Funktion und Bedeutung der Verweisungen auf transzendente Mächte in "Das Erdbeben in Chili"


Term Paper (Advanced seminar), 2008

36 Pages, Grade: 2,7


Excerpt


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Transzendente Anspielungen im Erzählverlauf der Novelle
2.1. Exposition des Zusammenbruchs der Welt
2.2. Die schöne Utopie des Paradieses
2.3. Die menschliche Katastrophe im Schlussteil

3. Sprachliche Stilmittel zur Hervorrufung transzendenter Vorstellungen
3.1. Sprechende Namen
3.2. Satzbau
3.3. Alliterationen
3.4. Paradoxe Symbolik

4. Spiegelungen

5. Der Zufall

6. Verbindungen zu anderen Werken Kleists

7. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als transzendent bezeichnet man etwas, dass die Grenzen der Erfahrung der sinnlich wahrnehmbaren und physikalisch erklärbaren Welt überschreitet, nicht mehr zum Diesseits zu rechnen ist. Kleists wahrscheinlich 1806 in Königsberg entstandene Novelle „Das Erdbeben in Chili“ fand ihre historische Vorlage für einen Schauplatz in dem Erdbeben, das 1647 in der Nacht vom 13. zum 14. Mai die chilenische Hauptstadt Santiago de Chile fast vollständig zerstörte.[1] Den Zeitgenossen des im preußischen Frankfurt an der Oder geborenen und aufgewachsenen Kleists kam beim Begriff „Erdbeben“ sicherlich eher das große Erdbeben von Lissabon aus dem Jahr 1755 in den Sinn, das die Menschen in ganz Europa in Schrecken versetzte und eine Theodizeediskussion unter den bedeutendsten Intellektuellen dieser Epoche entfachte.[2] Die philosophische Richtung des Optimismus, die in der Aufklärung den Ton angab, begründete zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor allem der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der (bei einem entpersonalisierten Gottesbegriff) die Theorie vertrat, die bestehende Welt sei die beste aller möglichen Welten.[3] Das Erdbeben von 1755, das in seinen Ausläufern noch in fast ganz Europa wahrnehmbar war, forderte viele Menschenleben und zerstörte die Hauptstadt des Königreichs Portugal fast vollständig. Die Ereignisse veranlassten den französischen Philosophen Voltaire an der von Leibniz begründeten Theorie zu zweifeln.[4] Voltaire wurde mit seinem 1756 erschienenen Gedicht „Poème sur la désastre de Lisbonne“ und dem 1759 veröffentlichten satirischen Roman „Candide“ zum Hauptvertreter der philosophischen Richtung der Optimismuskritik, die zwar am Gottesglauben festhielt, jedoch einen göttlichen Plan hinter dem Übel in der Welt bezweifelte.[5] Kleist scheint in der „Erdbeben“-Novelle eine eigene Antwort auf die „Theodizee-Fragestellung“ zu gewinnen zu suchen, vielleicht zumal Kant allgemein dazu angeregt hatte, das Ereignis belletristisch zu verarbeiten.[6] Heinrich von Kleist durchwebte die Novelle mit vielen metaphysischen Anspielungen, die in dieser Arbeit näher untersucht werden sollen.

2. Transzendente Anspielungen im Erzählverlauf der Novelle

2.1. Exposition des Zusammenbruchs der Welt

Kleist versetzt den Leser in eine sich extrem streng katholisch gebärdende kolonial-iberische Gesellschaft. Eine Verabredung Josephes, der weiblichen Hauptfigur der Erzählung, mit ihrem von der Familie nicht gebilligten Verehrer reicht dem Vater als Begründung, um seine Tochter in ein Karmeliter-Kloster zu stecken. Über die Gründe, weshalb der Verehrer, der ehemalige Hauslehrer der begüterten jungen Adligen, vom Vater abgelehnt wird, erfährt man explizit aus dem Text nichts, wohl lässt seine Stellung als Hauslehrer, der an späterer Stelle stehende Hinweis auf die im weit entfernten Spanien wohnende Familie seiner Mutter, sowie das völlig autoritätshörige Handeln seines Vaters im weiteren Verlauf der Geschichte darauf schließen, dass die Familie Josephes ihn als von zu niedriger Herkunft und Standes für die Aufnahme in die eigene Familie ansieht. Das junge Mädchen bleibt aber trotzt angedrohten Sanktionen beständig dem vom Vater geschmähten jungen Mann in Liebe verbunden und trifft sich weiterhin heimlich mit ihm. Der als stolz charakterisierte, aber namenlos bleibende Bruder, der hämisch den Verdacht hegt, dass die Beziehung seiner Schwester nicht beendet sein könnte, ertappt die Liebenden und denunziert sie beim Vater, der die Tochter daraufhin in das Kloster der Karmeliter, einem besonders strengen, zu abgeschiedenem Leben zwingenden Orden, bringt.

Die Liebe zwischen den beiden jungen Leuten wird so zur Sünde gebrandmarkt, für die Bestrafung erfolgt. Der christliche Schutzraum „Kloster“ wird so Josephe zum Gefängnis. Der katholische Glaube gibt hier das Deckmäntelchen für die Aufrechterhaltung einer Standesgesellschaft, also letztlich rein materieller Interessen.[7]

Ausgerechnet in die extrem dem weltlichen Leben abgewandte Lokalität des Klosters gelingt es Jeronimo durch einen als glücklich bezeichneten Zufall einzudringen, so dass er Josephe wieder sieht und „den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen Glückes“ macht (Erz. S. 189). Am Fronleichnamstag, „dem Tag des Herrn Leib“, gebiert Josephe vor aller Augen in der feierlichen Fronleichnamsprozession einen Knaben, einen männlichen Leib. Auf das Wunderbare der Geburt eines Kindes reagiert die dem katholischen Ritus ergebene Stadt hochgradig empört. Veranlasst durch den Erzbischof, wird Josephe der „geschärfteste Prozess“ gemacht und in dessen Folge wird die junge Mutter zum „Feuertod“ verurteilt (Erz. S. 191). Die Bezeichnung „geschärftester Prozess“ und „Feuertod“ wecken im Leser Assoziationen an die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit. Wird Josephe hier etwa ein Hexenprozess gemacht? Kleists Text lässt diese Frage unbeantwortet. Die Jungfrauen und Matronen der Stadt empfinden die auf Bitten der Familie und der Äbtissin gewährte Umwandlung des Todesurteils vom Feuertod zur Enthauptung noch als zu milde. Das christliche Gefühl der Nächstenliebe bringen sie für Josephe nicht auf. Wie ein teuflischer Haufen wirken die frommen Einwohner St. Jagos als sie sogar ihre Fenster vermieten, um dem „Schauspiel der göttlichen Rache“ (Erz., S. 191) beizuwohnen, des Gottes, der gemäß der Bibel seit dem Neuen Testament kein rächender Gott mehr ist, sondern ein Gott der dem bereuenden Menschen seine Sünden vergibt. Der Begriff „Schauspiel“ beinhaltet auch schon eine Vorausdeutung auf den späteren „Märtyrertod“ der Josephe. Denn sie wird wie in einem römischen „Schauspiel“ den wilden Tieren („hier mordet mich, ihr blutdürstigen Tiger!“ [Erz., S. 219]) zum Zerfleischen vorgeworfen werden.

Der in strenger Kerkerhaft gefangene Jeronimo wirft sich in letzter Not vor dem Bildnis der Heiligen Mutter Gottes nieder und betet mit unendlicher Inbrunst, da sie ihm die Einzige zu sein scheint, die jetzt noch helfen kann. Vorerst nimmt aber das Schicksal seinen Lauf: Die Glocken zur Hinrichtung der Geliebten ertönen und Jeronimo beschließt, verzweifelt am Leben, sich mit einem „Strick, den ihm der Zufall gelassen hatte“, zu erhängen (Erz. S. 191). Gerade als er den Strick befestigt hat, passiert das entscheidende Ereignis der Novelle: Das Erdbeben setzt ein und kommt wie ein göttliches Strafgericht nach alttestamentarischer Art, wie über Sodom und Gomorrah, über die Einwohner St. Jagos. Der Zufall lässt gerade den Gebäudeteil stehen, in welchem sich Jeronimo befindet, während alles um ihn herum - der größte Teil der Stadt - stirbt und mit einem Gekrache als wenn der Himmel einstürzt, in Schutt und Asche versinkt. Für den Leser ergibt sich hier also der Eindruck eines in Bezug auf die Erwartungen der Einwohner St. Jagos gespiegelten göttlichen Rachegerichts. Wie mittelalterliche Höllenvorstellungen muten die Bilder des nun brennenden St. Jagos an.

Die Erzählung ist durchwebt von Zufällen, die von den Menschen als transzendent gedeutet werden. Gerade Jeronimo ist so im religiösen Denken gefangen, dass er jeder ungeahnten Wendung in seinem Schicksal eine transzendente Bedeutung beimisst. So dankt Jeronimo Gott für seine wundersame Errettung, sobald er aus vorübergehender Bewusstlosigkeit erwacht ist und das Erdbeben wieder in seinem Inneren präsent ist, er aber noch an Amnesie bezogen auf seine und Josephes persönliche Vorgeschichte leidet. Als dieser somnambule Zustand jedoch wieder dem klaren Denken weicht, und er über die grausame Geschichte seiner Beziehung zu Josephe die Erinnerung wiedererlangt, wird ihm Gott unheimlich und „fürchterlich schien ihm das Wesen, das über den Wolken waltet“ (Erz. S. 195). Sogar sein Gebet reut ihn. Die falsche Auskunft, die Mutter seines Kindes sei doch noch hingerichtet worden und seine eigene Wahrscheinlichkeitsrechnung darüber, lassen ihn erneut völlig verzweifeln und er begreift nicht, wieso der Tod gerade ihn verschont hat, dem doch das Leben nichts mehr bedeutet. Er setzt sich unter zwei Eichenbäume und nimmt sich vor, einfach darunter sitzen zu bleiben und sich von Ihnen erschlagen zu lassen, falls die Erde noch einmal beben sollte. Nachdem er sich dort ausgeweint hat, erkeimt jedoch wieder die Hoffnung in ihm und er sucht Josephe überall. Einen ganzen Tag lang sucht er unter den Flüchtenden nach seiner Geliebten bis er bei Sonnenuntergang ein nur von wenig Menschen aufgesuchtes Tal entdeckt.

Jeronimos religiöse Vorstellungen sind durch die Geschehnisse erschüttert worden. Er hält zumindest temporär einen „schlechten Gott“ für denkbar.

Hier endet der erste Abschnitt der Novelle. Die Exposition geht hier zu Ende und es beginnt der Mittelteil, die Szenerie des Idylls.

2.2. Die schöne Utopie des Paradieses

An einer Quelle, die die Talschlucht bewässert, entdeckt Jeronimo Josephe, die ihr Kind in den Fluten reinigt. Überglücklich erkennt er die Geliebte und ruft dabei in heftigster Seeleneuphorie „O Mutter Gottes, du Heilige!“ aus (Erz., S. 197). Auch diese Äußerung Jeronimos beinhaltet eine doppeldeutige Anspielung: Bedankt er sich bei der Muttergottes für die Errettung Josephes und des Kindes oder spricht er die junge Mutter, die ihren Sohn in dieser idyllischen Umgebung badet, als Muttergottes an? Oder kommt irgendwie beides zusammen?[8] Auf jeden Fall reagiert Josephe auch auf diesen Ausruf hin! Ist es ein Zufall, hat sie etwa „nur“ die Stimme des Geliebten erkannt oder fühlt sie sich etwa angesprochen? Wie durch ein Wunder des Himmels gerettet, umarmt sich die Kleinfamilie, die wie die Heilige Familie auf der Flucht aus Ägypten pausierend in idyllischer Landschaft wirkt, ein Thema, dessen sich die Malerei, insbesondere des Barock, die Kleist aus Dresden her kannte, oft annahm (z.B. Ferdinand Bols „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ von 1644).[9] Aus dieser Paradiesszene gibt es nun erst einmal einen erzählerischen Rückgriff, der das Schicksal Josephes vom erzählerischen Wendepunkt „Erdbeben“ bis zur glücklichen Wiedervereinigung mit Jeronimo beschreibt. Josephe fühlt sich „als ob alle Engel des Himmels sie umschirmten“ (Erz., S. 199), da es ihr gelingt (nun folgt ein geschickt eingebauter Rückblick) in all dem Chaos und Sterben um sie, sich und ihren Säugling unverletzt zu retten, während das Kloster, in das sie eingesperrt wurde, verbrennt und die Äbtissin mit fast allen Nonnen des Karmels vom herabfallenden Giebel des Gebäudes erschlagen wird. Josephe flieht von den entsetzlich aussehenden Leichen.

Hier haben wir es in der visuellen Vorstellung mit einer Sequenz dämonischer Assoziationen, Höllenvorstellungen, (z. B. „und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus“; „Sie wollte der Äbtissin , welche die Hände über ihr Haupt zusammenschlug, eben in die Arme sinken, als diese, mit fast allen ihren Klosterfrauen, von einem herabfallenden Giebel des Hauses, auf eine schmähliche Art erschlagen ward. Josephe bebte bei diesem entsetzlichen Anblicke zurück; sie drückte der Äbtissin flüchtig die Augen zu, und floh, ganz von Schrecken erfüllt, den teueren Knaben, den ihr der Himmel wieder geschenkt hatte, dem Verderben zu entreißen.“ [Erz., S. 199]) zu tun, die effekthaschend in einem Gruselfilm gut platziert erscheint.

Der erste Teil des hier zuletzt aus Kleists Text zitierten Satzes erscheint wieder wie eine Anspielung auf die Muttergottes (Verkörperung des Guten) – sie hat den teueren Knaben vom Himmel wieder geschenkt bekommen -, der zweite Teil deutet auf den Widersacher, den Teufel, das Verderben (Begriff des Bösen) – es wird scheinbar versucht, dieses Kind zu vernichten. Die Orte und Personen, die auf Josephes Lebensweg hin zur Verurteilung eine Bedeutung erlangt haben, scheinen von der Hölle verschluckt worden zu sein: Der Erzbischof, der sie zum Tode verurteilte, ist von der Kathedrale erschlagen worden, der Palast des Vizekönigs ist versunken, der Gerichtshof brennt und an der Stelle ihres Elternhauses befindet sich ein rötlich dampfender, kochender See. Eine Ausnahme bildet hier die Äbtissin: Sie war Josephe recht wohl gesonnen und ist trotzdem Opfer des Erdbebens geworden.

Allerdings lässt Kleist auch hier ein Hintertürchen offen, denn die Vorsteherin des Klosters schreit zwar um Hilfe, rettet den Falken der Novelle, das Kind Philipp[10], selbst aber nicht, während der von ihrem Mutterinstinkt getriebenen Josephe die Bergung des Säuglings unbeschadet glückt.

Doch bereits hier im von Josephe erzählten Rückblick auf ihre Flucht begegnet einem die erste Anspielung auf die heidnische Mythologie des antiken griechisch-römischen Kreises, der sich durch den ganzen Textabschnitt „Idyll“ zieht. Josephe hält nämlich am nächsten Scheideweg still, anders als der Herkules der griechischen Mythologie, um auf das Erscheinen, eines, „der ihr, nach dem kleinen Philipp, der liebste auf der Welt war“, zu warten. Auf Herkules am Scheideweg warten zwei Frauengestalten, die eine symbolisiert die Lust, die andere die Tugend. Herkules entscheidet sich für den schwierigeren Weg der Tugend. Josephe erklimmt jedoch nicht den steilen Weg der Tugend (das wäre für sie die Möglichkeit zu einem Neuanfang in der Fremde), sondern steigt in ein breites Tal (der Lust) hinab, um für das Seelenheil Jeronimos zu beten. Überdies wird nach dem Rückblick die Paradieslandschaft näher beschrieben: Das von Pinien beschattete Tal, der Schimmer des Mondscheines, die flötende Nachtigall, die Talquelle, die „sanften Lager von Moos und Laub“, der „prachtvolle Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete“, der Eichenwald – Kleist beschreibt hier den klassischen locus amoenus (Erz., S. 201), in dem sich die Gestalten der griechischen Mythologie so gerne einfinden.

Josephe erscheint der Ort, „als ob es das Tal von Eden wäre“ – eine Anspielung auf den biblischen Sündenfall der Eva, deren abgeleitete Namensform „Eve“ (siehe Eve im „Zerbrochenen Krug“) auch in Josephe anklingt. Diese Anspielung auf den erotischen Sündenfall wird durch das Schleichen des Paares in ein dichteres Gebüsch, „um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben“ noch unterstrichen (Erz., S. 201), insbesondere da sie unmittelbar einen Granatapfelbaum entdecken: Nicht nur im Paradies liefert der Apfelbaum die Frucht, mit der Eva überlistet durch die Schlange, Adam zum Sündenfall verführt. Auch in der griechisch-römischen Mythologie hat der Granatapfelbaum eine zugleich erotische wie verhängnisvolle Bedeutung – einerseits ist er ein Symbol für Fruchtbarkeit, andererseits muss Persephone, die Göttin der Unterwelt, nach dem Genuss seiner Frucht in den Hades, die antike Unterwelt – oft gleichgesetzt mit der Hölle – zurückkehren. Die Nachtigall „flötet im Wipfel ihr wollüstiges Lied“: Zwar ist der Vogel Nachtigall auch ein Versatzstück zum Topos „Paradiesszene“, aber der Zusatz „wollüstig“ ist nach der Erotik-Bewertung der frühen Neuzeit auch eher eine Vorausdeutung auf die „teuflische“ Wollust (im Gegensatz zur christlichen Liebe). Die beiden Hauptfiguren Josephe und Jeronimo versteigen sich sogar zu dem Gedanken und sind gerührt darüber, „wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden!“ (Erz., S. 203). Vor dem friedlichen Einschlafen der Familie wird ein nun leicht zu realisierender Fluchtplan geschmiedet, bei dem der Hafen „La Conception“, benannt nach der unbefleckten Empfängnis Marias, zum Einschiffen nach Europa aufgesucht werden soll.

Abgesehen davon, dass vieles in der Paradiesszene in der Möglichkeitsform erzählt wird (z.B. …“von Pinien beschattetes Tal, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“…[Erz., S. 201]), was das vom Erzähler Beschriebene relativiert, denn es ist eben nicht das Tal von Eden, sondern vielleicht nur ein „teuflisches“ Trugbild, eine Gaukelei, wirkt die nun einsetzende Szenerie nach dem Erwachen am nächsten Morgen surrealistisch. Auch hier ist schon wieder eine doppeldeutige Vorausdeutung zu erkennen, denn das „Erwachen“ wird an diesem Tage wirklich folgen, in dem Sinne, dass sich Fortuna nun von den Protagonisten abwenden wird. Die mit metaphysischen Vorstellungen aufgeladene Menge der Überlebenden wird „erwachen“ aus der Atempause des Naturzustandes und das alte gesellschaftliche Korsett durch die Lynchmorde brutal wiederbeleben.

Der Glaube an das Gute, dass ihnen persönlich zu Hilfe kommt, beherrscht die beiden Protagonisten. Wendet sich das Schicksal gegen sie, fühlen sie sich von der göttlichen Macht nicht beachtet bzw. geliebt, z.B. als Jeronimo sein Gebet nach seiner Errettung, aber der scheinbaren Vernichtung Josephes gereut. Ergibt sich aus einer Verkettung von glücklichen Umständen oder aus höherer Gewalt eine bedeutsame positive Auswirkung auf die Figuren, so glauben sie sogar, der Schöpfer hätte das Elend der anderen verursacht, um ihr Glück aufrechtzuerhalten bzw. zu begründen.

Weisen sie auch äußerlich eine große Ähnlichkeit mit der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten auf[11], so ist doch der (innere) Grund ihrer Reise eher gegensätzlich: Hier geht es nicht darum, das unschuldige, in Unschuld empfangene göttliche Kind vor der Vernichtung durch die missbrauchte Macht eines Bösen zu erretten, sondern hier fliehen zwei sowohl vom Staat als auch von der Kirche und der Gesellschaft als Gesetzesbrecher Verurteilte, um ihrer Strafe zu entgehen. Sie können gewissermaßen nur wie „Diebe in der Nacht“ fliehen, bei Tage, unter dem Licht der Sonne, bleibt nichts verborgen; jetzt wird es Tag, sinnbildlich für die beiden der Tag des Jüngsten Gerichts. Dieser Tag beginnt zunächst wunderschön, lässt die Utopie von einer schönen Welt im Urzustand scheinbar wahr werden: Die nun wiedervereinte natürliche Familie wacht auf und sieht in dem Tal überall verstreut andere Familien sitzen, die sich mit dem, was sie gerade zur Hand haben, ein Frühstück zubereiten. Die Standesunterschiede scheinen bedeutungslos geworden zu sein, jeder hilft jedem und es sieht so aus, als ob alle sich in Frieden ihres durch die Turbulenzen hindurch bewahrten Lebens erfreuen. Einen Höhepunkt erreicht die scheinbare Versöhnung der in den Augen der Gesellschaft schuldig Gewordenen in dem Augenblick, in dem Don Fernando, ein wohlgeachteter Bürger, informiert über „das Vergehen“ der Familie – er ist der Sohn des Vizekönigs und mit Josephe bekannt – die (vitale) Josephe bittet, seinen (unvitalen) Sohn zu stillen, da seine (unvitale) Frau verletzt ist, und nicht stillen kann. Das seine Frau nicht gesund ist, sieht man daran, dass sie als „an den Füßen verletzt“ bezeichnet wird (Erz., S. 203); eine solche Verletzung verursacht physisch sicherlich kein Versiegen der Milch. Wahrscheinlicher dürfte es sein, dass sie ihr Kind nie selbst gestillt hat, sondern eine Amme zur Verfügung stand – wie in reichen Häusern damals üblich – infolge dessen das Kind verhungern müsste, wenn sich nicht rechtzeitig eine Amme findet. Don Fernando, bezeichnet bei seiner Bitte an Josephe, seinen eigenen Sohn als „armen Wurme“ (Erz., S. 203), eine Vorausdeutung auf seinen späteren Tod, denn „Wurm“ steht in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Auslegung, die aus der Bibel herrührt, für Tod.

[...]


[1] Vgl. Müller-Salget: Kommentar. In: Kleist: Sämtliche Erzählungen, S. 802 f.

[2] Vgl. Schmidt, S. 184

[3] Vgl. Ledanff, S. 126

[4] Vgl. Schmidt, S. 184

[5] Vgl. ebd. S.184 f.

[6] Vgl. Fischer, S. 415

[7] Vgl. Oellers, S. 87 und Schmidt, S. 188 f.

[8] Vgl. Schrader, S. 46

[9] Vgl. Marx, S. 127

[10] Vgl. Silz, S. 351

[11] Vgl. Schrader, S. 46

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Details

Title
Funktion und Bedeutung der Verweisungen auf transzendente Mächte in "Das Erdbeben in Chili"
College
University of Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Course
"Kleist: Erzählungen" vom 17. - 18. Februar 2006 in Berlin
Grade
2,7
Author
Year
2008
Pages
36
Catalog Number
V88181
ISBN (eBook)
9783638019156
File size
528 KB
Language
German
Keywords
Funktion, Bedeutung, Verweisungen, Mächte, Erdbeben, Chili, Kleist, Erzählungen, Februar, Berlin
Quote paper
Iris Lilian Funk (Author), 2008, Funktion und Bedeutung der Verweisungen auf transzendente Mächte in "Das Erdbeben in Chili", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88181

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