Über das Essayistische in Bill Violas 'Hatsu-Yume'


Seminararbeit, 2004

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Analyse von HATSU-YUME (First Dream)
2.1. Inhalt und Handlung
2.2. Kameraposition, -einstellung, -bewegung
2.3. Bildgeschwindigkeit
2.4. Licht
2.5. Ton
2.6. Montage

3. Merkmale eines Essayfilms
3.1. Der subjektive Blick
3.2. Selbstreflexivität und die Selbstreferentialität
3.3. Intertextualität und Intermedialität

4. Schlusswort

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit hat sich zur Aufgabe gestellt, das Essayistische in den Arbeiten Bill Violas zu untersuchen. Zu Beginn soll mittels einer Analyse des Videos HATSU-YUME ( First Dream ) aus dem Jahre 1981 die formalen Mittel dieses Werkes herausgearbeitet werden, um sodann anhand der von Christina Scherer bestimmten Merkmale eines Essayfilmes zu prüfen, welche ihrer erarbeiteten Punkte auch bei Violas Werken eine Rolle spielen sowie auf eventuelle Unterschiede verweisen. Dabei werden folgende wesentliche Kennzeichen eines Essayfilms diskutiert werden: die Thematisierung und Inszenierung von subjektiver Sicht, die Selbstreferentialität und -reflexivität, sowie die Mittel der Intertextualität und Intermedialität und ihre Wirkungen auf den Rezipienten und den Film. Es werden nicht alle der angeführten Kennzeichen des Essayfilms in nur dem einen Werk Violas zu finden sein, daher wird an gegebener Stelle auch auf andere seiner Videoarbeiten Bezug genommen werden.1

Als zusätzliche theoretische Basis zum Essay wird mir für diese Hausarbeit der Text von Theodor W. Adorno "Der Essay als Form"2 dienen, denn der Begriff Essayfilm entstand aus einer Transformation des Wortes aus der Literatur auf den Film, wobei, trotz genreunterschiedlichen Dominanzen der vermittelnden Medien, von einer Übereinstimmung spezifischer Merkmale des literarischen und des filmischen Essays ausgegangen wird.3

Die im filmwissenschaftlichem Diskurs diskutierte Problematik der Gattungsdefinitionen des Genres Essayfilm wird in dieser Arbeit größtenteils unbeachtet gelassen. Nur zu gegebenen Anlässen wird in Form von Randbemerkungen auf bestimmte Diskurse aufmerksam gemacht. Am Ende der Erörterung dieser Kriterien wird noch auf die besondere Stellung Violas als eben kein Filmemacher, sondern Künstler und sein bevorzugtes Medium das Video einzugehen sein.

2. Analyse von HATSU-YUME ( First Dream )

2.1. Inhalt und Handlung

Das Geschehen in HATSU-YUME kann zur Übersicht grob in fünf Themenkomplexe unterteilt werden. Das Video beginnt mit Bildern aus der Natur, dem folgt ein thematischer Bruch zu Bildern eines Hafen- und Schiffbetriebes, darauf schließt ein Einschub von mehreren Einstellungen schwimmender Kerzen an. Danach, um den zweiten inhaltlichen Bruch zwischen den Themenkomplexen zu vollziehen, sieht man Bilder einer asiatischen Großstadt (Tokio). Am Ende des Videos kehren die Bilder zum Anfangsthema der Natur zurück, indem lebende Fische und ein Mensch im nächtlichen Wald gezeigt werden. Der bildliche Inhalt von HATSU-YUME bewegt sich demzufolge zwischen den Polen Natur, Industrie und Grosstadt und den damit verbundenen Assoziationen, wobei keines der Themen die anderen überwiegt.4 Diese von mir benannten Themenkomplexe werden sporadisch von kurzen Einschüben aus anderen Themenbereichen unterbrochen. So werden beispielsweise im ersten Bilderkomplex für einen Moment Bilder einer am Wasser liegenden Stadt zwischenmontiert oder im Grosstadtkomplex kurz das Bild eines in den nächtlichen Wald gehenden Mannes. Dadurch verbinden sich die sonst klar voneinander getrennten Bereiche und geben einen kurzen Vorausblick auf Bevorstehendes. Innerhalb der einzelnen Motive werden mehrere, meist zwei, Unterthematiken miteinander verhandelt. So mischen sich in den ersten Komplex der Naturbilder Darstellungen von Menschen in der Natur. Anfangs wird die Landschaft noch allein und rein gezeigt, aber später drängen sie sich in ihre Einsamkeit, mal spazierend, arbeitend oder betend, aber immer in Harmonie mit ihrer Umgebung und im Hintergrund der Szenerie. Das dominierende Motiv des ersten Themenkomplexes bleibt aber die Natur.

Im zweiten Teil bilden die Arbeit der Fischer auf den Schiffen und die gezeigten toten Fische die beiden thematischen Pole. Was die Anzahl der Bilder betrifft besteht zwischen ihnen eine ungefähre Ausgeglichenheit, in der emotionalen Wirkung aber dominieren die Bilder der toten und sterbenden Fische und lassen die schwere Arbeit der Fischer in den Hintergrund treten.

Der Bilderkomplex zwischen Hafen- und Grosstadt, die schwimmenden Kerzen, ist ohne Einschübe gestaltet.

Im Großstadtkomplex verschwinden die Menschen und der Verkehr der Stadt hinter Licht- und Wasserreflexionen. Sie werden zu Statisten in ihrer eigenen Umgebung. Die Dominanz der Bilder liegt hier eindeutig bei den Licht- und Wasserexperimenten. Die Rückkehr zum Anfangsmotiv der Natur wird im langsamen Übergang von Wasserspiegelungen an einer Autoscheibe zu Wasserspiegelungen eines Fischteiches vollzogen. Darauf erfolgt nochmals ein kurzes Intermezzo der Stadtszenerie. Ein Mann holt sich Nachschub am Zigarettenautomaten, dabei wird das Anzünden der ersten Zigarette zu einem Tanz des Feuers inszeniert. Der letzte Komplex zeigt in zwei Einstellungen wie eine Lichtquelle sich den Weg durch den nächtlichen Wald bahnt. Zuerst weist das Licht dem Zuschauer den Weg und später schaut er dem Licht von weiten zu, wie es aus dem Bild verschwindet.

In HATSU-YUME wird keine Geschichte erzählt, in dem Sinne nicht, dass es weder wiederkehrende Protagonisten, noch die Entwicklung eines kausalen Geschehens gibt. Es handelt sich bei den gezeigten Bildern eher um Beobachtungen von Menschen und Landschaften, die gewiss auch auf einer anderen Eben ihre Geschichten vermitteln. Dies erreicht, dass der Zuschauer sich selbst eine Geschichte aus den vorhandenen Bildmaterial konstruieren muss, was ganz im Sinne des Autors steht:

"I´m interested in perceiving people from an outside point of view. Being unemcumbered by a plot, you´re allowed to have your own individualized relationship with them. The emotions they´re going through become yours as well."5

Aber dennoch sind die Bilder nicht beliebig zusammengesetzt, sondern folgen einer bedeutsamen Absicht des Autors, die in ihrer Ganzheit eine Vielzahl an unabschließbaren Deutungen eröffnen, ein weiteres Merkmal des Essays.6

2.2. Kameraposition, Kameraeinstellung, Kamerabewegung

Die Position der Kamera verhält sich in fast allen Einstellungen "neutral" zu ihrem Gegenstand. Mit neutral ist vor allem gemeint, dass Viola sich beim Filmen auf die Höhe seiner Gegenstände begibt und nicht die Kamera die Position des Menschen einnehmen lässt. So ist denn auch die frontale Stellung zum Objekt die am häufigsten benutzte.7 Die Stein-Szene kann dabei als Beispiel dienen. Dort wird ein erst immens erscheinender Stein frontal, sprich die Kamera befindet sich ungefähr in der Mitte seiner Höhe, aufgezeichnet. Erst das spätere Dazukommen von Personen setzt ihn in ein Verhältnis zum Menschen.

Die Kameraeinstellungen zeichnen sich da schon durch mehr Vielfalt aus. Sie gehen von Nahaufnahmen bis hin zu extremen long shots. Viola setzt in HATSU-YUME diverse Zooms ein, ansonsten bleibt der Bildausschnitt innerhalb einer Einstellung meist gleich. Abgesehen von einem, handelt es sich bei allen Zooms in HATSU-YUME um einen Wechsel der Einstellungsgröße von einer Nahaufnahme zum long shot. Die Kamera ist dem Objekt am Beginn nahe, um es erst danach in seiner Umgebung abzubilden.8 Eine Ausnahme zu dieser Feststellung bilden die Anfangsbilder der Großstadtsequenz, denn hier wechselt Viola die Kameraeinstellungen ständig, was, gekoppelt mit einer schnellen und richtungswechselnden Kamerabewegung für Unkenntlichkeiten beim Rezipienten sorgt.

Es gibt in HATSU-YUME mehrere ausgedehnte Drehungen der Kamera um ihre eigene Achse, in denen sich die Kameraeinstellung weder in der Größe, noch in ihrer Position verändert. Viola setzt diese Bewegung der Kamera in HATSU-YUME nur bei Landschaftsaufnahmen ein, welche alle drei kurz aufeinander folgen. Dabei zeigt die erste Einstellung einen in Nebel getauchten Wald, die zweite eine Ackerlandschaft mit einer Bergkette im Hintergrund und die dritte Einstellung präsentiert einen Wald von Bambusbäumen. Der ersten Waldaufnahme per Drehung um die eigene Achse sind mehrere, durch Schnitte getrennte Standbilder9 des selben Waldes vorgeschaltet. Die darauf folgende Feldlandschaft beginnt mit der bewegten Einstellung und erst anschließend werden die Standbilder derselben Landschaft montiert. Die Montage der letzten Landschaftsaufnahme erfolgt dann wieder wie bei der ersten, erst die Standbilder, dann die Kameradrehung. Alle drei Bildkomplexe haben verschiedene Kameraeinstellung. Der Wald wurde halbnah, die Bambusstämme nah und die Feldlandschaft aus der Ferne aufgenommen. Die Standbilder geben die Wirklichkeit nur ausschnitthaft wieder, sie verweigern den sie umgebenen Raum zu offenbaren, er bleibt der Phantasie des Rezipienten überlassen, wohingegen die Drehung der Kamera um ihre eigene Achse (hier: um 360°) gerade diesen Raum thematisiert, das immer Mehr an Raum, was die Ausschnitte eines Kamerablickes ja immer nur zu suggerieren vermögen. Aber selbst bei totaler Raumdarstellung in der Horizontalen bleibt der Raum in der Vertikalen begrenzt. Viola zeigt hiermit, dass der Blick durch die Kamera immer ein unvollständiger ist, ein entweder durch die Einstellungsgröße oder die Bewegung der Kamera limitierter Ausschnitt eines Größeren.

2.3. Bildgeschwindigkeit

Das Video HATSU-YUME beginnt mit der Illustration des Ablaufs eines Tages, verbildlicht im Auf- und Untergang der Sonne. Diese Szene dauert ca. fünfzehn Sekunden. Darauf folgen Bilder eines tosenden Meeres, bis zum Extrem verlangsamt, so dass sie wie Fotografien erscheinen. Von Bild zu Bild steigert sich parallel zur Lautstärke die Geschwindigkeit der Bilder bis sich wenig später die Wellen in gewohnter Weise vor unseren Augen brechen. Dieses, in den ersten beiden Sequenzen eingeführte Spiel mit der Bildgeschwindigkeit wird dann auch im Verlauf des Videos zum dominanten Stilmittel Violas. Der Großteil der Bilder in HATSU-YUME wird in Zeitlupe wiedergegeben.10 Viola erzielt durch diese Dehnung des Augenblicks eine Intensivierung des Zeiterlebens beim Rezipienten. Bilder in einer geringeren Geschwindigkeit wiedergegeben als aufgenommen, gekoppelt mit Bewegungen der Kamera haben die Eigenschaft die Konturen der aufgezeichneten Objekte zu verwischen. Besonders bei Lichtquellen oder sonstigen leuchtenden Materialien führt dies zur Bildung von Lichtlinien. Der Effekt steigert sich, wenn sich das gefilmte Objekt ebenfalls bewegt. Diese Wirkung gebraucht Viola in HATSU-YUME eingehend. So sind zum Beispiel alle Aufnahmen auf den Fischerschiffen in Zeitlupe, ebenso sämtliche Bilder der Großstadtszenerie.

2.4. Licht

HATSU-YUME, wie eben schon beschrieben, besteht größtenteils aus verlangsamten Bildern gekoppelt mit dem (von mir so genannten) Lichtlinieneffekt, denn zugleich handelt es sich bei den Bildern um nächtlich aufgenommene, was Lichtquellen impliziert. Die so erzeugten Lichtlinien können im Bild Tiefe erzeugen oder sogar wie Sogströme optisch ins Bild hineinziehen. Sie machen außerdem die Bewegung der Lichtquelle sichtbar, denn es scheint, als hinterließen sie Spuren auf ihrem Weg. Viola schafft auf diese Weise eine Atmosphäre des Trancezustands in HATSU-YUME. Das Video behandelt das Licht wie Wasser, es wird im Videokanal zu einer Art Flüssigkeit. Fast ebenso häufig werden in HATSU-YUME Spiegelungen von Lichtquellen auf reflektierenden Materialien gezeigt. Da spiegelt sich das Licht auf dem Wasser oder auf der Motorhaube, oder Sonnenstrahlen brechen sich an der Linse der Kamera. Reflexionen bedingen Flächen, an denen Strahlen zurückgeworfen werden können, Flächen, die undurchlässig für sie sind. Nutzt Viola in HATSU-YUME diese Lichteigenschaften, erreicht er, dass die Objekte in ihrer materiellen Undurchdringlichkeit erfahrbar werden und löst sie zugleich auf. Aber auch das Licht selbst wird erst durch eine Reflexion an einem Gegenstand erkennbar. Demnach dienen die immateriellen Spiegelungen in HATSU-YUME ebenso der Sichtbarmachung von Strahlen in der Umgebung wie der der eben beschriebenen Materialität der Oberflächen und verdeutlichen aber auch gleichzeitig ihre beständige Transformation.

2.5. Ton

In HATSU-YUME wird nicht gesprochen, es gibt keinen Kommentar aus dem Off und auch die gezeigten Menschen sprechen nicht zur Kamera. Der bildlichen Ebene werden auf akustischer Geräusche der Umgebung zugegeben. Wenn die Bilder in ihrer Geschwindigkeit manipuliert wurden, dann auch die Tonspur. Die verlangsamten Geräusche erzeugen manchmal derartige Geräusche wie das in HATSU-YUME oft wahrgenommene Brummen und bewirken dadurch eine fast unheimliche Atmosphäre.

Es fällt während des Sehens von HATSU-YUME ferner auf, dass Viola Wechsel von Bildern nicht durch einen gleichbleibenden Ton auszugleichen versucht, sondern er montiert sogar konträr eine lautstarke Geräuschkulisse direkt an Stille. Was beim ersten Sehen dilettantisch erscheint, macht dem Zuschauer beim erneuten Sehen die Montage im Video bewusst.

[...]


1 Als Videomaterial sind mir folgende Arbeiten von Viola zugänglich: I DO NOT KNOW WHAT IT IS I AM LIKE. 1986. THE PASSING. 1991. THE REFLECTING POOL. 1977-79. ANCIENT OF DAYS. 1979-81. CHOTT ELDJERID (A PORTRAIT IN LIGHT AND HEAT). 1979.

2 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ebd.: Noten zur Literatur. 1981, S.9-33.

3 Christina Scherer: Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm. 2001, S.21.

4 "Er ( Der Essay ) koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren." Adorno, S.31.

5 Ellen Wolff: Digital Cathedral. www.billviola.com 31.10.2004.

6 Scherer, S.379 und Adorno S.20.

7 Nur in wenigen Einstellungen wurde aus dem beobachtenden Standpunkt heraus, von oben, aufgezeichnet.

8 Dabei ist es natürlich wichtig jeweils die vorhergehende Einstellung zu beachten, denn das Objekt kann dort schon mit seiner Umgebung eingeführt worden sein, was aber in HATSU-YUME nur in einer Einstellung der Fall ist.

9 Standbild meint hier kein eingeblendetes Foto, sondern eine Einstellung ohne Kamerabewegung.

10 Es gibt nur noch eine weitere Sequenz, in der die Bilder beschleunigt werden. Die Szene des "großen Steines" beginnt mit beschleunigter Bildgeschwindigkeit und endet mit verlangsamter. Viola dazu: "In HATSU-YUME: the boulder with piled-up stones. It appears immense, perhaps 10 feet high. Clouds scud across the sky above it. People struggle against the storm. They stride past the boulder on their way to the top - small figures by comparison. Only later, seeing it beside a little, do we realize that it is perhaps no more than two feet high." Bill Viola: Reasons for Knocking at an Empty House. Writings 1973 - 1994. 2002. S.20.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Über das Essayistische in Bill Violas 'Hatsu-Yume'
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Filmwissenschaft )
Veranstaltung
Essayfilm
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V88670
ISBN (eBook)
9783638031073
ISBN (Buch)
9783638929431
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Essayistische, Bill, Violas, Hatsu-Yume, Essayfilm
Arbeit zitieren
Andrea Wildt (Autor:in), 2004, Über das Essayistische in Bill Violas 'Hatsu-Yume', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88670

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