Die Begegnung mit dem Fremden bzw. Anderen ist ein traditioneller Bestandteil der Ethnographie. Aus diesem Grund stammt auch die epistemologische Reflexion über Fremdheitserfahrungen aus dieser Disziplin, da sich die Ethnographie als Wissenschaft die Frage stellen musste, inwiefern ihre Ergebnisse eine adäquate Darstellung der fremden Kultur abgeben. Die pessimistische Konsequenz dieser wissenschaftlichen Selbstbespiegelung in der Mitte des 20. Jahrhunderts fasst Iris Därmann in der Einleitung des Bandes über „Fremderfahrung und Repräsentation“ folgendermaßen zusammen: „Die ethnographische Darstellung einer fremden Kultur vermittelte somit mehr Aufschlüsse über die Kultur und den Standort des Ethnographen selbst als über die Eigenart der von ihm untersuchten Lebenswelt.“ Anhand dieser modernen epistemologischen Reflexion deutet sich eine grundlegende Problematik bei der Repräsentation des Fremden an: jegliche Darstellung des Fremden beinhaltet immer auch die Kategorien, Strukturen, Formen des Eigenen. Die zeitgenössische Ethnographie kann bzw. muss sich über diese Repräsentationsproblematik bewusst sein, bei einem spätmittelalterlichen Autor hingegen kann ein solches epistemologisches Reflexionsvermögen nicht vorausgesetzt werden. Der Franziskanermönch Odorico de Pordenone, der vermutlich zwischen 1314 und 1318 zu einer 12-jährigen Asienreise aufbrach und 1330 einem Schreiber seine Erlebnisse diktierte, stellt dabei keine Ausnahme dar, auch wenn seine Aufzeichnungen für die damalige Zeit einer „ethnographischen Materialerhebung“ gleichkommen. Sein Reisebericht enthält stellenweise detaillierte Schilderungen der für Europäer fremden Kulturen im fernen Osten, ohne dabei die eigene Perspektive auf jene zu reflektieren. Obwohl der Bericht des Mönchs ein Auftragswerk und daher mit missionarischen Zielen verbunden war , liegt der Schwerpunkt von Odoricos Aufzeichnungen überraschenderweise weniger auf den Bemühungen der Missionierung der „Heiden“, als auf zahlreichen ethnographischen Beschreibungen. Das Fremde und komplett Andere scheint recht mühelos in den Text integriert worden zu sein und liest sich wie eine Aneinanderreihung von scheinbar tatsächlich erlebten „wunder“-Geschichten , die zur starken Verbreitung des Textes sowie zur Kopie ganzer Segmente durch John Mandeville beitrugen.
Inhaltsverzeichnis
- Das Fremde und die Schrift
- Das Fremde, die Sprache und die Aneignung - Versuch einer theoretischen Annäherung
- Sprachliche Aneignung im Reisebericht des Odorico de Pordenone
- Das Fremde und das Verstehen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der sprachlichen Aneignung des Fremden im Reisebericht des Odorico de Pordenone, einem spätmittelalterlichen Text, der detaillierte Schilderungen von Kulturen im fernen Osten bietet. Die Arbeit untersucht die Repräsentationsproblematik des Fremden im Kontext des Reiseberichts und analysiert die Prozesse der Aneignung und Integration des Fremden durch Sprache.
- Die epistemologische Reflexion über Fremdheitserfahrungen in der Ethnographie
- Die Repräsentationsproblematik des Fremden: Die Kategorien des Eigenen
- Die Rolle des Aufschreibens bei der Aneignung des Fremden
- Die Widerspenstigkeit des Fremden gegenüber sprachlicher Benennung
- Die Integration des Fremden durch Sprache als Prozess der Assimilation
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet die Begegnung mit dem Fremden im Kontext der Ethnographie und die damit verbundenen epistemologischen Fragen. Es wird die Problematik der Darstellung von Fremdheitserfahrungen aufgezeigt und der Reisebericht des Odorico de Pordenone als Beispiel für eine spätmittelalterliche ethnographische Materialerhebung vorgestellt.
Das zweite Kapitel widmet sich einer theoretischen Auseinandersetzung mit der sprachlichen Aneignung des Fremden. Es wird die Relationalität des Fremdheitsbegriffs und die Aporie einer sprachlichen Benennung des Fremden diskutiert.
Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die sprachliche Aneignung des Fremden im Reisebericht des Odorico de Pordenone. Der Text wird analysiert, um die Merkmale zu identifizieren, die auf eine Integration des Fremden ins Eigene hinweisen.
Schlüsselwörter
Fremdheit, Repräsentation, Ethnographie, Reisebericht, Odorico de Pordenone, Sprache, Aneignung, Integration, Fremdzuschreibung, Text, Kultur, Orient, Mittelalter, Asienreise
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- Frank Dersch (Author), 2008, Die Aneignung des Fremden durch Sprache im Reisebericht des Odorico de Pordenone, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88386