik der Vorbedingungen und Variablen, die zur Maximierung der Selbstregulierung der Gesellschaft führen und die Realität sozialen Zwangs erkennbar machen... « (Janowitz: 1973, S. 512) bezogen.

Soziale Kontrolle wird somit zum Begriff, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Ordnung umfassend thematisiert werden kann. So beschreiben beispielsweise Berger und Luckmann jegliche Institutionalisierung von Handlungen als Momente von Kontrolle. Institutionen entstehen demnach durch die wechselseitigen Typisierungen von Interaktionspartnern. Interaktionspartner werden somit erkennbar und sichern die an sie gerichteten Erwartungen im Rahmen von Handlungstypen. Im Zuge dieses Vorganges entwickeln sich objektive Rollengefüge, die als Institutionalisierungen von Handlungen menschliches Verhalten kontrollieren. Institutionen ist dieser Kontrollcharakter wesentlich (Berger/Luckmann: 1995, S. 58 ff). Primäre soziale Kontrolle ergibt sich aus der Existenz von Institutionen überhaupt. Malinowski und Münch bezeichnen solche Vorgänge als latente soziale Kontrolle (Malinowski/Münch: 1975, S. 123 ff). Sekundäre soziale Kontrolle bezeichnet Sanktionsmechanismen, die auch als Zwangsmaßnahmen zur Stützung einer Institution ergriffen werden (Berger/Luckmann: 1995, S. 58 f). Die Konzepte, die soziale Kontrolle im Rahmen einer umfassenden Theorie der Gesellschaft behandeln und soziale Kontrolle somit an die jeweils gewählten Phänomene zur Erklärung sozialer Ordnung binden, gehen davon aus, daß soziale Kontrolle nicht in jedem Fall einen besonderen Gegenstand der Soziologie ausmacht. Soziale Kontrolle ist demnach ein Aspekt, der allem gesellschaftlichen Leben innewohnt. Nun besteht aber die Möglichkeit soziale Kontrolle auch als spezifischen Gegenstand der Soziologie zu beschreiben. Dies wird weiter ausgeführt, nachdem erläutert worden ist, was denn unter abweichendem Verhalten verstanden werden kann.

5.1.1 Abweichendes Verhalten

Eine eindeutige Bestimmung abweichenden Verhaltens liegt in der Soziologie nicht vor. Peters identifiziert zumindest vier Definitionen. Demnach umfaßt der Begriff verschiedentlich folgende Aspekte:

a) Normbrechendes Verhalten.
b) Registrierten Normbruch, der registriert worden ist und zugleich dem Selbstverständnis des Abweichers nach Normbruch bedeutet.
c) Normbruch im Selbstverständnis des Abweichers, unabhängig von anderweitiger Registrierung.
d) Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das als Normbruch registriert worden ist (Peters: 1995, S. 20).

Gemeinsam ist allen vier Definitionen der Bezug auf Normen und die Bestimmung der Abweicher als relativ wenige und relativ machtlose Personen, denn massenhafte Abweichung und abweichendes Verhalten Mächtiger beraube der Norm die Geltung verschwinden.

Aus dieser in der Literatur vorfindlichen Begriffsbestimmung abweichenden Verhaltens leitet Peters eine umfassende Definition in handlungstheoretischer Perspektive ab.

» ... abweichendes Verhalten gilt als Handeln. Handeln gilt als ein Verhalten, mit dem der Handelnde einen subjektiven Sinn oder ein Motiv verbindet. Handeln wird von anderen identifiziert, indem ihm ein subjektiver Sinn oder ein Motiv zugeschrieben wird. « (Peters: 1995, S. 22)

Durch diese Zuschreibungen werden Handlungstypen gewonnen, die auch einen spezifischen Handlungstyp für Jugendliche und ihr Verhalten umfassen. Somit werden nach Peters Jugendliche durch den Handlungstyp des „öffentlich, persönlich interessierten abweichenden Verhaltens definiert (Peters: 1995, S. 74). Die soziale Position der Jugendlichen bedinge das Verhalten Jugendlicher. Demnach seien Jugendliche Angehörige einer Altersgruppe, in der ein soziokultureller Standort noch gesucht werde. Auf dieser Suche setzen Jugendliche sich mit der Erwachsenenwelt auseinander, d. h. mit den Regeln, Symbolen und der Kultur der Erwachsenen. Die Handlungen der Jugendlichen seien an die Kultur der Erwachsenen adressiert, um dort Reaktionen zu provozieren. Jugendliche hätten das Ziel, durch andere wahrgenommen zu werden (ebd.). Dieser Sachverhalt soll abweichendes Verhalten Jugendlicher erklären. In der Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt fänden Jugendliche sozialen Halt in Gruppen Gleichaltriger. In diesen Gruppen würden dann eigene Verhaltensstile geprägt, die sich zu einem Komplex subkultureller Regeln und Werte verdichteten (ebd.). Jedoch stelle die Altersgruppe der Jugend keine homogene Gruppe dar. Vielmehr sei es so, daß Jugendliche in jenen Auseinandersetzungsprozessen ihre Unterschiedlichkeit auch im Vergleich zu Gleichaltrigen erführen. Dies trage zur Diversifizierung jugendlicher Verhaltensstile bei. Das Verhalten der Jugendlichen diene demnach dazu, sich ins Verhältnis zu setzen zur sozialen Umwelt und sich auf diese Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit anzueignen (Peters: 1995, S. 75).

Nachdem der Begriff abweichenden Verhaltens erläutert wurde und sein Bezug zum Verhalten Jugendlicher hergestellt ist, soll eine engere Bestimmung sozialer Kontrolle vorgenommen werden.

5.2 Soziale Kontrolle als besonderer Gegenstand der Soziologie

Soziale Kontrolle wird dann zum eigenständigen Gegenstand der Sozialwissenschaften, wenn sie auf Maßnahmen bezogen wird, die auf die Verhinderung abweichenden Verhaltens zielen, innerhalb des Systems, in dem diese Maßnahmen ergriffen werden (Peters: 1995, S. 131). Mit dieser Begriffsbestimmung geraten formelle und informelle Kontrollmaßnahmen in den Blick. Um bestimmtes Handeln als Kontrollhandeln zu identifizieren, müssen einige Merkmale sozialer Kontrolle näher bestimmt werden. So kann festgehalten werden, daß soziale Kontrolle sich, verstanden als Reaktion auf gegenwärtiges oder erwartetes abweichendes Verhalten mit dem Ziel, diese Abweichungen künftig zu verhindern, an einer gesellschaftlichen Norm orientiert. Die Norm dient der Rechtfertigung von Kontrollhandlungen gegenüber einer Bezugsgruppe. Bezugsgruppen wachen über die Geltung der jeweiligen Normen und über die Reaktionen auf Normverstöße. Sie bringen bestimmte Vorstellungen darüber zur Geltung, welche Art von Reaktionen auf Normverletzungen angemessen sind (Peters: 1995, S. 132). Diese Vorstellungen definieren dann soziale Kontrolle in Abgrenzung zu anderen Reaktionen. Peters unterscheidet zum Beispiel Reaktionen aus Rache von Reaktionen sozialer Kontrolle (ebd.). Ein weiteres Merkmal der Bezugsgruppe ist die ihr zur Verfügung stehende Macht, d.h. ihre Chance, ihren Willen gegen Widerstände durchzusetzen, unabhängig davon, worauf diese Möglichkeit beruht. Bezugsgruppen müssen also ein gewisses Machtpotential in sich vereinigen, um ihre Vorstellungen auch wirksam durchzusetzen (Peters: 1995, S. 132). Soziale Kontrolle ist in unterschiedliche Formen zu klassifizieren. So können negative Sanktionen, sozialpolitische, sozialpädagogische Maßnahmen und informelle und private Zuwendungen mit dem Ziel der Verbesserung des Status´ des Adressaten dieser Zuwendungen als Formen sozialer Kontrolle angesehen werden.

Neben diesen Formen von sozialer Kontrolle ist ein wesentliches Charakteristikum sozialer Kontrolle der subjektive Sinn, den ein Kontrollierender seiner Handlung beimißt (Peters: 1995, S. 133). Da dieser subjektive Sinn nicht leicht zu ermitteln ist und oftmals auch nicht als Kontrollintention, sondern eher als Hilfeleistung [beispielsweise in der Sozialarbeit] formuliert wird, bedarf es eines weiteren Merkmals, um soziale Kontrollhandlungen als solche zu identifizieren. Dieses Merkmal stellt der Handlungsanlaß dar, den der Kontrollierende wahrnimmt. Dabei ist immer zu berücksichtigen, daß der Kontrollierende zuvor das Verhalten des Kontrolladressaten als Abweichung identifizieren muß. Gemäß dieser engeren Definition von sozialer Kontrolle ist das eine notwendige Bedingung für Kontrollhandlungen (Peters: 1995, S. 134). Zu vernachlässigen ist dabei, in welcher Begrifflichkeit der Kontrollierende die Abweichungen benennt. Dies eröffnet die Möglichkeit, auch Handlungen im Bereich der Sozialarbeit, die nicht so offensichtlich Kontrollhandlungen zugerechnet werden können wie dies für Handlungen der Strafjustiz oder Polizei zutrifft, als Kontrollmaßnahmen oder Kontrollhandlungen zu identifizieren (ebd.).

Maßnahmen der sozialen Kontrolle sind auch im Feld der Sozialpolitik zu identifizieren. Unter der Annahme, daß sozialpolitische Maßnahmen nicht in erster Linie der Befriedigung der Bedürfnisse der Adressaten bestimmter Handlungen dienen, kann von sozialer Kontrolle im Bereich der Sozialpolitik gesprochen werden. Sozialpolitische Maßnahmen können insofern sowohl auf die Wiederherstellung und Sicherung von Arbeitskraft in kapitalistisch organisierten Ökonomien als auch auf die Produktion von Loyalität der Staatsbürger gegenüber dem Staatssystem zielen. Im zweiten Fall dienen sozialpolitische Maßnahmen der Legitimation von Staatlichkeit (Peters: 1995, S. 134). Im sozialpolitischen Kontext wird der Zusammenhang von Integration und Emanzipation deutlich, weil sozialpolitische Anstrengungen nicht eindeutig in den einen oder anderen Winkel des Spannungsfeldes von Emanzipation und Integration verortet werden können, sondern fast immer beide Extreme berühren. So kann beispielsweise das, was der Integration gesellschaftlich verursachter Disparitäten dienen soll, auch der tendenziellen Emanzipation der Adressaten dienen.

Sozialpolitik intendiert aber zumeist noch mehr als es dieser Definition von sozialer Kontrolle gelingt aufzuspüren. Allgemeines Ziel von Sozialpolitik ist in dieser Lesart die Stabilisierung kapitalistisch verfaßter Gesellschaften. Dieses Ziel überschneidet sich nur ansatzweise mit der Intention bestimmter Handlungsakteure, abweichendes Verhalten zu verhindern (Peters: 1995, S. 135). Sozialpolitik wird im politischen System formuliert und geplant. Die Intentionen sollen dann in bestimmten Bereichen durch Administrationen verwirklicht werden. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, daß die Ziele von sozialer Kontrolle, wenn sie denn in sozialpolitischen Maßnahmen auftauchen, auch unabhängig von den handelnden Kontrollierenden [Administratoren, Verwaltungsangestellte etc.] wirksam werden können. Es liegt eine Trennung vor, welche die Träger der Kontrollintentionen von den Kontrollhandlungen und Handelnden scheidet. Der subjektive Sinn der Kontrollintentionen bleibt vom subjektiven Sinn der ausführenden Kontrollakteure getrennt. Organisationen sind in der Lage, in dieser Form Ziele vorzugeben und die als notwendig erachteten Handlungen auf ausführende Akteure zu delegieren.

Folgende Aspekte sind also von Interesse im Zusammenhang mit sozialer Kontrolle. Soziale Kontrolle kann verstanden werden als Handlung mit dem Ziel, künftiges abweichendes Verhalten zu vermeiden. Handlungen im Sinne dieser Definition sind anhand folgender Merkmale zu erkennen:

- Die Reaktionen auf abweichendes Verhalten orientieren sich an einer gesellschaftlichen Norm. Diese Norm wurde durch ein Verhalten verletzt.
- Der Kontrollierende legitimiert seine Reaktionen auf Abweichungen im Hinblick auf seine Bezugsgruppe.
- Bezugsgruppen definieren die Geltung einer Norm. Sie überwachen die Angemessenheit der Reaktionen auf Abweichungen und definieren somit soziale Kontrollhandlungen. Solche Bezugsgruppen verfügen über die Macht, ihre Vorstellungen gegenüber alternativen Vorstellungen durchzusetzen, unabhängig davon ob und in welcher Form sie von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen.
- Neben Sanktionen können auch Maßnahmen der Sozialpolitik, der Sozialpädagogik und private Initiativen als Formen von sozialer Kontrolle bezeichnet werden.
- Ein konstituierendes Merkmal von sozialer Kontrolle ist der subjektive Sinn, den der Kontrollierende seiner Handlung [Reaktion] beimißt.
- Der subjektive Sinn einer Kontrollhandlung steht in engem Zusammenhang mit dem Anlaß, den der Kontrollierende für seine Kontrollhandlung wahrnimmt. Wesentlich ist die Wahrnehmung des Handlungsanlasses durch den Kontrollierenden.
- Organisationen sind in der Lage, Sinnträger von Handlungsträgern zu scheiden. Somit kommt dem subjektiven Sinn eines ausführenden Kontrollakteurs in Organisationen eine relativ unbedeutende Rolle bezüglich der soziologischen Identifikation von Kontrollhandlungen. Die Intentionen der Initiatoren einer organisierten Kontrollhandlung können als relevant gelten.

5.2.1 Bedingungsverändernde soziale Kontrolle

Als eine Form von sozialer Kontrolle kann die Sozialpolitik begriffen werden, die präventiv auf die Veränderung von grundlegenden Bedingungen sozialen Zusammenlebens abstellt. Präventive Bedingungsveränderung (Peters: 1995, S. 159 ff) zielt darauf ab, Unzufriedenheit bei der Zielgruppe sozialpolitischer Maßnahmen zu vermeiden. Unzufriedenheit gilt hier als Grundlage für mögliches abweichendes Verhalten. Um dies zu erreichen, werden bestimmte Leistungen erbracht, die Zufriedenheit produzieren sollen und somit die Geltung von Normen stabilisieren. Damit werden zugleich bestimmte Machtverhältnisse stabilisiert. Vordringliches Einsatzfeld von Maßnahmen präventiver Sozialpolitik sind die Reproduktionsbedingungen (Peters: 1995, S. 159). Unter den Bedingungen kapitalistischer Ökonomie und etablierter Lohnarbeit zielt Sozialpolitik als soziale Kontrolle auf Minderung von Reproduktionsrisiken und die gleichzeitige Individualisierung der Adressaten sozialpolitischer Maßnahmen. Dies geschieht zum Zweck der Verhinderung eines sich formierenden kollektiven Willens unter den Lohnarbeitern. Um dieser Intention gerecht zu werden, werden beispielsweise Maßnahmen zur Organisation von Sozialisationsprozessen eingeleitet. Schule und Sozialfürsorge werden oftmals als Versuche der Organisation von Sozialisationsprozessen beschrieben (Peters: 1995, S. 160 f; Rödel/Guldimann: 1978, S.41 f)

[...]


[1] In Gesellschaften außerhalb Deutschlands sind Jugendverbände ebenfalls vorzufinden. Vergleiche hierzu beispielsweise Mugglin: 1983. Eine vergleichende Untersuchung zwischen den Entwicklungen in mehreren Gesellschaften wären ein lohnendes Unterfangen, hinsichtlich einer Relativierung nationaler Entwicklungsprozesse. Eine solche Untersuchung würde den Umfang dieser Arbeit sprengen und bleibt deshalb aus.

[2] Die Auseinandersetzungen um die Legitimität von Schwangerschaftsabbrüchen und das Abschalten von lebenserhaltenden Geräten bei Komapatienten machen deutlich, daß auch die Ereignisse von Geburt und Sterben in sozialen Bezügen stehen.

[3] Es liegt eine kaum überschaubare Menge an Literatur zum Strukturwandel der Jugendphase vor. Hier soll exemplarisch auf Schröder (Schröder: 1995) und Ferchhoff/Neubauer (Ferchhoff/Neubauer: 1997) hingewiesen werden.

Fin de l'extrait de 139 pages

Résumé des informations

Titre
Jugendverbandsarbeit zwischen Selbstorganisation und sozialer Kontrolle
Université
University of Osnabrück  (Fachbereich Sozialwissenschaften)
Note
1,0
Auteur
Année
1999
Pages
139
N° de catalogue
V87
ISBN (ebook)
9783638100632
Taille d'un fichier
684 KB
Langue
allemand
Mots clés
Jugendverbandsarbeit, Selbstorganisation, Kontrolle
Citation du texte
Stephan Kreftsiek (Auteur), 1999, Jugendverbandsarbeit zwischen Selbstorganisation und sozialer Kontrolle, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87

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